Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Tintentod      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 23. Februar 2012
Bei Webstories eingestellt: 23. Februar 2012
Anzahl gesehen: 2249
Seiten: 12

Diese Story ist Teil einer Reihe.

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   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Rückblende

Weil er nach langer Zeit mal wieder genug Geld in den Fingern hatte, war er kurz entschlossen ins nächste spanische Restaurant gegangen, was er im Barrio entdeckte. Er hatte sich nicht darum gekümmert, dass er schief angesehen wurde, er bekam einen Tisch, nachdem er in seinem akzentfreien Spanisch danach fragte.

Mit der Speisekarte hielt er sich nicht lange auf und bestellte ein paar Gerichte, ohne darüber nachzudenken. Er wollte essen, bis er platzte.

„Am besten so scharf, dass sich die Schädeldecke hebt“, sagte er zum Kellner und bekam nur ein kurzes Nicken zur Antwort. Bereits zur Vorspeise hatte er zwei Tequila bestellt und heruntergespült und fühlte sich so gut, dass er das Dauergrinsen kaum unterdrücken konnte.

Das allerdings schwand langsam, als er von seinem Platz im hinteren Teil des Raumes bemerkte, dass das Restaurant sich schnell leerte. Das letzte Pärchen verschwand Hand in Hand nach draußen und die leeren Tische wurden abgeräumt und nicht neu eingedeckt. Immer wieder sah der Kellner zu ihm hinüber, als wolle er ihn loswerden, dabei hatte er erst den ersten Teil seines Hauptganges vor sich stehen.

Du bist hier nicht willkommen, dachte Rick, aber was soll’s. Ich kann bezahlen, also sollen die sich nicht so anstellen.

Aber es war etwas anderes, was ihn nervös machte. Sein Alarmsystem hatte angeschlagen.

Während er versuchte, sich auf das Kaninchenragout zu konzentrieren (er war sich nicht einmal sicher, ob er das wirklich bestellt hatte), kam eine kleine Gruppe Geschäftsleute herein, die wie treue Gäste begrüßt wurden und die in der Mitte des Raumes Platz nahmen. Rick riskierte nur einen kurzen Blick, sah die teuren Anzüge und wandte sich wieder ab. Es waren Südamerikaner. Sie unterhielten sich leise und er konnte von ihren Gesprächen nicht ein Wort verstehen, aber er hätte seinen Hintern verwettet, dass sie aus dem Land des Schnees kamen.

Und obwohl er sich bemühte, unsichtbar an seinem Tisch zu sitzen und das Ragout in sich hineinzuschaufeln, obwohl er längst den Appetit verloren hatte, sagten seine Nervenenden, dass es Zeit sei, sich in Sicherheit zu bringen. Sofort. Geh nach vorn, bezahle und verschwinde. Wären Hollis und Mascot dabei gewesen, hätten sie auf ihn gehört. Sie vertrauten seinem Frühwarnsystem bedingungslos.
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Weshalb er selbst mit sich zauderte, wusste er später nicht mehr. Er versuchte das ungute Gefühl zu unterdrücken, bis er wusste, dass es zu spät war.

Als weitere Gäste hereinkamen, sich mit langsamen angespannten Bewegungen durch den Raum drückten, schlug der Alarm zu und er konnte nichts gegen seine Reaktion tun. Die drei Männer waren unauffällig, gekleidet wie Geschäftsleute, wie wohlhabende südamerikanische Geschäftsleute, aber sie bewegten sich, als hatten sie vor, in ein Becken mit Haifischen zu steigen. Rick reagierte, wie eine Hand reagierte, wenn sie aus Versehen in Kontakt mit der heißen Pfanne kam. Er zuckte zurück und verschwand unter dem Tisch. Ein leeres Weinglas fiel um, das Besteck klirrte, als er abtauchte und an die Tischbeine stieß. Die Männer wurden erst auf ihn aufmerksam, dann wandten sie sich den fremden Männern zu.

Während Rick unter dem Tisch hockte, den Kopf zwischen den Knien, die Arme über dem Kopf, soweit es der kleine Tisch zuließ, reagierten José Quintero Ramos Leibwächter und überwältigten die drei Männer, noch bevor diese einen Ton von sich geben konnten. Es waren keine unschuldigen Restaurantgäste gewesen; sie fanden bei ihnen genug Schusswaffen, dass sie innerhalb von Sekunden das ganze Restaurant und deren Gäste hätten durchsieben können. Vermutlich war es genau das, was sie vorgehabt hatten.

Sie zogen Rick unter dem Tisch hervor und nur, weil José neugierig war und ihn fragte, weshalb er so schnell unter dem Tisch verschwunden war. War er am Anfang noch davon überzeugt, Rick habe auf der Seite der potenziellen Angreifer gestanden und habe von dem Angriff gewusst, konnte Rick ihm erklären, dass er nur nervös gewesen sei und die Männer ihm komisch vorgekommen waren.

„Du hast keine Ahnung, in was du hier hineingeraten bist, oder?“, fragte José und Rick meinte, er habe schon tiefer in der Scheiße gesessen.

Es war Ticks gewesen, der Rick immer wieder begegnete und meinte, man könne Rick dafür einspannen, auf Abruf kleine Gefälligkeiten zu erledigen, und obwohl Rick und Ticks niemals Freunde wurden, war es zwischen José und Rick anders.

José vertraute Rick ohne Bedenken, er war für ihn so etwas wie ein Rettungsanker, der ihn am Boden hielt.
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Rick besorgte Wagen, horchte sich in der Gegend um, hielt die Augen und Ohren offen. Sein Frühwarnsystem funktionierte reibungslos. Obwohl er von José zu einigen seiner Partys eingeladen wurde, tauchte er dort nie auf. Dafür war José immer für ihn da, um ihn aus der Scheiße zu holen.

Das hatte ein Ende. Jetzt war Rick an der Reihe, ihm einen letzten großen Gefallen zu tun, sollten die Cops auftauchen und dumme Fragen stellen.











8 - Clearwater

„Wir schulden Shari mittlerweile einen dicken Haufen Gefallen“, sagte Sophie, „sie lässt mich im Laden arbeiten, sie kümmert sich um Yassi, wenn es nicht anders geht.“

„Sie macht es, weil du ihre beste Freundin bist“, erwiderte Rick. Er fügte nicht hinzu, was ihm auf der Zunge lag – dass Shari selbst so durchgeknallt war, dass sie froh über eine einzige Freundin sein konnte.

Auf Monhegan gab es zwar immer wieder Künstler, zumeist Maler, die sich hier niederließen und die Landschaft und die Natur genossen und sich inspirieren ließen, aber die blieben nie lange. Keiner von denen hatte auch nur einen Winter überstanden.

Sie steckten Yassi ins Bett, Ben lag im Wohnzimmer auf dem Fußboden und las in einem Taschenbuch. Er hatte kein Licht angemacht, ihm reichte das Flackern des Fernsehers, der ins Leere lief. Carlos lag neben ihm, die Schnauze auf den Pfoten und reagierte müde, wenn aus dem Fernseher ein lautes Geräusch ertönte.

Ohne, vom Buch aufzusehen, sagte Ben, als Rick hereinkam: „Carlos hat wieder irgendwo sein Halsband verloren.“

Es waren billige Halsbänder, die sie ständig nachkauften, meist grell bunt und aus Nylon, an ihnen befestigten sie eine kleine Metallplakette, auf der „Carlos Scanlon“ stand. Eigentlich war das nicht nötig, weil jeder auf der Insel den Hund kannte, aber wohlmöglich wurde er von Urlaubern aufgegabelt, die nicht wussten, dass er für gewöhnlich den ganzen Tag herumstreunte.



Der Herbst kam in großzügigen Schritten ins Land, und auf die Insel schien er noch einen Schritt zuzulegen. Der Wind wurde erst schneidend kalt, dann eisig, und Sophie fürchtete sich jeden Morgen davor, dass Shari ihr die deprimierenden Worte sagen würde.
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Wir schließen über den Winter.

Shari würde nach Port Clyde verschwinden und vor dem ersten Frühlingsgruß nicht zurückkommen. Nicht nur, dass Sophie eine gute Freundin vermissen würde, das Geld würde ebenso in der Haushaltskasse fehlen.

„Unser Dach ist mal wieder undicht“, sagte sie, während sie mit Shari Kisten öffnete, komische Katzenstatuen auspackte und sie ins Schaufenster stellte, „Rick repariert es immer wieder, aber du kennst ihn, er gibt sich Mühe, aber er meint immer, er schaut einem Experten bei der Arbeit zu und kann es dann selbst erledigen.“

„Ich kann einen der Insulaner fragen …“, begann Shari, aber Sophie winkte ab.

„Wir haben kein Geld, um das Dach reparieren zu lassen. Und wenn wir einmal beim Dach anfangen, können wir weitermachen bis zur Veranda und zur Küchentür.“

Der Satz „wir hätten niemals in dieses Haus ziehen sollen“ wäre ihr niemals über die Lippen gekommen. Selbst, wenn dieser Gedanke ganz hinten in ihrem Kopf auftauchte, ließ sie ihn niemals nach vorn kommen. Die Frontveranda war Sperrzone für diesen Gedanken.

Weil nur in den Nachmittagsstunden, kurz vor dem Ablegen der Fähre, ein paar späte Touristen hereingekommen und Geld dagelassen hatten, machte Shari den Laden früher zu und sie saßen hinter der Theke und tranken eine Kanne gesüßten Tee.

Draußen riss der Wind, der sich über Nacht in einen Sturm verwandeln würde, an den Fensterläden und am Werbeschild.

„Es wird euch noch von der Insel wehen“, sagte Shari nachdenklich, „es wäre besser, wenn ihr euch etwas in Port Clyde suchen würdet.“

„Lieber lasse ich die Schule für die Kinder ausfallen, als dass Rick nicht zur Tanke kann. Und wenn wir nicht auf der Insel sind und alles festnageln, würde der nächste Hurricane unser Strandhaus wie das Haus von den drei kleinen Schweinchen davonfliegen lassen.“

Der Tee lief durch und sie verschwand schnell auf das Gästeklo, bevor sie die beiden Tassen spülte und sich verabschiedete.



Rick holte zur gleichen Zeit die Zwillinge von zu Hause ab, die endlich die Erlaubnis zur Gegenübernachtung bekommen hatten.
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Ben wollte unbedingt mitfahren, die beiden abzuholen und saß schon im Nova, bevor Rick sich überhaupt die Schuhe angezogen hatte.

Charlie und Kenny saßen bereits auf der Veranda, dick eingepackt wie die Eskimos und warteten. Rick fuhr vor und hupte zweimal, wunderte sich etwas, dass Helena Gardener es ihren Jungs erlaubte, draußen zu sitzen, bis er sah, dass ihre gefütterten Stiefel nicht die saubersten waren. Sie hatten sie vor der Tür angezogen und durften damit das Haus nicht mehr betreten.

Helena erschien in der Tür, trug eine kleine Sporttasche nach draußen und reichte diese durch das offene Fenster.

„Das ist Charlies Medikament“, sagte sie, „er vergisst es immer. Bitte kümmern sie sich darum.“

Die Jungs waren schon auf den Rücksitz geklettert, hatten Ben zur Seite gedrückt und sie kicherten aufgeregt darüber, was sie alles machen würden.

„Vor dem Abendessen“, sagte Helena, stutzte eine Sekunde, als müsse sie abwägen, ob es bei den Scanlons so etwas wie Abendessen für die Kinder gab, „und vor dem Frühstück.“

„Werden wir machen.“

Auf dem Rücksitz stießen die Jungs sich die spitzen Finger in die Seiten und quiekten wie die Ferkel. Helena winkte ihren Jungs zu, sie winkten schnell zurück und ignorierten sie dann. Es schien nicht die Verabschiedung zu sein, die sie von ihren Kindern erwartet hatte und Rick winkte ebenfalls und fuhr einfach davon.

Als er aus der schmalen Straße abbog und Richtung Zentrum fuhr, drehte er sich zu den Jungs herum und fragte: „Was machen die Mädchen in der Schule?“

Er beobachtete sie im Rückspiegel und grinste.

Kenny blies die Backen auf und warf seinem Bruder einen Blick zu.

„Mädchen sind doof“, sagte Ben und Charlie fiel ein: „Mädchen sind viel dümmer als Jungs.“

„Lass das nicht deine Mutter hören. Chuck, was sind das für Tropfen, die du nehmen musst?“

„Wegen der Schule.“

„In die Augen? Oder für die Nase?“

„Nein“, sagte Charlie gedehnt, „für die Schule. Weil ich nicht richtig lernen kann. Die kommen in meine Milch.“

„Und er stellt sich dabei immer an wie ein Baby“, sagte Kenny schadenfroh und Charlie streckte ihm die Zunge raus.
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Ein paar Jahre weiter und sie würden sich ganz anders gegenseitig beschimpfen. Ben beobachtete sie dabei, machte ein Gesicht, als verstünde er nicht ganz, was da zwischen den beiden vor sich ging, dabei lief es zwischen ihm und seiner kleinen Schwester ganz genauso.

„Du musst sie ja nicht nehmen“, sagte Charlie beleidigt.

Rick drehte die alte Anlage auf, dass die Lautsprecher krachten und sich die Zwillinge erschrocken die Ohren zuhielten. Während er eine kurze gerade Strecke fuhr, fummelte er die besagte Flasche aus der Sporttasche und las das Etikett, aber mit der Bezeichnung konnte er nichts anfangen. Zumindest war es nichts, was seine Kinder jemals bekommen hatten.

Ben quetschte sich nach vorn zwischen die Sitze und zeigte mit dem Finger nach vorn.

„Da ist ein Anhalter“, sagte er, „nehmen wir den mit?“

Einige hundert Meter vor ihnen stand ein Mann mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken, der wie ein Bettgestell über seinem Kopf hinausragte. Als der Nova näherkam, hob er die Hand und kniff die Augen zusammen. Er sah genau in die Sonne und bekam den scharfen kalten Wind ins Gesicht.

„Zu faul zum Laufen“, sagte Rick, „so groß ist die Insel ja auch nicht.“

Er hielt den Wagen neben dem Mann, lehnte sich zum Fenster hinüber und kurbelte es herunter. Der Tramper bückte sich, stieß mit dem Metallgestell seines Rucksacks gegen das Autodach und sagte: „Ich suche die Lobster Cove Road.“

„Sie sind ja gar kein Anhalter“, rief Ben von hinten.

„Wir haben das gleiche Ziel“, sagte Rick, „da muss ich auch hin. Den Sack in den Kofferraum und rein mit ihnen.“

Der Mann grinste, befreite sich aus den Gurten und warf einen Blick auf den Rücksitz. Drei neugierige Gesichter starrten ihm entgegen.

Im Kofferraum musste er einen Werkzeugkasten und einen alten Wäschekorb beiseiteschieben, wuchtete seinen Sack hinein und schlug zweimal die Kofferraumhaube zu, bis sie endlich unten blieb.

Er saß kaum im Nova und hatte die Tür zugezogen, als Rick schon wieder Gas gab und über die krachende Musik rief: „Ich bin Rick. Was treibt dich an die Strandhäuser?“

„Ich bin Fotograph und wegen den Seevögeln hier. Milton Sewer jr. Es ist sehr nett, dass ihr mich mitnehmt.
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“ Er drehte sich zu den Jungs herum. „Sind das alles deine?“

„Klar“, sagte Rick und zwinkerte durch den Rückspiegel nach hinten, „aber sie haben verschiedene Mütter.“

Kenny kicherte in sich hinein. Ben nahm die Hand aus dem Mund, er hatte einen lockeren Zahn untersucht und sagte: „Ich bin der Einzige von meiner Mutter.“

Der Mann grinste ihn an, aber er kam Ben nicht freundlich vor. Er vergaß diesen Gedanken sofort, als Charlie ihn wieder zu Pieken begann und sie rangelten miteinander, bis sie an der Stelle ankamen, wo sich die Straße in eine breite Düne verwandelte.

Milton sagte, er habe eines der Häuser gemietet, aber er wüsste noch nicht, wie lange er bleiben würde.

„Das sagen sie alle“, erwiderte Rick, „und dann sind sie schneller weg, als man Mississippi sagen kann.“ Wären die Kinder nicht dabei gewesen, hätte er ein anderes Wort benutzt.

Sie stiegen aus, die Jungs trugen ihre Taschen den Weg hinunter und verfielen in einen schnellen Trab, weil sie so schneller durch den tiefen Sand kamen.

„Wenn du über die Klippen klettern willst, sag irgendeinem Bescheid, wo du hinwillst und wann du wieder zurück sein wirst. Damit wir wissen, wo wir deine zerschellte Leiche suchen müssen, wenn du abgestürzt bist“, sagte Rick. Milton starrte ihn an, als habe er es als Scherz gemeint.

„Und wenn du dein Bier nicht allein trinken willst, komm einfach rüber.“

„Danke, werde ich machen“. Milton schulterte seinen Rucksack und marschierte den schmalen Holzsteg zu den Häusern hinunter.

„Dad, warum lädst du dauernd fremde Leute zu uns ein?“, fragte Ben. Diese Frage hätte Sophie ihm auch stellen können.



Die Jungs stürmten erst in die Küche, wo Sophie Zitronenlimonade und Kekse bereitgestellt hatte, dann spielten sie draußen im Garten mit den Kaninchen, bis es dunkel wurde und Sophie sie reinrief.

Weil es zu erwarten war, dass Yassi den Jungs die ganze Nacht auf die Nerven gehen würde, bekamen sie die Erlaubnis, ihre Schlafsäcke im Wohnzimmer auszurollen. Sie machten viel Getöse dabei und stritten sich lautstark darüber, wer über das nächste Spiel bestimmen durfte.

Rick und Sophie saßen noch in der Küche zusammen.
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Sophie wollte Makkaroni mit Käsesoße machen und als Rick meinte, weshalb sie nicht einfach im Garten den Grill anwarfen, sagte sie: „Bist du wahnsinnig? Weißt du, was die Gardeners mit uns anstellen, wenn ihre Jungs mit Rußflecken oder Brandblasen nach Hause kommen? Oder erzählen, dass sie bei uns die Burger vom Grill mit den Fingern gegessen haben?“

„Du stellst dich an. So schlimm sind die beiden gar nicht.“ Er nahm sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und verzog sich auf die Veranda. An die zunehmende Kälte hatte er sich längst gewöhnt. Sein Tagesablauf war so einfach und überschaubar, dass er sich eigentlich keine großen Gedanken machen musste. Außer natürlich, dass ständig das Geld knapp war. In den nächsten Tagen würde er aufs Festland fahren und für Wooley die Tauchpumpe abholen, auf dem Weg nach Ersatzteilen sehen. Er fand es lustig, dass die alten Kerle auf den Schrottplätzen ihn immer wie einen Idioten von der Insel behandelten, bis genau zu dem Moment, wo sie die Preise aushandelten.

Zwei Strandjogger kamen vorbei, sahen aus wie Bergarbeiter über Tage auf der Flucht mit den Lampen an den Stirnbändern. Eigentlich sah Rick von ihnen nur die auf und abhüpfenden Lichter und hörte ihre keuchende Unterhaltung. Wenn sie schon laufen mussten, weshalb unterhielten sie sich dann noch dabei?

Als sie das übernächste Strandhaus erreichten, grüßten sie in die Dunkelheit und Rick wanderte ein Stück zum Strand und entdeckte, dass Milton ebenfalls auf seiner Veranda hockte.



Ben und die Zwillinge lagen in ihren Schlafsäcken, und nachdem sie sich mit Popcorn beworfen hatten und das irgendwann langweilig geworden war, zauberten mit ihren Taschenlampen Lichtkreise an die Decke und Wände.

Der Kater, der sie zunächst misstrauisch beobachtet hatte, schlich sich an ihnen vorbei in die Küche hinüber und kratzte dort an der Hintertür. Ben wühlte sich aus dem Sack und öffnete ihm die Tür einen Spalt, damit er in den Garten konnte.

„Was machst du da?“, flüsterte Kenny, der sich angeschlichen und versucht hatte, ihn zu erschrecken.

„Lass uns nach draußen gehen“, sagte Ben, „vielleicht finden wir was Spannendes.“

Kenny und Charlie waren begeistert, sie zogen sich nur ihre Schuhe über die nackten Füße und schlichen sich nach draußen.
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Es war sehr dunkel, und so still, dass sie nur das Rauschen des Meeres hören konnten. Am Anfang gaben sich die drei noch Mühe, nicht laut zu werden, um Rick und Sophie nicht zu wecken, aber das vergaßen sie schnell, nachdem sie sich in der Dunkelheit gegenseitig erschreckten oder sich die kalten Finger in die Nacken steckten. Sie steckten sich die Taschenlampen in die Münder und machten gruselige Geräusche, kicherten haltlos, bis Charlie fragte: „Was ist eigentlich in dem Ding da?“

Er meinte den alten Schuppen.

„Da sind nur ein paar Geräte drin, die wir nie benutzen“, sagte Ben, „und ein paar Sachen von meinem Dad.“

Der Schuppen war nicht abgeschlossen, die windschiefe Tür war nur zugeschoben und der Metallhaken vorgeschoben. Ben hielt die Lampe und Kenny öffnete den Verschlag. Im Inneren stapelten sich Kisten, Kartons und rostige Gartengeräte, an der Rückwand im Metallregal standen ausgediente Gummistiefel, die Ben noch nie gesehen hatte und die vielleicht noch vom Vorbesitzer waren.

Er leuchtete von der Decke herunter, wo eine nackte Glühbirne hing, die aber so schwarz angelaufen war, dass er vermutete, dass sie schon vor Jahren durchgebrannt sein musste. Seine Taschenlampe holte Einmachgläser mit Nägeln und Schrauben aus der Dunkelheit, Sägeblätter, Motorenteile und eine Metallkiste, die oben in dem Regal stand.

Weil das Licht von Bens Taschenlampe auf der Metallkiste verharrte, wurden die Zwillinge darauf aufmerksam und Charlie wollte wissen, was da drin sei.

„Keine Ahnung“, sagte Ben. Er schaltete seine Lampe aus und wollte den Schuppen wieder verlassen, aber Charlie und Kenny dachten nicht daran, dieses kleine Abenteuer zu diesem Zeitpunkt abzubrechen. Sie leuchteten die Metallkiste an, stellten dann zwei Holzkisten übereinander, Kenny kletterte hoch, gehalten von Charlie, und hob die Kiste herunter. Sie war nicht sehr schwer und sie war nicht abgeschlossen.

Ben hatte ein ungutes Gefühl, aber er ließ sich hinreißen, weil er ebenso neugierig darauf war, was in dieser Kiste sein könnte. Sie zogen die Schuppentür hinter sich zu, um sich durch das Licht der Taschenlampen nicht zu verraten und hockten sich auf den staubigen Boden, die Kiste in ihrer Mitte.
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Bevor sie den Deckel öffneten, legten sie die Hände darauf und versuchten zu erraten, welcher Schatz darin sein könnte.

„Wenn wir einen Schatz hätten, hätten wir den schon längst verkauft“, sagte Ben, und Charlie meinte: „Ein geheimer Schatz, du Blödmann.“

„Dann sind es bloß Glücksbringer.“ Ben wusste nicht, weshalb er das sagte, aber es schien der Wahrheit sehr nahe zu kommen, obwohl er wusste, dass die Zwillinge dem nicht zustimmen würden, sobald sie sich den Inhalt angesehen hatten.

„Jeder muss raten, was drin sein könnte“, sagte Kenny, „und dann machen wir sie auf, und wer am nahesten dran ist, hat gewonnen.“

Er sah seinen Bruder und Ben neugierig an, und als sie beiden nichts sagten, machte er eine beschwörende Handbewegung über der Metallkiste und sagte: „Es ist … es ist … ein Heft mit nackigen Mädchen.“

Sie kicherten unterdrückt, mussten sich die Hände auf die Münder drücken, um nicht laut herauszuplatzen. Ihre Taschenlampen hatten sie im Regal und auf Kartons platziert, dass ihr Licht auf die Metallkiste schien.

Kenny stupste seinen Bruder an, Charlie bemühte sich um einen konzentrierten Gesichtsausdruck, musste aber immer wieder loslachen und sagte: „Ich glaube, es sind alte Puppen von Ben, mit denen er heimlich im Garten spielt.“

„Nee“, sagte Ben, „die habe ich Yassi geschenkt.“

Kenny schnipste ihm gegen das Ohr und gluckste: „Du bist dran.“

Ben wollte sich irgendwas Komisches ausdenken, was in der Metallkiste sein könnte, aber als er sich zu konzentrieren versuchte, wurde ihm schwindelig und er hatte einen komischen Geschmack im Mund.

Ich hab zu viel Popkorn gegessen, dachte er, die Limo sprudelt in meinem Bauch.

„Es riecht hier komisch, oder?“, flüsterte Charlie, und als sein Bruder erwiderte, er habe bestimmt in die Hose geschissen, kicherten sie wieder, aber Ben reagierte nicht. Sie sahen ihn neugierig an und warteten auf eine Reaktion.

Es roch wirklich seltsam in dem Schuppen, aber Ben konnte nicht sagen, wonach. Ein wenig staubig und nach fremden Gewürzen, und er dachte, dass es mit der Metallkiste zu tun haben könnte.

„Mein Dad war irgendwo in der Wüste unterwegs, mit einem Freund.
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Die Sachen, die da drin sind, haben sie von da mitgebracht.“

Kenny und Charlie sahen sich an, als habe Ben den Witz des Abends gerissen und warteten nur darauf, dass es in seinem Gesicht zuckte, damit sie loslachen konnten. Aber Ben lachte nicht. Er sah aus, als habe er ein wenig Angst vor der Metallkiste, dann aber klappte er den Verschluss hoch und öffnete den Deckel.

Neben ihm griff Kenny nach seiner abgelegten Taschenlampe und leuchtete in die Kiste. Sie starrten hinein, wagten die Dinge, die dort lagen, nicht zu berühren, denn sie sahen wirklich aus wie etwas, was Bens Dad vor langer Zeit dort hineingelegt und vergessen hatte.

Eine weiße Adlerfeder lag auf einer alten vergilbten Landkarte von New Mexico, darunter schien ein Taschenbuch zu sein. Ben griff danach, weil er auf Bücher immer neugierig war, und zog es heraus.

Es war die spanische Ausgabe „La naranja mecánica“ und er blätterte kurz darin herum. Obwohl sein Spanisch ganz gut war, taugte es nur für den normalen Alltag, er hatte noch nie versucht, ein Buch auf Spanisch zu lesen und dieses Buch war ganz eindeutig ein Buch für Erwachsene. Er legte es vorsichtig beiseite, griff wieder in die Kiste.

Die Zettel, hauptsächlich alte Strafzettel aus New York und New Jersey, legte er ebenfalls beiseite. Kenny griff nach dem Nummernschild, drehte es in seinen Händen hin und her, dann entdeckten sie das Messer und griffen alle drei danach. Charlie war am schnellsten und hielt es fasziniert hoch. Die Klinge war eingerostet und ließ sich nicht ausklappen.

Kenny spielte mit dem Schlüsselbund, an dem kleine bunte Perlen an einer Lederschnur hingen, klimperte mit ihnen herum und Ben griff nach der Adlerfeder. Zwischen der Feder und seinen Fingerspitzen sprang ein hellblauer Funke über und Bens Hand zuckte zurück.

Es war jemand bei ihnen im Schuppen. Obwohl ein unsichtbarer Beobachter nichts Neues für ihn war, das kannte er seit seiner frühen Kindheit, war es diesmal etwas anderes. Sie hätten diese Metallkiste nicht öffnen dürfen. Darin waren Geheimnisse, die nichts für Kinder waren.

Als Ben angestrengt Luft holte, dabei klang wie ein spontan Asthmakranker, starrten ihn Kenny und Charlie erstaunt an und sahen sich um. Ben starrte zur angelehnten Tür, seine Augen folgten einer unsichtbaren Bewegung und flüsterte: „Okay.
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Mit schnellen, energischen Handgriffen legte Ben die Utensilien zurück in die Kiste und schlug den Deckel zu.

„Das sind die Sachen von meinem Dad“, sagte er, „und damit sollten wir nicht spielen.“

„Was hast du gesehen?“, flüsterte Charlie. Sein Flüstern machte die Szenerie noch ein wenig unheimlicher.

Statt einer Antwort stellte Ben die Metallkiste ins Regal zurück und lief aus dem Schuppen.

Als sie in ihren Schlafsäcken lagen, dicht nebeneinander wie drei dicke dunkle Maden, die Lichter ihrer Taschenlampen wanderten lustlos über die Zimmerdecke, sagte Charlie: „Was hast du gesehen, Ben? Wenn es was Gruseliges war, sag’s mir nicht, dann kann ich die ganze Nacht nicht schlafen.“

„Wir wollten auch gar nicht schlafen“, sagte Kenny. Seine Stimme klang gedämpft, weil er sich bis zur Nasenspitze in dem Schlafsack vergraben hatte.

„Es war nicht gruselig“, sagte Ben, „ich habe nur jemanden bei uns im Schuppen gesehen. Einen Indianer. Er hat mich angesehen und gesagt, ich solle die Sachen wieder in die Kiste legen, weil sie meinem Dad sehr viel bedeuten und wir keinen Blödsinn damit machen sollten. Seine Augen waren unheimlich, aber er ist danach sofort verschwunden.“

„Ben!“, rief Charlie und leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht, „das war gruselig!“

„Und außerdem hat er sich das gerade ausgedacht. Es war niemand im Schuppen.“

Charlie war der Letzte, der das Licht löschte. Ben und Kenny waren bereits eingeschlafen, aber er hatte Angst, der Indianer aus Bens Erzählung könnte zurückkommen.
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Kommentare zur Story:

  Nun tritt Ricks Vergangenheit doch ein wenig ans Tageslicht, zumindest für die Kinder. Ben stöbert in einer alten Kiste und findet dort so einiges. Doch Mascot scheint die Kiste zu bewachen. Spannender Anfang, sodaß man befürchtet die Idylle könnte jeden Augenblick zerstört werden.  
   Dieter Halle  -  26.02.12 21:58

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Mein Ricky, schrecklich! Hatte erst am Anfang richtige Angst um ihn, aber das war ja nur ein Rückblick. Hoffen wir, dass Rick im "Jetzt" nicht doch noch José einen Gefallen tun muss. Das wäre gerade mit Familie nicht richtig günstig. Aber Mascots Geist ist ja auch noch da.  
   Petra  -  25.02.12 21:08

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Hallo Jochen,
vielen Dank fürs fleißige Lesen. ;0)
Der Rückblick schließt an das Ende des letzten Kapitels an, wo Rick sich kurz zurück erinnert. Habe es vielleicht ein wenig blöd getrennt. ;0)

Liebe Grüße DublinerTinte  
   Tintentod  -  24.02.12 20:24

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Aüßerst spannender Rückblick. Aber warum wird der am Anfang gebracht? Ich konnte keinen Bezug dazu in diesem Kapitel finden oder habe ich etwas überlesen? Vielleicht sollte das auch nur aufzeigen wie beschissen Ricks Vergangenheit war und dass es fast an ein Wunder grenzt, nun ein halbwegs normales Leben führen zu dürfen. Spannend und destruktiv ist das Inselleben allemal, wenn man so um seine Existenz kämpfen muss, wie diese Familie. Aber sie halten durch. Mascot scheint die Dinge aus Nicks Vergangenheit, die in der großen Kiste liegen, zu bewachen, wie ein Heiligtum.  
   Jochen  -  24.02.12 19:46

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Interessante Kommentare

Kommentar von "darkangel" zu "Vor dem Fenster"

hm... rollstuhl glaube ich nicht, denn das hätte das andere kind bemerkt und außerdem entscheidet sie sich am ende um. das daachte ich aber auch zuerst. jetzt stelle ich mir die frage: was ...

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Kommentar von "rosmarin" zu "Sich fühl'n wie Seifenblasen"

Hahaha, darauf muss man erstmal kommen. Köstlich. Habt alle ein schönes Osterfest. Gruß von

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