Norchas Mühlenkinder (Kapitel 68 und 69)   196

Spannendes · Romane/Serien

Von:    Shannon O'Hara      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 30. Dezember 2012
Bei Webstories eingestellt: 30. Dezember 2012
Anzahl gesehen: 2107
Seiten: 11

- LXVIII -

Der Eissturm hatte sich den ganzen Tag gegen sie gestemmt, als wollte er verhindern, dass die Fremden die zu schützende Abschirmung der Tempelanlage zu Xabêr erreichten. Selten nur hatte Calla den Kopf gehoben, versucht, sich in dem diffusen Dämmerlicht eine Orientierung zu schenken. Zu schmerzhaft trafen die scharfen Eiskristalle auf die ungeschützten Hautregionen ihres Gesichtes, rissen kleine Wunden, die in der eisigen Luft nicht bluten konnten. Die meiste Zeit stapfte sie mit gesenktem Haupt hinter Baldur oder Andras her, die sich an der Spitze des kleinen Trosses abwechselten. Uwlad übernahm stets die Rolle des Schließenden.

Sie wusste nicht zu sagen, ob einer der Männer die Spitze des Gipfels erspähen konnte, die ihnen als Richtungsweiser dienen sollte, verspürte auch in den schweigenden Momenten der häufigen Rasten nicht das Bedürfnis, nachzufragen.

Ihre Haut brannte unter den Berührungen des eisigen Windes. Seine Schärfe trocknete ihre Lippen, ihren Mund aus, zerschnitt ihr beinahe die Lungen und ließ jeden Atemzug zu einer Qual werden. Sie spürte ihre Beine nur mehr als steife, schmerzende Glieder, die ihrem Willen nicht mehr gehorchten, da sie keinen mehr aufbringen konnte; die nur mehr dem stumpfen Trott folgten, zu tun, was sie den ganzen Tag bereits taten: Fuß aufsetzen, Gewicht verlagern, Fuß lösen, anheben, vorsetzen, aufsetzen …

Irgendwann hatte sie ihren Gedanken Flügeln gegeben. Fortan besuchte sie all jene Momente ihrer Erinnerung, die sie erheiterten, die ihr Sicherheit und Wohlgefallen beschert hatten. Zwischenzeitlich erklang gar ein heiteres Lachen, perlte ein erfreutes Glucksen über ihre aufgesprungen Lippen, das allerdings vom Wind mitgerissen wurde, bevor einer der Männer ihre Gemütsverfassung erahnen konnte. Wieder ließ Calla den Blick an Andras Rücken vorbei gleiten. Sah sie recht? Schälte sich dort gerade eine Hütte aus dem unscharfen Licht des Sturmes?

Dankbarkeit dehnte sich warm in ihrem Inneren aus. Eine Hütte, die Verheißung von Schutz und Wärme!

Verwundert bemerkte sie, dass Andras sich von der Hütte abwandte, sich weiter entlang einer Felswand auf der rechten Seite gegen den Sturm bewegte. Aufbegehren verdrängte die Dankbarkeit.

Nein, es durfte nicht sein, dass sie weitergehen mussten, obschon hier Obdach dargereicht wurde!

„Andras, nein!“

Der Wind riss ihr den Ruf von den Lippen wie er bisher mit allen Worten und Lauten umgegangen war.
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Rücksichtslos, mächtig. Der eisige Wind des Reldoc behauptete sich in seinem Revier. Mit einer strauchelnden Bewegung eilte sie auf Andras zu, schlug ihn ihre flache Hand auf den Rücken. Gleichzeitig wies sie mit ihrem ausgestreckten Arm auf die Hütte, aus der ihr bereits ein warmer Lichtschein durch kleine Fenster wie eine Einladung entgegen schien. Sie vermeinte gar, aufsteigenden Rauch aus einem Schornstein und den Geruch eines Torffeuers zu erkennen.

'Feuer, Wärme, ausruhen!'

Ohne abzuwarten, ob Andras ihren Wink verstand, änderte sie ihre Richtung. Dann sollte sie wohl die Erste sein, die an der Holztür anklopfte. Sicherlich sollte es ihr gestattet werden, dass sie aus den Resten des mitgebrachten Proviants eine heiße Suppe für sie alle herrichten konnte.

'Gern gebe ich dem Herrn der Hütte eine Schale.'

Plötzlich vernahm sie aus ihrem Rücken einen schrillen Aufschrei, spürte einen harten Schlag gegen ihre linke Schulter, der sie aus dem Trott warf. Hart schlug sie auf dem felsigen Grund auf. Sie wollte heftig aufbegehren, ihrer Verwunderung Raum und Laut geben, als sich bereits Uwlad mit einem besorgten Gesichtsausdruck über sie beugte.

„Verzeih mir, dass ich dich geschlagen habe, aber du bist vom Weg abgekommen.“

Sie ergriff seine gereichte Hand obschon sich in ihrem Inneren Unverständnis und Wut ausdehnten, die seine Geste übersehen wollten. Tränen brannten plötzlich in ihren Augen, wollten Bahn sich brechen.

„Natürlich bin ich vom Weg abgekommen. Ihr habt die Hütte ja nicht gesehen, obschon ich Andras aufmerksam gemacht habe.“

„Welche Hütte?“

Die sanften Worte Andras’ erreichten ihr Gehör, doch die Frage brannte in ihrem Inneren gleich einer Ohrfeige. Heftig fuhr sie herum, wies mit lang gestrecktem Arm in jene Richtung, die sie eingeschlagen hatte, tat auch jetzt wieder einen Schritt auf die warme Verheißung zu. Schmerzhaft spürte sie zwei Hände, die sich in die Schulterstücke des Reitmantels krallten, ohne auf ihren Leib darunter zu achten. So heftig, wie sie sich zuvor umgewandt hatte, fühlte sie sich zurückgerissen.
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Erst jetzt erkannte sie, wovor die Männer sie bewahren wollten: Hätte der Gardist sie vorhin nicht zurück gerissen, wäre sie in eine schier bodenlose Schlucht gestürzt.



Erschöpft schlug er die Augen auf, benötigte einen Moment, klar seine Umgebung erkennen zu können. Der grau verhangene Himmel passte zu dem pfeifenden Wind, der bereits seit einiger Zeit an seiner Kleidung und seinem Haar riss, der ihm wie Pfeilspitzen kleine Eiskristalle auf die ungeschützte Haut schoss, der ihm höhnend Tod und Verderben ins Ohr flüsterte. Hier auf der Felsnase konnte er unmöglich liegen bleiben. Eine Nacht in dieser ungeschützten Lage, bei diesem sich zusammen ziehenden Eissturm und er würde erfrieren.

Stöhnend richtete Doggâr sich langsam auf, stützte sich auf einem Ellbogen ab, als Schwindel ihn erfasste und zurück ins Liegen zwingen wollte. Sich auf sich zu besinnen, schloss er erneut die Lider, atmete ruhig ein und aus, beobachtete mit seinem inneren Auge die Übelkeit, die aufsteigen wollte, sich aber unter seinen Bemühungen zurück zog. Langsam richtete er sich weiter auf, wiederholte die vor Jahren gelernte Methode als er ins Sitzen kam, als er sich aufrichtete und gegen den Fels lehnte, den schwindelnden Kopf gegen die kalte und kühlende Felswand legte, als er sich weiter aufrichtete, das Haupt in den Nacken legte und die Entfernung zur Felskante abschätzte.

Zwei Manneslängen.

Unter gewöhnlichen Bedingungen eine nicht ernst zu nehmende Herausforderung. Unter den jetzigen ein lebensbedrohlicher Umstand! Das Aufrichten allein hatte bereits bewirkt, dass die beiden Stichverletzungen wieder leicht zu bluten begannen. Warm sickerte das Blut aus den klaffenden Wunden, wand sich in dünnen Fäden über seinen Leib, löste ein wenig den unter dem frostigen Wind erstarrten Stofffetzen seines Hemdes, der die erste Blutung getrunken hatte.

Sein Blick glitt erneut in den grauen Himmel. Er durfte nicht länger zögern, wollte er noch bei Tageslicht die Felskante erreichen.

Sich nah an die Felswand drückend, hob er einen Fuß, suchte mit der Sohle nach einem Vorsprung im Stein, auf den er sich stellen konnte. Einen solchen gefunden, glitt sein Blick in Augenhöhe über den glatten Fels, Aussparungen für die Finger zu finden, an denen er sich hochziehen konnte.
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Mit der ersten Bewegung schrie sein Körper schmerzgepeinigt auf. Im Erschrecken, das ein schweres Aufstöhnen über seine Lippen sandte und das der eisige Wind ihm gleich raubte, hätte er beinahe den Halt verloren. Wieder schloss er die Lider, atmete einige Male tief durch, drängte Schmerz und Angst in tiefe Schächte seines Selbst.

Mit geschlossenen Augen tastete er suchend die Felswand nach einem weiteren Halt ab, verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und suchte erneut eine Möglichkeit, sich weiter in die Höhe zu schieben. Nur langsam und unter Anrufung aller Lehren seiner Priesterausbildung gelang es ihm, sich Stückchen für Stückchen der Felskante zu nähern. Endlich erreichten seine tastenden Finger jenen herbeigesehnten Grat. Mühsam und am Ende seiner Kräfte zog er sich weiter auf den ebenen Teil, auf dem am Morgen im Schatten der Felsen der Kampf stattgefunden hatte. Plötzlich dehnte sich wohltuende Wärme in seinem Inneren aus. Dankbar tauchte er hinein, wohl behütet wie in die Arme einer sorgenden Mutter.



Nicht nur die irrleitenden Vorstellungen Callas nötigten Andras, nach einer geschützten Nachtunterkunft zu schauen. Auch ihn selber hatte die heutige Etappe der Reise weit mehr angestrengt als alle anderen zuvor. Er durfte seine Gedanken nicht zum frühen Morgen zurück gleiten lassen, ohne im blanken Entsetzen zu erstarren. Wie nah hatte die Frau, der er sein Herz geschenkt hatte, am Grat des Todes gestanden!

Wieder überlief ihn ein eisiger Schauer, der dem Sturm in nichts nachstand. Die entsetzten Gesichter der Freunde hatten ihm vorhin erst deutlich gemacht, wie sehr das Ziel ihrer Reise als auch ihr eigenes Leben oft genug auf Messers Schneide stand. Sie benötigten alle dringendst eine längere Rast. Zudem verspürte er das Bedürfnis mit seinem Vater in Austausch zu treten, zu erfahren, wie es den anderen ergangen war. Auch sehnte er eine Meldung Melâns herbei.

Nur mehr eine kurze Zeit währte seine Suche, doch schien sie ihm viel länger, bis er an einer Felswand eine geschützte Nische entdeckte. Hier tobte der Eissturm zwar ebenfalls mit seinem lauten Wehklagen, doch bildeten drei Felsen einen schützenden Keil, leiteten den bissigen Sturm entlang einer Ausbuchtung, die sich ausreichend groß darstellte, die vier Wanderer aufzunehmen.
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Erschöpft stolperten die vier in die schützende Umarmung der Felsen. Die plötzliche Windstille schrie laut auf in Andras Ohren, ließ seine frierende Haut wie unter einer wärmenden Sonne zur Ruhe kommen. Seine schmerzenden Glieder schrien auf als ihnen mit einem Mal Anspannung und Auftrag fehlten. Die ersten Atemzüge ohne den räuberischen Wind, der ihnen die Luft von den Lippen klaubte, genoss jeder für sich in Stille. Erst als Baldur sich regte, Steine zu einem Ring auslegte, ein Feuer darin zu entfachen, richteten sich auch die anderen auf, lehnten sich an den kalten Fels und schauten sich im Rund um.

„Der Höchste stehe uns bei, aber schlimmer kann es kaum mehr werden.“

Uwlads Worte trugen Andras Gedanken. Bereits am Morgen, als sie sich bekannter machten als der unschöne Moment seiner Arrestierung nach dem Sonnenfest es erlaubt hätte, hatte Andras in Uwlad einen Gesinnungsgenossen erkannt. Ein wenig zürnte er dem Gardisten zwar, dass er ihm mit dem Angriff auf Doggâr und dessen Tötung seiner eigenen Rache beraubt hatte, aber ihm stand auch nicht unbedingt der Sinn danach, einen Menschen töten zu müssen. Nein, jetzt stand ihm der Sinn danach, sich mit Phroner und Melân zu verständigen.

Wie sollte es der Gruppe um Radh ergangen sein? Wie mochte sich der Zustand seiner Schwester entwickelt haben? Wie sahen die Pläne der anderen aus?

Während das Feuer seine ersten wärmenden Wellen aussandte, schloss Andras die Augen, sammelte seinen Geist und rief zuerst nach seinem Vater. In Gedanken ging er den Weg zurück, den sie bisher gestiegen waren. Zurück nach Kredân, zurück zu der Höhle mit den Dornenranken, zurück zur Felsnase, unter der sie eine beschützte Nacht hatten, zurück bis zur Hütte der Dwelg auf dem grünen Plateau. Er ahnte den Weg des Vaters, in Richtung Westen, langsam das Reldocgebirge verlassend, die Schlucht mit der geheimen Brücke erreichend, diese des Nachts genommen und sich in der Provinz Sêma auf die Mühlenanlage von Seicôr zubewegend.

Doch so sehr die geistigen Finger des Auxell auch suchten, so sehr seine Anfrage nach Sêma drang, er erhielt keine Antwort. Enttäuscht öffnete er die Augen, schaute in die erwartungsvollen Gesichter der anderen und schüttelte langsam den Kopf.
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„Vater wird mit den anderen zu weit entfernt sein. Ich werde nach Melân suchen, vielleicht weiß sie etwas.“

Dankbar nahm er die Wärme von Callas Hand wahr, die sie auf seinen Oberschenkel gelegt hatte. Dankbar weniger ob ihrer liebevollen Geste als vielmehr aufgrund der Gewissheit, dass die junge Frau wieder bei Verstand war.



- LXIX -

Nagende Schmerzen in seinen Gliedern, beißende an den klaffenden Klingenwunden und stechende überall dort, wo spitze Eiskristalle seine ungeschützte Haut erreichten, schleuderten Doggâr aus der warmen Umarmung der Ohnmacht. Schleuderten ihn in lichte Höhen und ließen ihn unaufhaltsam auf den Pfad nahe der Absturzkante aufschlagen. Stöhnend richtete er sich etwas auf, stützte sich auf einen Ellbogen, drückte die freie Hand auf seine Leibmitte, als suchte er, den Schmerzen Einhalt zu gebieten. Langsam hob er die Lider.

Er musste für längere Zeit das Bewusstsein verloren haben. Die Sonne war bereits im Untergehen begriffen. Wollte er Kredân noch vor der Finsternis erreichen, musste er sich auf den Weg begeben. Mühsam richtete er sich auf. Seine Beine bebten innerlich in der Anstrengung, den muskulösen Leib zu tragen. Die Schmerzen in seinem Bauch ließen nicht zu, dass er sich gerade aufrichtete. Vorgebeugt, eine Hand weiter wie schützend gegen den Leib gedrückt, sah er sich zumindest in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

So stemmte er sich, mit der rechten Hand entlang des Felsens zusätzlichen Halt suchend, gegen den eisigen Sturm. Der raue Wind fing sich in seinem Uniformmantel, ließ die Rockschöße wild flattern, fing sich in seinem langen Haar, ließ die gefrorenen Strähnen wie Peitschenschnüre auf seine Wangen treffen. Immer wieder glitt die feste Stiefelsohle über den vereisten Felsgrund. Immer wieder musste er sich mit einer schnellen Reaktion abfangen, die die leicht schlummernden Schmerzen in seinem Bauch auf ein Neues weckten. Immer wieder ahnte er sich über den Felsgrat gleiten und in eine Schlucht stürzen.

Als er nach einer endlos scheinenden Wanderung durch das wilde Wüten des Sturmes einen fernen Lichtschimmer wahrnahm, fesselte er seinen Blick an diesen kleinen Funken der Hoffnung.
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Dies musste eine der Hütten Kredâns sein. Dies musste seine Heimatsiedlung sein!

Als hätte das kleine Licht sich in seinen Leib verirrt, vermeinte er mit einem Mal, sicherer gehen zu können, fester auftreten und sicherere Schritte setzen zu können. Sogar die Schmerzen schienen sich etwas verzogen zu haben. Eine warme Leichtigkeit dehnte sich in seinem Inneren aus, ließ seine eigene Lebensflamme erfreut aufflackern und ein unpassend anmutendes Kichern über seine ausgetrockneten Lippen kollern.

'Noch wenige Schritte!'



Der felsige Untergrund stellte für Melân bei weitem nicht die Annehmlichkeit dar, die sie sich gewünscht hätte. Unruhig wandte sie sich während der längeren Rast von einer Seite auf die andere. Immer drückte entweder hier ein gelöster Stein oder da eine stärkere Bruchkante in ihren Leib, ließ sie keine Ruhe finden.

Nachdem Tania die Fackel gelöscht hatte, hatte sich tatsächlich schwärzeste Nacht um die beiden Frauen gelegt. Anfangs gelang es dieser Schwärze, die Wellen der Ablehnung in Melân zu besänftigen. Sah sie die Felswände nicht, fühlte sie sich weniger durch deren Stärke und Druck belastet. Doch schon wenige Augenblicke später reute sie die Tat der Dwelg, das einzige Licht gelöscht zu haben.

Haltlos fühlte sie sich in einen schwarzen Strudel gerissen. Sie hatte in dem Höhlensystem schnell die Orientierung verloren. Nun aber verlor sie auch jede Möglichkeit, sich in der Zeit zurecht zu finden. Sie lauschte dem gleichmäßigem Atmen Tanias, das in dem Stollen tausendfache Widerhalle fand und sich in den Weiten verlief. Unbemerkt anfangs, zählte sie die Züge, fiel langsam in stumpfe Monotonie, die sich schwer auf ihre Lider niederließ und den Schlaf einlud.



Wie aus weiter Ferne vernahm er plötzlich rufende, aufgeregte Stimmen. Hände legten sich auf seine Glieder, schüttelten ihn an einer Schulter, rissen an seinen Handgelenken. Er musste wieder ohnmächtig geworden sein, denn als er hinter verschlossenen Lidern begann, seine Umgebung wahrzunehmen, spürte er neuerlich den felsigen Grund unter seinem gesamten Körper, Kälte spendend.

„Steht auf, Ihr könnt hier nicht liegen bleiben!“

Wieder riss jemand an seinem Arm.
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Müde erkannte er die Notwendigkeit, der Aufforderung zu folgen, erkannte die liebenswerte Bemühung eines Bewohners Kredâns, ihn in eine warme Hütte zu bringen. Als er sich aufrichtete, drang über seine geschlossenen Lippen ein schweres Stöhnen. Sogleich sprangen zwei an seine Seiten, stützten und hielten ihn.

„Langsam, Freund, haltet Euch an uns fest, wir bringen Euch in die Wärme.“

Die helfenden Hände richteten ihn auf, nahmen seine Arme über ihre Schultern und entließen ein weiteres Stöhnen in den Abend. So vorsichtig seine Retter auch mit ihm umgehen wollten, sie erreichten mit ihrem Tun eher das Gegenteil. Doggâr vermeinte zwischen den beiden Helfern wie auf einem Rad aufgespannt zu werden. Wie zuvor krümmte er seine Statur, presste die rechte Hand gegen die Leibmitte und beließ lediglich den linken Arm auf der Schulter des Fremden.

„Faila.“

Der Name drang wie das Krächzen einer Rauchkrähe aus den Niederungen der Westlanden über seine Lippen, wurde vom steten Wind mitgerissen noch bevor einer der Helfer ihn verstehen konnte. Suchend nach ein wenig Feuchtigkeit ließ er die trockene Zunge durch seinen Mund wandern. Wieder drohten ihm die Sinne zu schwinden, wieder verspürte er das undankbare Kribbeln in seinen Beinen, das ihm anzeigte, dass sie sein Gewicht nicht mehr tragen wollten. Wieder vernahm er den hohen, summenden Ton in seinen Ohren, der ihn bereits den ganzen Tag begleitete.

'Nein!'

Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte richtete er sich auf, schaute die herbeigeeilten Bewohner Kredâns an.

„Ich bin Ragon, Sohn von Faila und wünsche, sie zu sehen.“



Wieder hatten die nächtlichen Bilder geschafft, Calla die Nachtruhe zu nehmen. Immer wieder war sie aus dem Schlaf aufgeschreckt, hatte sich schwer atmend und mit rasendem Herzen in der warmen Umarmung Andras’ erlebt. Ohne die gelebte Verbundenheit mit dem jungen Auxell wäre sie sicherlich längst vor ihren Träumen geflohen. Auch wenn dies bedeuten sollte, sich selber in eine Schlucht zu stürzen.

Erschreckt erkannte Calla die Wahrheit in diesem Gedanken und lehnte sich dankbar gegen die Brust des Steppenreiters. So wachend, den Bildern keine Möglichkeit mehr bietend, über sie herzufallen, beobachtete sie aus dem Schutz der Felsen heraus das Erwachen des neuen Tages.
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Der Eissturm des gestrigen Tages hatte sich über Nacht gelegt. Stattdessen hatte Schneefall eingesetzt, der die Welt des Reldoc in einen weißen Mantel hüllte.

Dankbar für die sie umgebende Ruhe streckte Calla ihre steifen Glieder, richtete sich auf und nahm die wenigen Schritte aus der Umarmung des Felsendreiecks. Auch hier begrüßte sie sanfte Ruhe und Reinheit. Leise nur säuselte der beständige Wind um einige Felsen, sang ihr einen liebevollen Morgengruß. Obschon die Sonne noch nicht aufgegangen war, glänzte die Welt um sie herum in der weißen Reinheit des frisch gefallenen Schnees.

Eine seltsam sanfte Stimmung bemächtigte sich ihrer. Als griff eine mütterliche Hand zärtlich nach ihrem Herzen, nach ihrer Seele, fühlte sie sich sanft gestreichelt und bestärkt. Fühlte sie die schweren Lasten der Entbehrungen und Anstrengungen von ihren Schultern genommen und sich mit frischem Mut gefüttert. Sie wandte sich um, aus einer der Kiepen den Topf zu holen, als die Sonne gerade über den Rand der Welt lugte. Deutlich spürte sie den ersten Strahl ihre Wange zart berühren.



Bar jeglicher Sicherheit blieb Melân nur, sich in die Hände Tanias zu begeben. Ungewohnt für die rassige Steppenreiterin richtete sie ihre ganze Wahrnehmung auf das Tun und Unterlassen einer anderen Frau. Zeit ihres Lebens hatte Melân sich entweder an den Ratschlägen und Weisungen ihres Vaters oder ihres älteren Bruders gehalten. Selbst die Order der Ältesten hatte sie gern mit einem Schulterzucken abgetan und war den Weg gegangen, den sie für den rechten hielt. Nicht selten hatte diese Neigung ein ernstes Gespräch mit Phroner zur Folge.

Erst seit dem Sonnenfest, seit sich die Gruppe der Rebellen geformt hatte, hatte Melân in einem engeren Verbund mit einer anderen Frau auskommen müssen.

'Hätte!'

Im unbeständigen Licht der Fackel, die Tania in ihrer Hand hielt, den Weg vor sich zu erhellen, hätte die junge Dwelg sicherlich Spuren ihrer schweren Gedanken erkannt, würde Melân nicht wieder mit schweren Schritten hinter der kleinen Frau wandern.

'Ich hätte mich mit Calla zusammenschließen können, hätte nicht diese nagende Eifersucht zwischen uns gestanden.
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'

Schwer legten sich Scham und Reue auf ihre Schultern, erschwerten ihr zusätzlich jeden weiteren Schritt. Sich jetzt allerdings ausschließlich auf die Fertigkeiten Tanias einzulassen, dehnte den Bogen der Zuversicht beinahe bis zur Gänze. So ausgeliefert hatte sie sich noch nie in ihrem bisherigen Leben gefühlt. Sollte es Tania gefallen, konnte sie die Fackel löschen und sich im Dunklen davonstehlen. Niemals würde Melân in diesem felsigen Irrgarten den Weg hinaus finden.

'Große Mutter der Auxell, steh mir bei! Wenn ich hier nicht bald rauskomme, werde ich noch verrückt!'

Kaum festigte sich dieses Wissen in ihrem Geist, als sie über dem Haupt Tanias hinweg in einiger Entfernung das sanfte Glimmen eindringenden Tageslichtes zu erkennen vermeinte.

„Ist das …“

Freude und innigste Erleichterung raubten ihr die Worte aus dem Geist als sie mit einem Tippen ihrer ausgestreckten Finger gegen die Schulter der Dwelg auf ihre Beobachtung aufmerksam machen wollte.

„Ist das dort Tageslicht?“

Nach einer kurzen Sammlung glitten die Worte doch über ihre freudig bebenden Lippen. Ein warmes Lächeln erreichte sie, als Tania sich umwandte und ihr die Antwort zunickte.

„Ja, wir haben das Ende des Tunnels erreicht.“



Als Radh am frühen Morgen zwischen den Flanken des Felswalles von Hansân stehend den Blick über das weite, fruchtbare Land Sêmas gleiten ließ, schreckte er trotz der Schönheit, die seinen Augen geboten wurde, kurz zusammen. Die Erkenntnis, einen weiteren Tag unterwegs zu sein, lähmte ein wenig den Fluss seiner Gedanken, spiegelte bereits den stumpfen Trott des Wanderns wider. Die Erkenntnis, dass der Abend unweigerlich die herbeigesehnte und befürchtete Konfrontation mit seiner Vergangenheit beherbergte, erschreckte ihn bis ins Mark, ließ Wellen eisiger Schauer über seinen Leib rinnen und Panik in ihm aufsteigen.

Er wollte weder an den Abend denken, noch sich ausmalen, was ihn in Seicôr erwarten würde. Diese Frage hatte Hodur am gestrigen Abend gestellt, als er die drei Männer in der zugewiesenen Höhle aufgesucht hatte. Bereits gestern endete das Gespräch mit der Wahrheit, dass Planungen über das weitere Vorgehen vergebens wären, gestand jeder sich ein, nicht ausreichend mit der Stadt Seicôr und den Gegebenheiten dort vertraut zu sein.
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„Was werdet ihr nachher machen?“

Hatte der Dwelg lediglich das Thema wechseln wollen oder verbarg sich doch regeres Interesse hinter der harmlos erscheinenden Frage?

Radh hatte sich im Stillen verwünscht, vermeinte er weiterhin Arglist hinter Hodurs Taten und Reden. Auch jetzt flammte erneut Scham in ihm auf als er den Dwelg aufmunternd anschauen wollte. Nach einem tiefen Atemzug nahm er seinen Bardenstab fester in die Hand.

„Nun denn, auf zur letzten Etappe!“

Für Dwelgverhältnisse war der Abschied herzlich ausgefallen. Neisûm hatte veranlasst, dass reichlich Proviantbündel vorbereitet waren, die jeder dankend entgegen nahm und in den Kiepen verstaute. Bald schon nahm ein Weg entlang gut bestellter Äcker oder saftiger Weiden die Wanderer auf und Radh erlaubte seinen Gedanken, sich frei in der frischen und würzigen Luft Sêmas zu bewegen.

'„Was werdet ihr nachher machen?“'

Die Frage Hodurs drängte sich ihm auf. Im Takt seiner Schritte erschienen Ideen, Vorstellungen, Phantasien. Unter anderem auch jene, die Melân vor einigen Tagen – wirklich erst vor einigen Tagen? – während einer Rast geäußert hatte.

'Mit Melân als Schausteller durch die Land zu ziehen wäre eine von mehreren Möglichkeiten.'

Er suchte nach der Freude, fand stattdessen nur ein unzufriedenes Schulterzucken.

'Nein, die Zeit der Reisen, der Flucht, der Suche wird bald vorbei sein.'

Sie erreichten eine Baumgruppe unter der ein kleines Bauwerk errichtet worden war. In seinem gemauerten Giebel erkannte er zwei ineinander liegende Kreise, darin eine Raute, gekreuzt von zwei Linien, die ihn sofort an das geschenkte Spiel aus Gnarphat erinnerten. Ein Symbol, das ihn an das Spiel des Novizen in der Nähe Kredâns erinnerte, das ihn an die Mühlenanlage von Seicôr erinnerte. Ein Symbol mit religiösem Sinn, das plötzlich eine Erkenntnis weckte.

'Vielleicht wird es für mich kein „nachher“ geben!'
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Kommentare zur Story:

  Vielen Dank für euer Mitfiebern und dass ihr mich daran teilhaben lasst. Freut mich sehr, dass Doggâr bei euch so gut ankommt :)  
   Shannon O'Hara  -  31.12.12 11:45

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  Doggar ist ein eisenharter Kerl, aber auch mir sympathisch, obwohl er doch eigentlich als ausgesprochener Fiesling von dir dargestelt worden ist. Wie machst du das nur, dass trotz allem , was er vorher getan hatte, diese Sympathien für ihn rüberkommen? Nun geht es mir so wie Else, du wirst doch wohl nicht den armen Rath sterben lassen? Wie soll denn die arme Melan ohne ihn weiterleben? Aber bisher sind ja eigentlich keine wirklichen Gründe zu erkennen, dass sich seine Schlimmen Ahnungen erfüllen könnten, außer jener geheimnisvollen Zeichen in dem kleinen "Bauwerk", das sie gerade sehen. Bin gespannt, was du uns darüber und auch über Doggar im nächsten Kapitel erzählen wirst.  
   Marco Polo  -  30.12.12 21:29

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  Und wieder bin ich beim Lesen ein Stückchen vorwärts gekommen. Calla erscheint mir höchst sensibel. Wahrscheinlich ist sie als einfache Küchenmagd solche Anspannungen nicht gewohnt oder was ist mit ihr? Denn sie sieht Häuser, wo es keine gibt. Gut, dass sie den ruhigen Andras zum Freund hat, in dessen Arme sie des nachts flüchten kann und das Uwlad zu den Rebellen gehört, freut mich sehr. Auch Melan ist mit ihrer treuen Freundin Richtung Feind unterwegs. Am spannensten jedoch ist für mich immer noch der geheimnisvolle Doggar. Endlich ist er in seiner Heimat angelangt. Wer wird ihm alles begegnen? Rath wird von einer unheimlichen Ahnung überfallen, als er die Raute mit den zwei Linien sieht. Hoffentlich erfüllt sich nicht seine düstere Vorstellung, denn ich hänge auch an ihm sehr. Hat sich wieder wunderschön gelesen.  
   Else08  -  30.12.12 15:05

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