Experimentelles · Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Siebensteins Traum      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 29. August 2012
Bei Webstories eingestellt: 29. August 2012
Anzahl gesehen: 2083
Seiten: 9

Friedrich war ein ganz normaler, knapp 30 jähriger, eigentlich immer noch junger Mann, der einen ganz normal langweiligen, sicheren Job hatte und somit ein ganz normal langweiliges Leben führte. Seine Arbeitskollegen waren ebenso ganz normal. Es gab bei ihnen keine Skandale, nach denen, etwa, wie es sonst üblich war, nach einer Weihnachtsfeier konspirativ hinter vorgehaltener Hand Sachen wie: „Haste schon gewusst, dass der und der das und das gemacht hat? Aber von mir haste es nicht!“ getuschelt wurde. Alles ganz normal eben. Vielleicht könnte man Friedrich durchaus als eine Art Ebenbild eines ausgesprochen arbeitsfleißigen, weil auch viel zu viel Zeit habenden Singles in irgendeiner Großstadt ansehen.

Gerade stand er, wie es an jedem anderen Arbeitstag auch um fast exakt 17:00 Uhr der Fall war, an einem Bahnsteig und wartete auf seinen Zug, um mit dessen Hilfe nach Hause zu kommen; um dort einen ausgesprochen normalen Feierabend zu ver-leben. Allerdings sagte gerade eine recht freundliche Stimme durch irgendwelche Lautsprecher, dass sein Zug heute ganze 20 Minuten Verspätung haben würde. Na toll, dachte Friedrich angesichts dessen bei sich. Damit wird dieser Zug gerade mal 10 Minuten früher hier ankommen, als es bei dem darauf folgenden Zug der Fall sein wird, selbstverständlich nur, wenn dieser nicht auch Verspätung haben würde.

Angesichts dessen beschloss Friedrich ein wenig resigniert zum hiesigen Bahnhofskiosk zu gehen, um sich dort etwas zum Trinken zu holen.

Es war Herbst. Dieser Bahnhof lag ziemlich weit außerhalb der Großstadt, in der Friedrich lebte. Hier gab es Bäume, die gerade dabei waren, all ihre bunten Blätter zu verlieren. Es war ein wenig windig, weshalb die herab fallenden Blätter wild durch die Luft herumgewirbelt wurden. Friedrich mochte diese Jahreszeit. Es war zwar ein wenig bewölkt, dennoch blitze die Sonne hin und wieder durch das Wolkengewölbe weit über ihm hindurch, um die Menschen hier unten gerade noch so zufrieden stellend mit ausreichender Wärme zu versorgen, dass diese sich wohl fühlen konnten. Dies führte dazu, dass es weder zu warm noch zu kalt war. Es sorgte für eine, zumindest aus Sicht Friedrichs, geradezu ideale Atmosphäre. Die Welt schien in dieser Jahreszeit einfach viel bunter zu sein, als es in allen anderen Jahreszeiten der Fall war.

Gelassen schlenderte Friedrich die Treppe hinunter, um durch den Tunnel unter den Schienen hindurch zum Bahnhofskiosk zu gelangen.
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Auf der unteren anderen Seite angekommen, machte er sich daran, dort die Treppe wieder hinauf zusteigen. Dabei schaute er sich die Wände dort neugierig an. Sie waren mit irgendwelchem Zeugs bemalt. Das Meiste davon waren lediglich irgendwelche Schmiererein, so genannte Tags, also schwarze Schriftzüge, mit deren Hilfe, vermutlich irgendwelche Jugendliche, anderen Menschen signalisieren wollten, dass sie hier gewesen waren, und vor allem auch, dass es sich hierbei um ihr Gebiet handelte. Darüber hinaus gab es hier aber auch Graffitis, die Friedrich ausgesprochen gut gefielen, wie etwa ein Graffiti, das einen Mann mit einem Fernsehkopf in einer sehr interessanten, fast dreidimensional wirkenden, recht dynamisch aussehenden Körperhaltung zeigte. Er mochte es so sehr, dass er, wie aus einem Reflex heraus, und fast einem Cowboy gleich, der seinen Revolver zog, sein so genanntes, in seiner Seitentasche seiner Jeans stets befindliches „Smartphone“ zückte und damit ein Foto für seine Facebookseite machte. Ja, Facebook. Friedrich war dort tatsächlich angemeldet. Er hatte dort sogar ein paar langweilige Freunde in seiner Freundesliste vorzuweisen, wie etwa Jürgen, der dort immer, wahrscheinlich weil er sonst nichts zu tun hatte, all seinen flüchtigen Bekanntschaften irgendwelche langweiligen Rezepte, die er, zumindest behauptete er dies immer, alle zuvor ausprobiert hatte, unbedingt zeigen musste.

Nachdem Friedrich sein Foto gemacht hatte, ging er weiter die Treppe hinauf.

Das Bahnhofskiosk war im Innern des Bahnhofsgebäudes, weshalb er oben angekommen in eben dieses Gebäude hinein ging. Darin schaute er sich erst einmal gründlich um. Schon seit langem arbeitete er in dieser Firma; schon seit langem stand er jeden Tag fast exakt um 17:00 Uhr an diesem Bahnsteig an diesem Bahnhof, aber noch nie zuvor war er hier her zu diesem Kiosk gegangen. Dies wunderte Friedrich gerade selbst etwas, er erschrak sogar angesichts dessen ein wenig. Denn selbst für ihn als Betroffenen fühlte sich das irgendwie wie ein maschinenmäßiges, wie ein aalglattes, ja geradezu wie ein uhrwerkmäßiges Leben an. Dachte er ein wenig länger darüber nach, hatte es im Grunde fast 30 Jahre lang keine wirklich unvorhergesehenen Ereignisse in seinem Leben gegeben; nichts was den reibungslosen Ablauf seiner Welt, seines in erster Linie Arbeitslebens hätte stören können.
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War so etwas doch irgendwann einmal in seinem Leben aufgetaucht, und hatte er dadurch seine kleine Welt als in irgendeiner Weise bedroht angesehen, hatte er dies immer sofort mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht, ja geradezu mit brachialer Gewalt, regelrecht ausgemerzt, oder vielleicht noch besser gesagt: Präzise, wie es ein Chirurg mit seinem Skalpell mit einem bösartigen Krebsgeschwür machen würde, herausgeschnitten.

Friedrich musste sich ein wenig schütteln, um so seine Gedanken wieder auf den eigentlichen Grund seines Aufenthaltes hier richten zu können. Als ihm dies gelungen war, schaute er sich daraufhin noch einmal genauer um. Der kleine Bahnhofskiosk hatte eine kleine Auswahl an den üblichen Zeitschriften, die es dort so zu geben pflegte, vorzuweisen. Da gab es auch ein paar Romane, unter denen er sogar ein paar Science-Fiction-Titel erkannte, die er früher einmal gelesen hatte. Außerdem hatten sie dort auch einen Kühlschrank mit hoffentlich ausreichend gut gekühlten Getränken darin. Um dies herausfinden zu können, ging er zu diesem hin, öffnete ihn und war erst einmal dankbar für die erfrischende Kühle, die ihm aus dessen Inneren, fast einem Nebel gleich, der sich langsam um ihn herum wand und ihn sanft mit seiner erfrischenden Kühle umhüllte, entgegen kam. Er hielt kurz inne, um diesen Zustand in angemessener Weise genießen zu können. Dabei schloss er sogar kurz seine Augen, und war, wenigstens für einen kurzen Moment, zumindest so etwas Ähnliches wie zufrieden, ja, vielleicht sogar glücklich, wobei ihm diese Zuschreibung zu dieser Situation dann aber doch sehr schnell als eher übertrieben erschien. Danach öffnete er wieder seine Augen und suchte in dem Kühlschrank nach etwas, das seinen Durst löschen könnte, gleichzeitig aber auch vom Preis her nicht ganz so teuer war, wie das Meiste, das er hier vorfand. Er entschied sich für ein Getränk, das den Namen „Durstauslöscher“ trug, denn es schien seinen gerade aufgestellten Prämissen an ein Getränk ausreichend zu genügen, weshalb er nun in den Kühlschrank hineinfasste, und dort nach einer dieser ihm plötzlich als etwas unförmig erscheinenden, so genannten „Tetrapacks“ griff.
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Als er diesen gepackt hatte, fühlte es sich irgendwie doch ganz gut in seinen Händen an, weshalb unweigerlich Vorfreude in ihm aufstieg, was gut für ihn war, denn diese Art von Freude, zu der vielleicht nicht nur menschliches Leben fähig war, könnte durchaus eine der besten aller möglichen Arten von Freuden darstellen.

Er ging nun zusammen mit dem Getränk in seinen Händen zu der Kasse in diesem kleinen Laden hin. Es kostete 80 Cent. Er fischte in seinen Taschen nach seinem Ledergeldbeutel, den er einmal ausgesprochen günstig an irgendeinem Stand irgendeines Flohmarktes irgendwo in seiner Stadt, an dem er zufällig mal vorbeigeschlendert war, erstanden hatte. Er entnahm diesem einen Euro, schob daraufhin dieses Geldstück über den Tresen zum Verkäufer herüber, welcher es einerseits dankend annahm und andererseits daraufhin Friedrich seine ihm zustehenden 20 Cent Wechselgeld zurückgab. Damit war das Geschäftliche dieser Angelegenheit abgeschlossen, weshalb sich Friedrich bei dem Verkäufer bedankte und diesem noch artig einen schönen Tag wünschte. Danach drehte er sich um und machte sich daran, den Laden wieder in Richtung seines alltäglichen Bahnsteigs zu verlassen, schließlich war es absehbar, dass sein Zug in Kürze eintreffen könnte.

Während er also die Treppen zu dem Tunnel wieder hinunter stieg, machte er sich gleichzeitig daran, den Strohhalm seines Getränkes in diesem zu versenken, was ihm nach recht kurzer Zeit auch tatsächlich gelungen war, weshalb er nun endlich seinen Durst stillen konnte. Hierzu saugte er gierig an dem kleinen Halm, welcher nun aus diesem etwas unförmig aussehenden Tetrapack hervorschaute, wodurch, einer Fontäne gleich, das kalte Getränk in seinen Mund schoss und so diesen überraschend schnell angenehm kühlte. Dann schluckte er die Flüssigkeit, die sich nun in seinem Mund befand, herunter und spürte, wie sie wohlig kühlend seinen Hals hinunter floss.

Währen dessen führte ihn sein Weg wieder an den bereits bekannten Graffitis vorbei, dann unten durch den Tunnel unter den Gleisen hindurch zur Treppe auf der anderen Seite, und diese wieder hinauf. Als er schließlich auf seinem Bahnsteig angekommen war, war sein Getränk auch schon geleert. Er fühlte sich jetzt deutlich besser als zuvor, vor allem deshalb, weil er nun nach so langer Zeit endlich auch diesen kleinen weißen Fleck auf seiner persönlichen Landkarte mit irgendeiner Erfahrung hatte füllen können.
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Und das war irgendwie ein gutes Gefühl.



Friedrich schaute sich um und sah, dass er immer noch ganz alleine auf dem Bahnsteig war. Er suchte nach einer Sitzgelegenheit, fand diese, ging hinüber, während er an einem der Mülleimer vorbei kam, wo er sich seines leeren Tetrapacks entledigte, und setzte sich.

Während auf der gegenüberliegenden Bahnsteigseite ein Zug hielt, zwei Leute ausstiegen und der Zug nach einer kurzen Weile wieder davon brauste, nahm gleichzeitig der Wind ein wenig zu und ließ die bunten Blätter noch ein wenig mehr in der Luft herumwirbeln, als es zuvor der Fall gewesen war. Diese, auf Friedrich fast hypnotisierend wirkende Szene, und vor allem eine sehr hübsche Frau auf dem anderen Bahnsteig, welche zuvor aus dem Zug ausgestiegen war, ließen seine Gedanken nun ein wenig abschweifen. Fast wie benommen schaute er der Frau nach, wie sie energisch mit einem wild flatternden, kurzen Rock durch die um sie durch den Wind und durch den davonbrausenden Zug noch weiter aufgewirbelden, bunten Herbstblätter in Richtung Ausgang schritt. Es sah ausgesprochen sexy aus, weshalb Friedrich diesen Anblick sehr genoss. Es ließ ihn seine Gedanken noch weiter abschweifen, hin zu den Frauen im Allgemeinen, selbst dann noch, als die Frau schon längstens nicht mehr zu sehen war. Oh, er hatte in seinem Leben schon viele Frauen gehabt, aber es war immer sehr schnell dazu gekommen, dass sie ihm irgendwann irgendwie hinderlich wurden; dass sie anfingen, ihn in seinen Tätigkeiten, in seinen Angelegenheiten zu stören. Klar, am Anfang war es eigentlich immer toll gewesen: Man brauchte sich; man liebte sich; man ließ den Partner spüren, wie wichtig er einem war und selbstverständlich hatte man auch tollen, beide erfüllenden Sex. Dann war aber immer der Punkt gekommen, an dem er sich zwischen seinen eigenen Angelegenheiten und der Frau, die gerade an seiner Seite war, hatte entscheiden müssen.

Eine Böe fegte über den Bahnsteig.

Zumindest bis jetzt war seine Entscheidung dabei immer zugunsten seiner eigenen Angelegenheiten ausgefallen. Tja, man konnte eben nicht alles im Leben haben.
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Aber, und das musste er sich jetzt doch eingestehen, wenigstens Jenny hätte er sehr gerne, und sei es nur für eine kurze Zeit, noch einmal an seiner Seite gehabt.

>Ach<, schaltete sich plötzlich bei ihm mal wieder der Teil seines Verstandes ein, der sich immer bei ihm eingeschaltet hatte, wenn er sich zwischen zwei Sachen entscheiden musste. >Lass es, alter Junge. Lass es einfach sein. Man kann im Leben eben nicht alles haben, das hast du schon ganz richtig erkannt.< Aber Jenny... >Du musstest dich damals entscheiden, alter Junge, und du hattest dich entschieden. Und so wie immer hattest du dich dabei für das Richtige entschieden.<

Richtig? Was könnte falsch daran sein, sich einfach mal anders zu entscheiden, als man es sonst immer tat? Einfach mal neue Wege zu beschreiten, als diese, die man sonst immer beschritten hatte. Einfach mal rüber zum Bahnhofskiosk gehen, nur um mal zu sehen, was es dort so gibt. Einfach mal etwas ohne handfesten Grund, ohne irgendeine ausgeklügelte Strategie tun. Einfach nur so.

>Einfach nur so, alter Junge? Nichts geschieht einfach nur so. Kannst du dich denn nicht mehr daran erinnern, als du dich damals das erste Mal entschieden hattest?<

Oh doch, sicherlich konnte er sich noch daran erinnern. Damals hatte er sich entschieden gehabt, und letztendlich war er dadurch das geworden, was er heute war.

>Tja, es ist nun mal kein Zufall, dass jemand das ist, was er ist. Dem muss immer eine Entscheidung voraus gegangen sei. Denn ein Mensch muss sich irgendwann in seinem Leben dazu entscheiden, in welche Richtung seine Gleise gestellt werden sollen, eine Richtung, die ihn dann das werden lässt, was er ist. Deine gestellten Gleise haben dich erfolgreich und einflussreich werden lassen. Sie haben dazu geführt, dass die Menschen dich achten, weil sie wissen, dass sie sich auf dich verlassen können. Das war kein Zufall, alter Junge. Denn du warst es, der sich dazu entschieden hat, und deshalb war es das Richtige.<

Eine weitere Person betrat den Bahnsteig. Eine Frau, und Friedrich musste zu seiner Überraschung feststellen, dass sie – zufällig? - Jenny ausgesprochen ähnlich sah. Vielleicht etwas jünger, als sie heute sein müsste, ja, aber die Ähnlichkeit war doch frappierend.

Sie sah plötzlich etwas verwirrt zu Friedrich herüber, wahrscheinlich deshalb, weil er sie, seit sie den Bahnsteig betreten hatte, unverhohlen angestarrt hatte.
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Das musste bei ihr ein unbehagliches Gefühl ausgelöst haben, denn sie drehte abrupt ihren Kopf in eine andere Richtung. Friedrich musste sich regelrecht dazu zwingend, ebenfalls woanders hinzusehen, etwa in Richtung des Bahnhofkiosks, von dem er nun wusste, dass es dort ein paar recht gute Science-Fiction-Bücher zu kaufen gab. Danach schaute er auf die Bahnhofsuhr. Sein Zug müsste eigentlich in ein paar Minuten hier eintreffen.

Noch einmal blinzelte er in der Hoffnung zu der Frau herüber, sie würde es diesmal nicht bemerken. Sie hatte ein sehr schönes Kleid an, rote Haare, sehr weiße Haut und er erkannte sogar, wie es auch bei Jenny der Fall gewesen war, Sommersprossen in ihrem Gesicht und auf ihren Schultern. Er spürte ein fast vergessenes Feuer in sich aufflammen; eine glühende Leidenschaft und wilde Fantasien, die sich in seinem Kopf wie die um ihn herum in der Luft wirbelnden, bunten Blätter anfühlten. Es fühlte sich unendlich kostbar an, ja, geradezu wie das Wichtigste auf der ganzen Welt. Kein Job, keine Verpflichtungen und keine Professionalität schien es ihm nun plötzlich wert zu sein, sich diesem Gefühl, dieser berauschenden Trunkenheit, die er gerade fühlte, in den Weg zu stellen.

Er versuchte verzweifelt, sich zu konzentrieren, aber die Bilder in seinem Kopf wollten einfach nicht weichen. Sie waren nun da und sie schienen untrennbar mit dieser Frau verbunden zu sein. Er fühlte, dass er diese Frau brauchte; dass er sie brauchte, diese flammende Leidenschaft irgendwie auszuleben, sie ekstatisch zu verwirklichen; um sie so aus der irrealen Welt seiner Fantasien in die viel nüchternere Welt der Realität heben zu können, denn nur dort konnte er hoffen, sie wahrlich zu stillen; denn nur dort hatte er überhaupt die Möglichkeit, sie tatsächlich zu überwinden.

Er spürte den heftigen, den unwiderstehlichen Impuls in sich, einfach aufzustehen, zu dieser Frau hinüber zu gehen, sie anzusprechen, und das ihm nun als unausweichlich Erscheinende in Gang zu setzen; um so das seine und ihre Schicksal erfüllen zu können; um sie so alle beide von dieser unerträglichen Leidenschaft zu befreien.

Gerade in dem Augenblick, als er sehr kurz davor war, seinem Impuls aufzustehen nachgeben zu müssen, vor allem deshalb, weil seine Stimme in seinem Kopf vollends zu verstummen drohte, brauste plötzlich, wie aus dem Nichts, sein Zug, auf den er die ganze Zeit gewartet hatte, heran und hielt sehr laut quietschend direkt vor ihm.
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Das quälend laute Geräusch, aber auch die pure Präsenz dieser riesigen, metallenen, perfekt funktionierenden Maschine ließ ihn abrupt wieder in seine kleine Welt aus Verpflichtungen und Professionalität zurückfallen und ihn geradezu erschöpft erst einmal tief Luft holen. Nun fast wie benommen schaute er noch einmal zu dieser wundervollen Frau herüber, die, das sah er jetzt überdeutlich, einfach bemerkt haben musste, was mit ihm los war. Denn sie versuchte recht merklich ihn zu ignorieren. Er zwang sich wieder nach vorne zu schauen, erhob sich mit etwas weich gewordenen Knien aus seinem Sitz heraus, und ging mit, da war er sich sicher, ziemlich unsicher wirkenden Schritten zu der Tür des Wagons direkt vor ihm hinüber, öffnete diese, und stieg dann in den Zug ein. Mühsam darin angekommen suchte er nach einem freien Platz für sich, fand einen direkt am Fenster, setzte sich dort schweren Herzens hin, und schaute wiederum zu der Frau hinab, die immer noch wie angewurzelt auf dem Bahnsteig stand, wo sie die ganze Zeit gestanden hatte. Immer noch sah sie stur geradeaus, so als würde sie nicht bemerken, was los war.

Er fragte sich, warum sie nicht einstieg. Wahrscheinlich war ihr die Situation, die er gerade mit seiner verzweifelten Leidenschaft kreiert hatte, so peinlich gewesen, dass sie schlicht und ergreifend nicht dazu in der Lage war. Sie würde einfach auf den nächsten Zug warten, der, das zeigten die Anzeigetafeln, aufgrund der Verspätung dieses Zuges schon in etwa zehn Minuten kommen sollte.

Die von Friedrich zuvor geöffnete Tür des Zuges schloss sich mit einem lauten Knall automatisch, woraufhin die riesige, metallene Maschine wieder langsam ins Rollen kam. Während der Zug den Bahnhof verließ, eigentlich während der gesamten Fahrt hindurch, schaute Friedrich sehr nachdenklich aus dem Fenster. Er sah zu, wie die Welt da draußen immer schneller und schneller an ihm vorbeirauschte, während er sich Sachen fragte, wie: Hatte er sich in seinem Leben wirklich immer richtig entschieden gehabt? Konnte es bei dieser Entscheidung überhaupt ein Richtig oder ein Falsch geben?

Dann, nach einer ganzen Weile des Nachdenkens, seufzte er schließlich so laut, dass sich andere Fahrgäste in seinem Abteil kurz neugierig geworden zu ihm umdrehten.
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Denn er war zu der Erkenntnis gelangt, dass dies wohl Fragen waren, die kein Mensch jeh mit letzter Gewissheit beantworten konnte. Als einzig sicher erschien ihm in diesem nüchternen Augenblick nur, dass sich irgendwann einmal ein jeder dabei entscheiden musste, und dass es danach wahrscheinlich nur noch darauf ankam, dass man zu seiner einmal gemachten Entscheidung auch stehen konnte. Denn letztendlich musste ein jeder genau das werden, was er oder sie war, und das war vielleicht die Aufgabe, die das Leben an den Menschen stellte.
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Kommentare zur Story:

  Wunderschön eigenwillig und klug.  
   Else08  -  03.09.12 20:37

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Gefällt mir, dein nachdenklicher Friedrich. Bin in Gedanken mit ihm überall hinspaziert.  
   Dieter Halle  -  31.08.12 21:06

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