Trauriges · Kurzgeschichten

Von:    Homo Faber      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 14. März 2012
Bei Webstories eingestellt: 14. März 2012
Anzahl gesehen: 2420
Seiten: 4

Kirsten, meine Tochter war früher ein sehr fröhliches Kind, das viel lachte und jeder Mensch gern mochte. Doch als sie acht Jahre alt war, änderte sich ihr Leben, als meine Frau bei einem Autounfall ums Leben kam. Ab diesem Tag lachte sie nicht mehr und sprach kein Wort mehr. Zu Hause saß sie immer völlig teilnahmslos in ihrem Zimmer, lachte nicht, weinte nicht und sprach nicht. Auch in der Schule verhielt sie sich nicht anders, berichteten mir ihre Lehrer. Niemand kam mehr an sie heran. Alle Menschen in meinem Umfeld: Meine Eltern, meine Schwiegereltern, ihre Lehrer, ihre Klassenkameraden und ich versuchten alles, um sie wieder zum Sprechen oder wenigstens zum Lachen zu bringen, doch nichts half.

Ich war völlig verzweifelt und wusste nicht mehr, was ich machen soll, es kam ihm so vor, als hätte ich nicht nur meine Frau, sondern auch meine Tochter verloren. Abends las ich ihr immer eine Geschichte vor, auch wenn sie keine Reaktion zeigte, war ich sicher, dass sie trotzdem genau zuhörte, weil sie mich dabei ansah. Allein das gab mir die Hoffnung, dass sie eines Tages doch wieder sprechen würde und ich schwor mir, niemals aufzugeben.

Mehr als ein Jahr war inzwischen vergangen und ich war noch immer keinen einzigen Schritt weiter gekommen. Bis zu jenem Tag.

Es war ein schöner Herbsttag und ich machte mit ihr einen Waldspaziergang.

„Wollen wir ein Spiel spielen?“, fragte ich schließlich. Sie sah mich an. Ihr Gesicht und ihr hellblondes, fast weißes Haar erinnerten mich sehr an meine Frau wie sie auf Kinderbildern aussah. Ihr Haar war als Kind genauso hell, es wurde aber später immer dunkler und irgendwann war es braun.

„Das Spiel heißt Baumfühlung“, fuhr ich fort. „Hast du schon einmal davon gehört?“ Sie antwortete wie erwartet nicht.

„Also, das geht so. Du musst gleich deine Augen zu machen, dann führe ich dich zu einem Baum. Diesen Baum musst du dann genau abtasten, dabei darfst du deine Augen nicht öffnen. Anschließend bringe ich dich wieder hierhin zurück, erst dann darfst du deine Augen wieder öffnen. Und dann musst du versuchen, den Baum wieder zu finden, du darfst die Bäume dann abtasten, bis du deinen Baum erkennst.“

Während ich sprach, sah sie mich genau an, so dass ich überzeugt war, dass sie mir zuhörte und alles verstand, auch wenn ihr Gesicht keine Regung zeigte.
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„So, und jetzt mach deine Augen ganz fest zu“, sagte ich dann zu ihr und tatsächlich schloss sie ihre Augen. Sie hatte mir also wirklich zugehört und sie spielte sogar mit. Überglücklich über diesen Fortschritt suchte ich einen schönen Baum aus, an den ich sie führte. Um das Spiel nicht ganz so leicht zu machen, wanderte ich mit ihr ein paar Mal im Kreis herum, bis wir den Baum, den ich für sie ausgesucht hatte, schließlich erreichten.

„Wir stehen nun vor dem Baum. Du kannst ihn jetzt abtasten und wenn du denkst, dass du ihn wiederfinden kannst, dann lässt du ihn einfach los. Und denk daran, nicht die Augen öffnen.“

Daraufhin begann sie ihn abzutasten. Sie wirkte richtig konzentriert dabei. Sie faste mit den Händen um ihn, um zu füllen, wie dick der Stamm war und tastete sich vorsichtig und langsam bis nach unten. Dabei untersuchte sie die Rinde auf Auffälligkeiten. Jeden einzelnen Ast, den sie erreichen konnte, fühlte sie so gut es ging. Lächelnd sah ich ihr dabei zu. Nach etwa fünf Minuten trat sie einen Schritt zurück und ließ ihre Arme herunterbaumeln, womit sie mir zu verstehen gab, dass sie nun fertig war.

Im Kreis drehend ging ich nun wieder mit ihr zurück dorthin, von wo aus wir gestartet waren.

„So, nun darfst du die Augen wieder öffnen und den Baum suchen“, sagte ich dann zu ihr. Sie sah sich kurz um und marschierte dann auch schon direkt auf ihren Baum zu, den sie direkt mit den Augen zu erkennen schien. Dort angekommen untersuchte sie ihn nochmals, um festzustellen, ob es auch wirklich der Baum war. Schließlich umfasste sie ihn noch einmal und lehnte anschließend ihre Schläfe an den Stamm, so als wollte sie ihn umarmen. Dabei zeigte sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln! Ja, sie lächelte, ich konnte es nicht fassen, nach über einem Jahr lächelte sie wieder. Nein, sie strahlte sogar! Ihre Augen waren geschlossen und sie strahlte glücklich über das ganze Gesicht, während ihr Kopf noch immer an dem Stamm lehnte. Ich spürte wie mir Freudentränen in die Augen stiegen.

„Du bist ein schöner Baum“, sprach sie plötzlich. Ich zuckte zusammen. Sie hatte gesprochen, ich hatte es deutlich gehört. Sie sprach wieder! Ich konnte es nicht glauben.
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„Kirsten!“, rief ich voller Freude, während ich auf sie zu rannte. „Hast du das wirklich gerade gesagt?“

„Ja, er ist so schön“, antwortete sie, während sie immer noch den Baum betrachtete. Dass sie mich dabei nicht ansah, störte mich nicht. Ich war einfach nur außer mir vor Freude und musste sie in den Arm nehmen.

„Ja, er ist wirklich schön“, antwortete ich dabei. Die Tränen liefen mir die Backen herunter. Ich sah dabei über ihr Gesicht weg, so dass sie wahrscheinlich nicht sehen konnte, dass ich vor Freude weinte.

„Du sprichst wieder“, sagte ich. Sie war wohl so fasziniert von dem Baum, dass sie meine Worte gar nicht richtig wahrnahm.

Ich hob sie hoch, so dass sie ihn auch weiter oben berühren konnte, wo sie vorher nicht drankam und sah zu wie sie fröhlich lachte. Sie sprach sogar zum Baum.



„Gehen wir morgen wieder zu dem Baum?“, fragte sie mich abends, als ich ihr „Gute Nacht“ sagte.

„Ja, sehr gern“, antwortete ich, immer noch überglücklich, so dass ich in dem Moment wieder die Freudentränen spürte.

„Papa? Warum weinst du denn?“, fragte sie.

„Nein, ich weine nicht. Ich freue mich nur“, erklärte ich und nahm sie noch einmal in den Arm.

„So, nun schlaf gut.“

„Gute Nacht.“



Ich nahm mir am nächsten Tag frei und rief in der Schule an und fragte, ob Kirsten für den Tag beurlaubt werden könne. Ich wollte schon morgens mit ihr in den Wald gehen. Die Schulleitung war damit einverstanden, nachdem ich erzählt hatte, was passiert war.

Eine Stunde später waren wir auch schon wieder im Wald. Ich hatte Obst, Butterbrote und Getränke dabei, da wir länger im Wald bleiben wollten.

Wir beide setzen uns an den Baum und lehnten uns entspannt mit dem Rücken an den Stamm und genossen den schönen Herbsttag. Zwischendurch stand Kirsten auf, lief um den Baum herum, sprach mit ihm und setzte sich später wieder. Ich war einfach nur glücklich und hatte den Baum inzwischen genauso ins Herz geschlossen. Dieser Baum hatte mir meine Tochter zurückgegeben.

Jeden Tag besuchten wir ihn nun. Zwei Wochen später begannen die Herbstferien und da das Wetter noch immer sehr schön war, beschlossen Kirsten und ich, spontan eine Woche zu verreisen.
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An dem Tag, bevor wir losfuhren verabschiedete sich Kirsten von dem Baum.

„Tschüss Baum, ich komme in einer Woche zurück und besuche dich dann wieder“, sagte sie ihm zum Abschied und umarmte ihn noch einmal. Nach zehn Metern ungefähr drehte sie sich zu ihm um und winkte ihm.

„Meinst du, er wird mich vermissen?“, fragte sie mich.

„Ja, natürlich wird er dich vermissen. Aber er weiß ja, dass ihr euch in einer Woche schon wieder seht.“



Aber sie sahen sich nicht wieder. Noch an demselben Tag, an dem wir aus dem Urlaub zurückkehrten, gingen wir in den Wald, damit Kirsten ihren Baum begrüßen konnte. Gut gelaunt machten wir uns auf den Weg. Doch wir erlebten eine bittere Überraschung. Während unserer Abwesenheit wurden im Wald Bäume gefällt und darunter leider auch Kirstens Baum.

„Wo ist mein Baum? Was habt ihr mit ihm gemacht?“, waren Kirstens letzte Worte, danach begann sie zu schluchzen. Ich wollte sie in den Arm nehmen, um sie zu trösten, doch sie schubste mich nur weg.

Seitdem ist alles wieder so wie nach dem Tod ihrer Mutter. Kein Wort hat sie ab dem Tag wieder gesprochen und kein einziges Mal gelacht. Ich mache noch jeden Tag Waldspaziergänge mit ihr, in der Hoffnung, dass Sie irgendwann dort wieder einen Baum findet, der ihr genauso viel bedeutet und sie wieder zurück ins Leben holt.



Bald ist Weihnachten, vor einigen Tagen entdeckte ich auf ihrem Schreibtisch einen Briefumschlag. „An den Weihnachtsmann“ stand dort drauf. Der Umschlag war noch nicht verschlossen. Es musste sich um einen Wunschzettel handeln und da ich natürlich wissen wollte, was ihr Wunsch war, um ihn ihr zu erfüllen, nahm ich den Brief heraus und las ihn.

Lieber Weihnachtsmann, bitte gib mir meinen Baum zurück!
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Kommentare zur Story:

  Ein paar Kleinigkeiten:

"Ab diesem Tag" ist zwar richtig, liest sich mMn aber irgendwie komisch. Ich fänd' schöner: "Von diesem Tage an" - obwohl's ja schon ein Tacken lyrischer ist ... =/

"und wusste nicht mehr, was ich machen soll[te], es kam [mir] so vor"

"Bis zu jenem Tag." - Entweder sagst du: "Bis heute." Dann stimmen die Zeiten wieder überein. Andernfalls müsstest du alles danach kommende ins Plusquamperfekt setzen: "Es war ein schöner Herbstag gewesen"

"genauso hell gewesen, es war aber später immer dunkler geworden und irgendwann braun." - Ein schöner Satz, aber schon wieder reiten dich die Zeiten rein ... =/ So Erinnerungsgeschichten sind immer schwierig zu erzählen ...

"Sie fas[s]te mit den Händen um ihn, um zu fü[h]len"

"[er- oder be-]fühlte sie, so gut es ging" oder "jedem einzelnen Ast [...] spürte sie nach"

"Ich spürte, wie mir"

"beurlaubt werden konnte" - Ich hab' noch nie gehört, dass man sich in der Schule beurlauben lassen kann. Man hat doch Schulpflicht. Besonders in so jungen Jahren. Man kann sich höchstens krankschreiben oder entschuldigen lassen, aber "beurlauben" ist so ein Arbeitsweltausdruck ...

"Wir beide setz[t]en uns an den Baum"

Ich wage mal zu mutmaßen, das Holzarbeiter den Baum fällen, während die beiden im Urlaub sind. Mal schaun, ob sich meine Theorie bestätigt! ;)

Ha ha, ich hatte Recht! ^^

Wieder fänd' ich besser: "Kein Wort hat sie [seit] dem Tag wieder"

Eine sehr schöne Geschichte, klingt nach einer wahren Begebenheit! =)  
   Ben Pen  -  28.06.12 16:28

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  Hallo,

ich danke euch nachträglich für ´s Lesen.  
   Homo Faber  -  20.03.12 10:50

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  Hallo,

ich habe die traurige Geschichte neulich schon gelesen und finde sie sehr schön geschrieben.

Meiner Meinung nach sind die Gefühle und Gedanken des Vaters sehr gut ausgedrückt und ich konnte mir alles vorstellen.

Nach dem ersten Absatz ist ein kleiner Fehler mit der Person: "Ich war völlig verzweifelt und wusste nicht mehr, was ich machen soll, es kam ihm so vor, als hätte ich [...]"

Der Baum ist auch gleichzeitig ein Symbol für das Leben und die Natur, die heilsam ist.

Lg Sabine  
   Sommertänzerin  -  18.03.12 22:20

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  Ungeheuer authentisch und echt geschrieben. Keine Effekthascherei, keine aufgesetzten Emotionen, sondern einfach nur ein Erlebnis wie aus dem Leben gegriffen.  
   Jingizu  -  15.03.12 21:54

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  Eine wirklich herzzerreißende Story und tragisch für Kirsten sowie für ihren Vater. Man hofft förmlich auf ein Happy-End, zudem spannend erzählt.
LGF  
   Francis Dille  -  15.03.12 20:22

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  Eine traurige Story. Man möchte das Mädchen umarmen.  
   Gerald W.  -  14.03.12 21:44

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