Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Frühling/Ostern

Von:    Renate Neff      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 17. Februar 2012
Bei Webstories eingestellt: 17. Februar 2012
Anzahl gesehen: 2315
Seiten: 5

Dies ist schon eine etwas ältere Erzählung, als meine Tochter noch ein Baby war





Ein herrlicher Sonnentag im Mai, genau richtig, um mit meiner kleinen Tochter den Heimweg zu Fuß durch den Park anzutreten statt mit der Straßenbahn.

Die Kleine jauchzt in ihrem Kinderwagen und ich genieße es, durchs Gras entlang der Hecken zu gehen und nicht auf den asphaltierten Wegen. Ich schnuppere Blütenduft und den Geruch jungen Buchenlaubes. Frisch entfaltet sind die Knospen, lichtgrün und zart scheinen die Blätter gegen die Sonne. Maikäferduft ... Die Bäumchen sind klein und biegsam und leicht zu schütteln. Aber kein Maikäfer fällt ins Gras.



Die Häuser der Stadt liegen weit abseits, vor uns wellen sich kurz geschorene Parkwiesen. Bei einer Bank rasten wir. Mein Töchterchen sitzt im Gras auf meinem Mantel und rupft Gänseblümchen aus. Ich hocke mich zu ihr, wir spielen und lachen.



Den Mann habe ich kaum bemerkt. Plötzlich steht er vor uns mit seinem Schäferhund, sucht Kontakt, lobt das Kind. Eine unangenehme Gestalt, abgerissen, aufdringlich, riecht nach Schnaps. Seltsam beklommen bleibe ich einsilbig, will ihn loswerden, will meine Ruhe. Schließlich geht er. Gott sei Dank!



Auch wir wandern weiter. Der Park endet, Brachland und ein steiniger Trampelpfad beginnen. In diese Gegend hat mich mein Weg noch nie geführt. Aber schön ist es hier: Brombeergewirr, hohe Gräser noch aus dem Vorjahr, gelbe Huflattichsterne frisch durch Geröll an der Böschung gesprossen. Eine Amsel schmettert ihr Lied, Kohlmeisen schlagen und in der Ferne hören wir einen Kuckuck rufen. Ein weites, ebenes steppenartiges Gelände voller Sonne, niedriger Sträucher und Pfützen vom letzten Regen liegt vor uns. Seitlich rechts abseits ... das gibt’s doch gar nicht! Eine Schafherde! Mitten in der Stadt! Das muss ich meiner Kleinen zeigen. Zielstrebig steuere ich darauf zu.



Wir stoßen auf einen heckenumsäumten Fahrweg. Hinter der Kurve liegt vor uns eine merkwürdige Ansammlung kleiner, einförmig gebauter, weißer Häuser: Spitzgiebel bis fast auf die Erde, ineinander verschachtelt. Adrett sieht das aus. Aber fremdartig. Ist das die Zigeunersiedlung, von der ich einmal gelesen habe? Seinerzeit waren hier für eine Gruppe Roma eigene kleine Wohnhäuser gebaut worden, damit ihnen das Sesshaftwerden leichter falle, weit draußen in sicherer Entfernung von der heimischen Bevölkerung.
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Ich glaube, das ist die Siedlung. Nett sieht das aus. Fast romantisch.

Ein Stück weiter, verdeckt durch die Hecke, weidet die Schafherde. Das Gelände ist umzäunt mit hohem Maschendraht. Ich finde den Eingang, muss aber sachte fahren, denn es geht über holpriges Gelände.

Der Schäfer ist ein alter Mann, eine Bilderbuchgestalt: Mit langem weißen Bart, buschigen Augenbrauen, dichtem weißen Haar, von dem das wettergegerbte, runzlige Gesicht umrahmt wird. Drei Hunde umkreisen die Herde. Die Lämmer blöken. Als wir kommen, weichen die Schafe zurück. Wir stören die Idylle.



Schwerfällig kommt ein Gespräch in Gang. Ich verstehe den Mann schlecht. Er ist Spanier und spricht gebrochen und undeutlich. Ja, die Schäferei ... Das wirft nicht viel ab. Er kann das auch nur zusammen mit seinem Kameraden machen. Wäh-rend er die Schafe hütet, arbeitet der in der nahen Autofabrik. Später, nach Schichtende werden sie sich abwechseln. Die Siedlung da drüben? Ja, das sind Zigeuner. Pack, das zu faul ist zum Arbeiten. Und dreckig. Mit denen wolle er nichts zu tun haben.



Die Sonne strahlt nicht mehr ganz so hell.



Ich verabschiede mich. Im Südwesten wird es dunkler. Ein Gewitter droht, ich muss mich beeilen.



Zurück zur Zigeunersiedlung. Hinter einer Häuserecke, riesige Lettern an einer fleckigen Hauswand, poppig aufgemacht: Sozialzentrum. Verein katholischer Männer.



Vor mir Hundegekläff. Der Mann aus dem Park steht auf der Straße, um ihn herum tanzen zwei Schäferhunde. Einer der beiden rast pfeilgerade auf uns zu, mein Töchterchen stößt einen spitzen Angstschrei aus. Ich versuche, das Kind zu beruhigen, der Hund spielt verrückt, rennt zurück, jagt wieder auf uns zu.

„Rufen Sie den Hund zurück!“ herrsche ich den Mann an.



„Er tut Ihnen nichts.“ kommt die Antwort. „Das ist ein guter Hund, der gehorcht aufs Wort. Komm, komm her!“



Der Hund umtanzt den Mann, umtanzt uns und wieder den Mann.
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Der andere Hund ist längst von einem Zigeunerjungen zurückgepfiffen worden und wird nun von ihm am Halsband festgehalten. Vor ihm sind wir sicher. Der Junge, sechzehn, siebzehn Jahre alt, ruft: „Zeigen Sie ihn doch an! Der hat hier nichts zu suchen!“



Ich beeile mich, wegzukommen. Im Zurückschauen sehe ich, wie der Junge den Mann angreift. Ihn mit Ohrfeigen traktiert, mit Fußtritten. Der Mann schwankt, hat keine Chance. Mitleid und Zorn erfassen mich. Doch mein Impuls einzugreifen wird erstickt durch Angst vor dem Hund und um mein Kind. Auch sind wir schon viel zu weit entfernt.



Es ist finster geworden. Dunkle Wolken überziehen den Him-mel. Bald wird es regnen.



Weiter, nur weiter. Ich biege um die Ecke und – pralle zurück. Schrottplätze umgeben mich und rechts der Bahndamm. Hohe, windschief in den Angeln hängende verrostete Blechwände grenzen die Straße von ihnen ab und werden überragt von riesigen Halden zerstörter, zerquetschter, aufgerissener Autoleiber, alles Wracks vergangener Karambolagen. Gegenüber kreischt und donnert ein Güterwagen vorbei, knallen rangierte Waggons aneinander, beladen mit Tanks voll Benzin.



Links entfalten Fliederbäume ihre Pracht zwischen vergammelten Baracken. Schrebergärten unterbrechen die endlose Reihe der Autoverwertungsanlagen. Eine Orgie von Grün und Blüten steigert den Kontrast, so dass es schmerzt.



Zwischen Baracken hängen Wäscheleinen, stehen Wohnwagen. Und überall Hundegebell, überall Schilder mit der Aufschrift: „Vorsicht, bissiger Hund!“

Das Misstrauen gegeneinander lässt sich fast körperlich spüren. Die Ausgestoßenen stoßen sich gegenseitig aus. Neugierige Blicke verfolgen uns. Was haben wir hier zu suchen?



Ich friere. Längst habe ich das Wagenverdeck aufgespannt und meinen Mantel um meine Kleine gewickelt. Wir müssen weg hier, schnell. Am Horizont das erste Wetterleuchten. Donnergrollen mischt sich in die Kakophonie des Rangierbahnhofs. Mein Kind schreit.



Zwischen zwei Schrottplätzen ein Sandweg. Kopflos folge ich ihm, er könnte ja eine Abkürzung sein, aber er endet in einer Kiesgrube und ich muss umkehren. Diesig-dunkel ist es jetzt.
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Böen erheben sich, wirbeln auf dem Weg kleine Kreisel aus Sand auf, die Baumkronen rauschen und biegen sich bedrohlich. Erste Blitze zucken. Die Abstände zwischen Blitz und Donnergrollen werden kleiner und die Straße am Bahndamm ist noch lang.



Wir können nicht weiter, müssen nach Obdach suchen. Im Winkel einer Hütte für die Kiesgrubenarbeiter finden wir Unterstand. Gerade so viel Schutz, dass die Böen uns nichts anhaben können und wir halbwegs trocken bleiben, wenn es regnet. Ich sehe die Regenfront schon kommen und leicht fängt es an zu tröpfeln.



Wieder hocke ich mich zu meiner Kleinen, doch diesmal nicht zum Spielen, sondern um ihr etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Das Donnern ängstigt sie. Ich halte sie im Arm, singe ihr ein Kinderlied nach dem anderen ins Ohr und wiege sie hin und her. Dabei zittere ich vor Kälte.



Der Wolkenbruch lässt nun nicht mehr auf sich warten. Riesige Tropfen prasseln aufs Dach, auf den Boden, schlagen kleine Krater in den Sand, der im nächsten Augenblick zu dickem Brei verschmilzt und augenblicklich in kleinen Rinnsalen, dann Bächen den leicht abschüssigen Weg hinunter gespült wird. Den Buggy habe ich ganz dicht zu mir mit dem Rücken zum Wetter gestellt. Eine kleine Trutzburg.

Was jetzt wohl der Schäfer mit seiner Herde macht? Einen Unterstand hatte ich bei ihm nicht gesehen. Die Regenstreifen stehen schräg im Wind, vom noch warmen Boden dampft es neblig. Ein würziger, erdiger Geruch steigt auf. Der Himmel ist jetzt schwefelgelb geworden, keine Wolken mehr zu unterscheiden und im Westen scheint es heller zu werden. Erinnerungen steigen auf, während es so prasselt und der Regensturm Blätter und Blüten von den Zweigen fetzt. Wie ich als Kind dieses Wetter liebte! Diesen Aufruhr der Elemente. Wie ich mit Robert aus dem Struwwelpeter vom Sturm durch den Himmel getragen und in einem ganz anderen Land abgesetzt werden wollte. Wie meine Mutter sagte „Meine fliegende Roberta“ und „Es heitert sich auf zum Wolkenbruch.“ Und wie wir Kinder nach Besänftigung des Gewitters mit klatschnassen Haaren und Kleidern durch den Sommerregen tanzten.



Auch jetzt werde ich nass, wenn auch unfreiwillig. Allmählich entfernt sich das Gewitter nach Osten, der Sturm lässt nach, der Regen verrinnt, die ersten Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken und glitzern in all den Regentropfen, die an den Zweigen, im Laub, an den Dachrinnen hängen.
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Und tatsächlich werden wir belohnt mit dem prächtigsten doppelten Regenbogen, der je zu sehen war. Staunend sieht ihn mein Töchterchen und möchte ihn greifen. Ich verspreche ihr, dass ich sie zu ihm fahre und wir machen uns schnell auf den Weg, die Straße am Bahndamm entlang bis zu den ersten Hochhäusern, die wieder Leben anzeigen, wie ich es gewöhnt bin.



Den Anfang des Regenbogens haben wir nicht finden können, doch am nächsten Tag fand ich eine Notiz in der Lokalzeitung. Ein Mann mittleren Alters war tot in der Nähe des Bahndamms aufgefunden worden, ertrunken in einer Regenpfütze, in die er in alkoholisiertem Zustand wohl während des Unwetters gestürzt war. Das Gesicht war angeschwollen und wies dunkelrote Blutergüsse auf. Wahrscheinlich ein Obdachloser. Sein Hund hatte die ganze Zeit bei ihm gesessen und niemanden an den Toten herankommen lassen, bis er durch einen Schuss niedergestreckt worden war.
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Kommentare zur Story:

  Eine Natur, die immer unheimlicher wird und ein aufrüttelnder Schluss. Ich glaube da macht man sich doch irgendwie Vorwürfe. Aber damals gab`s keine Handys, um Hilfe holen zu können und die Telefonzellen musste man erstmal finden. Schreibtechnisch klasse und auch vom Inhalt her sehr gut.  
   Jochen  -  18.02.12 20:02

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Tolle Landschaftsbeschreibungen und mittendrin ein Drama, das sich immer mehr zuspitzt. Eine Story also die im Leser ein Wechselbad an Gefühlen auslöst.
Schöner Lesestoff trotz traurigem Ende.  
   Else08  -  18.02.12 15:43

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Wieder eine sehr gut geschriebene Geschichte, mit einem allerdings traurigem Ende. So ein treues Wesen!

Auch die Kontraste in der Geschichte finde ich sehr schön. Erst diese Idylle und dann diese gar nimmer so idyllische Umgebung, erst der schöne Tag, dann das aufkommenden Gewitter.
Ich persönlich mag ja Gewitter, sie faszinieren mich irgendwie.  
   Tis-Anariel  -  17.02.12 23:55

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