Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Summer Peach      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 3. Oktober 2011
Bei Webstories eingestellt: 3. Oktober 2011
Anzahl gesehen: 2332
Seiten: 10

Das Holz knackte. Aus dem wohligen Knistern war ein gefährliches Zischen geworden. Flammen loderten auf, züngelten die Balken entlang. Verschlangen sie.

Das ganze Haus war in ein schimmerndes Rot getaucht. Die dicken Rauchschwaden erschwerten das Atmen bis ins unerträgliche. Meter für Meter gewann das Monster Raum, begann, alles zu beherrschen. Jeder Kampf schien aussichtslos.

Fynn kniff die Augen zusammen, versuchte zu retten, was zu retten war. Doch sie war machtlos. Machtlos gegen die große Hitze, gegen die Urgewalt des Feuers. Und plötzlich durchschnitt ein Schrei die gespenstische Stille…



Fynn schnellte in die Höhe. Sie atmete heftig, der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ihr Herz raste, schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen. Die Tränen rollten über ihre Wangen, tropften vom Kinn und verfingen sich in den Spitzen ihres blonden Haares. Ihre Fingerspitzen gruben sich in die Bettdecke, verkrampften.

Fynn zwang sich ruhiger zu atmen, die Bilder des grauenhaften Alptraumes nicht weiter an sich heran zu lassen. Es war zu lange her. Sie musste es endlich schaffen. Sie musste dieses Trauma endlich überwinden.

Ihr Atem ging nun ruhiger, doch ihr Herz pochte immer noch wie wild.

Fynn schlug die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Ihre bloßen Füße berührten die kalten Fließen. Vorsichtig setzte sich einen Fuß vor den anderen, tastete sich durch die Dunkelheit. Dass das Zittern ihrer Beine nicht nachließ, war nicht gerade von Vorteil. Endlich hatte sie das Fenster erreicht und riss es weit auf. Die kalte, klare Nachtluft strömte herein und fuhr ihr durch die blonden Haare, die von ihrem Alptraum zerzaust auf ihre Schultern fielen.

Die Bilder dieser so schicksalhaften Nacht ließen sie einfach nicht mehr los. Hatten sich in ihre Erinnerung eingebrannt. Eingebrannt, wie das Feuer seine Spuren in ihre Haut. Sie schloss die Augen.

Zu klar konnte sie das Gesicht ihrer Mutter sehen, wie es ein Raub der Flammen wurde. Zu deutlich vernahm sie die Schreie ihrer kleinen Schwester, als sie sich gerade noch vor einem herabfallenden Balken retten konnte.

Und zu tief saß der Schmerz über das Wissen, dass es allein ihr Vater die Schuld an ihrem zerstörten Leben hatte.



Das weiche Licht des Mondes fiel in das Zimmer und erleuchtete die tiefe, lange Narbe in ihrem ansonsten so schönen Gesicht.
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Eine von unzähligen. Eine von unzählig sichtbaren. Die Narbe, die ihre Seele davon getragen hatte, war nicht fassbar, nicht erkennbar. Und doch so viel schlimmer als alle, die sie entstellten.

Sie blickte auf die Stadt. Diese kalte, fremde Stadt. Die Stadt, in der sie neu war. Fynn vermochte nicht zu sagen, wie oft sie in den letzten Jahren umgezogen waren. Geflohen waren vor Erinnerungen. Ihre Mutter hatte es seit dem Brand nicht lange an einem Ort gehalten.

Fynn beschwor das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge herauf. Es war ein altes Bild. Ein Bild, auf dem ihre Mutter vor Lebensfreude nur so sprühte. Braune Locken umspielten ihr Gesicht, das von jenem wunderbaren Lächeln geschmückt wurde. Ihre grünen Augen glitzerten und zeigten jedem, was Glück war.

Wie ein Blitz durchzuckte sie die Erinnerung an jene Nacht und sie hörte ihre Mutter schreien. Gellend, laut, herzzerreißend. Das hübsche Bild verblasste und Fynn sah ihre Mutter, wie sie jetzt war. In der Nacht, als ihr Haus niedergebrannt war, hatte Emma viel mehr als nur ihre beiden Beine verloren. Ein Lächeln hatte Fynn schon lange nicht mehr im Gesicht ihrer Mutter gesehen und auch das Glitzern ihrer Augen schien erloschen.

Fynn schüttelte den Kopf und lehnte die Stirn an das kalte Glas der Fensterscheibe. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, doch ihr Verstand wurde wieder etwas klarer.

Bis heute konnte sie das alles nicht fassen… Sie zählte zu den wenigen Optimisten, die immer an das Gute im Menschen glaubten. Doch ihr Glaube war vor vier Jahren in den Grundfesten erschüttert worden. In ihrem tiefsten Inneren verfluchte sie ihren Vater für das, was er ihnen angetan hatte. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so grausam sein? So viel Hass in sich tragen?

Fynn ließ den Blick wieder über die Stadt schweifen. Es war ein gruseliger Anblick. Der Nebel verschluckte beinahe jedes Licht, ließ kaum einen Schimmer zu ihr durchdringen. Ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Wie sinnbildliche diese Stadt doch für sie stand… Wie wenige hatten es in den letzten Jahren geschafft zu ihr durchzudringen. So sehr hatte sie sich in ihre Welt zurückgezogen, andere ausgegrenzt, fast keinen an sich herangelassen.
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Für sie sollte diese Stadt ein Neuanfang werden. So hatte sie es zumindest geplant. Sie stieß die Luft aus, wusste sie doch nur zu gut, dass sie sich mal wieder selbst belog…

Fynn wandte dem Nebel den Rücken zu und setzte sich auf das Fensterbrett. Das kalte Holz ließ sie frösteln. Überhaupt schien in dieser Nacht alles kalt, alles fremd zu sein.

Der Mond zeichnete sanfte Schatten auf den Boden und ihre Beine, die ihr Kleidchen nur kaum bedeckte und ihre übergroßen Narben entblößte. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen die Linien einer Narbe nach. Schluckte. Sie merkte, wie die Tränen zurückkehrten und die Bilder mit sich brachten.

„Schluss jetzt!“ Ihre Stimme war laut. Rüttelte sie selbst auf. Setzte einen Schlussstrich unter ihre Gedanken. Ihr Blick fiel auf ihr Bett. Sie wollte schlafen, musste schlafen… Und doch hatte sie Angst vor dem, was sie in ihrer Traumwelt erwartete. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen, warf sich schließlich entschieden in die Kissen und verfiel in einen unruhigen Schlaf.



„Fynn, beeil Dich! Wir sind spät dran!“ Amy hämmerte wie wild gegen die Badezimmertüre. Fynn reagierte nicht. Sie stützte sich auf das Waschbecken auf und blickte ihrem Spiegelbild fest in die Augen. Ihre Haare fielen so, dass sie eine Linie mit ihrer Narbe bildeten. Die Narbe verdeckten. Die Narbe, die ihr so viel Probleme, Wut und Angst bereitet hatte…

So fest hatte sie sich vorgenommen an diesem Tag keine Angst zu haben. Stark zu sein und einen richtigen Neuanfang zu wagen. Doch sie hatte zu viele schlechte Erfahrungen in ihren alten Schulen gesammelt, als dass sie wirklich daran glaubte, noch irgendwann einmal richtig in einer Klasse anzukommen…

„Fynn!“ Amys Klopfen wurde noch energischer.

Fynn drehte den Kopf und blickte zu Türe. Sie atmete noch einmal tief durch und beschloss mit aller Kraft die sie aufbringen konnte, diesen Tag gut hinter sich zu bringen. Einen weiteren ersten Schultag… Fynn riss die Türe auf und hätte beinahe Amys Faust ins Gesicht bekommen, die gerade zu einem weiteren Klopfen ausholte. Gleichzeitig zuckten sie vor der jeweils anderen zurück.

Amys tiefschwarze Augen funkelten. „Na endlich, ich dachte schon, du wirst heute gar nicht mehr fertig!“

„Jetzt bin ich ja da.
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Lass uns fahren.“ Fynn schloss die Türe hinter sich, nahm ihre Schultasche und machte sich auf den Weg zum Auto. Jeder Schritt fiel ihr schwer und sie brauchte unendlich lange für die kurze Strecke. Versuchte, das Unausweichliche möglichst lange hinauszuzögern. Als sie endlich auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, war Amy schon außer sich vor Ungeduld.

„Fynn, bitte…“ Sie sah sie flehend an. „Ich weiß, dass das schwer für Dich ist. Aber jetzt lass uns endlich fahren!“

Fynn startete den Motor und fuhr die Straße entlang, ohne auf den Weg zu achten. Immer wieder schweifte ihr Blick zu ihrer vier Jahre jüngeren Schwester. Für sie war es nach dem Brand nicht so schwer gewesen, das alles zu verarbeiten. 11 Jahre… Sie war damals zu jung, um das alles zu verstehen, um alles richtig zu begreifen. Glücklicherweise hatte sie bis auf einige kleine Narben keine weiteren Verletzungen zurückbehalten, die sie ständig an diese Nacht erinnerten.

Amy kam nach ihrer Mutter. Braune Locken, ein ansteckendes Lachen… Die einzige der Familie, die noch die Person war, die sie vor dem Brand gewesen war. Nicht von Alpträumen gequält wurde…

Fynn wandte den Blick wieder auf die Straße und bog auf den Parkplatz der Schule ein. Die Uhr zeigte bereits kurz vor acht. Amy sprang aus dem Wagen und wartete auf Fynn.

„Fynn?“

Fynn blickte vom Lenkrad auf, schüttelte kurz den Kopf.

Amy wusste, dass ihre Schwester erst noch einige Minuten im Auto verharren würde. Zu oft hatten sie in letzter Zeit erste Schultage zusammen durchgestanden und nie war es Fynn leicht gefallen, sich in eine neue Klasse einzufügen. Seit ihr Gesicht durch die Verbrennung entstellt war, war sie immer wieder Opfer von Mobbing gewesen, an keiner Schule war es besser geworden. Und doch hoffte Fynn jedes Mal wieder aufs Neue, dass es sich ändern würde. Dass keiner ihre Narbe zum Anlass nehmen würde, ihre seelischen Narben noch zu vergrößern.

Fynn legte das Kinn aufs Lenkrad und betrachte das große Sandsteingebäude, das ab heute wie ein zweites Zuhause für sie sein sollte. Noch wusste sie nicht, was sie darin erwarten würde. Wie ihre neuen Mitschüler auf sie reagieren würden.
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Doch sie hatte die größte Angst davor.

Ihre Hände waren schweißnass, als sie nach ihrer Tasche griff. Ihr Herz klopfte heftig, als sie das Auto hinter sich verriegelte. Ihr Atem ging unregelmäßig, als sie kurz nach acht das Sekretariat betrat, sich alle nötigen Infos geben ließ und sich auf die Suche nach ihrem Klassenzimmer machte. Sie starrte die grüne Türe an, hielt kurz inne und klopfte dann entschlossen an. Jetzt konnte sie es sowieso nicht mehr ändern… Als sie den Raum betrat, waren alle Blicke auf sie gerichtet. Sie, die Neue. Sie, die in die Klassengemeinschaft eindrang.

Fynn hielt den Blick auf den Boden geheftet. Schaute ihrem Lehrer kaum in die Augen, ließ die kurze Vorstellung über sich ergehen und nahm dann hastig in der letzten Reihe Platz. Stets darauf bedacht niemanden ihr Gesicht zu zeigen. Noch früh genug würden die anderen Gelegenheit haben, sie damit aufzuziehen…

Fynn versuchte krampfhaft dem Unterrichtsstoff zu folgen, machte Aufzeichnungen und legte ihre ganze Aufmerksamkeit in die Vorträge des Lehrers. Und doch fiel es ihr unheimlich schwer, sich auf das Gesagte zu konzentrieren und die Diktate zu verstehen. Ständig schweiften ihre Gedanken ab… Die Schulglocke ließ sie aufschrecken. Eilig packte sie ihre Sachen zusammen. Nichts wollte sie mehr als diesen Raum zu verlassen. Hastig stand sie auf und trat die Flucht nach vorn an. Der Wind fuhr durch das offene Fenster. Erschrocken blickte Fynn auf. Wieder waren alle Blicke auf sie gerichtet. Der Wind hatte ihre blonden Haare erfasst, tanzte mit ihnen einen unbeschwerten Tanz, ließ einen freien Blick auf ihr Gesicht zu. Das Stimmengewirr in der Klasse schien für einen Moment zu ersterben – um sich im nächsten Moment lauter als zuvor zu erheben.

Dieser Moment. Dies war es, was Fynn stets fürchtete. Der Moment, in dem alle entdeckten, wie entstellt sie war. Wie von Sinnen versuchte sie ihr Haar zu bändigen und wieder über ihr Gesicht zu legen. Doch das Lachen eines Mädchens hallte in ihrem Ohr. Das monotone Gemurmel wickelte sie ein. Schlimme Schimpfwörter und Beleidigungen trafen sie hart. Wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Sie umklammerte ihre Bücher, wollte nicht völlig die Fassung verlieren. Wollte nicht noch mehr Angriffsfläche bieten.
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Sie blickte keinem in die Augen, begann zu rennen, wollte nur noch raus. Weg. Nicht in dieser Klasse zu bleiben.

„Lasst sie gefälligst in Frieden!“ Die tiefe Stimme eines Jungen war das letzte, das sie hörte, bevor sie weinend vor dem Klassenzimmer zusammenbrach. Sie ließ ihre Bücher fallen, lehnte sich an die Wand und schlang die Arme um ihre Beine. Zusammengekauerte saß sie im dunklen Schulgang und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Warum hätte es hier anders ablaufen sollen? Seit vier Jahren war es immer wieder das Gleiche gewesen. Warum hatte sie gehofft, sie würde anders empfangen werden. Warum sollte es ausgerechnet hier besser werden?

„Fynn?“ Eine tiefe Stimme erklang neben ihrem Ohr.

Zögernd hob sie den Kopf und blickte in die braunen Augen ihres Gegenüber. Er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Fynn blickte ihn skeptisch an.

„Fynn, bitte komm…“ Der sanfte Klang seiner Stimme beruhigte Fynn, ihre Tränen wurden weniger und langsam ergriff sie seine Hand. Zitternd stand sie auf ihren Beinen, noch immer hielt er ihre Hand. „Ich bin Samuel. Das ist nicht fair, was die Klasse mit dir macht!“, sagte er im gleichen Atemzug.

Fynn war zu verblüfft um zu antworten. Noch nie hatte jemand für sie Partei ergriffen, schon gar nicht nach so kurzer Zeit. Sie stand da und starrte Samuel an. Starrte in seine weichen, braunen Augen, unfähig, sich zu rühren oder zu sprechen. Nur die Tränen rannen ihre Wange hinunter. Samuel hob vorsichtig die Hand und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Zog die Hand hastig zurück, als er merkte, dass Fynn vor seiner Berührung zurückwich.

„Entschuldige. Ich möchte nicht aufdringlich sein. Schließlich kennen wir uns gar nicht. Ich wollte Dir nur sagen, dass Du… falls Du jemanden brauchst, Du kannst gerne zu mir kommen. Ich glaube, ich verstehe ganz gut, was in Dir vorgeht…“

Fynn sah ihn immer noch mit großen Augen an. Nickte schließlich. Brachte ein „Danke“ heraus.

Samuel lächelte sie an, drehte sich um und lief den dunklen Gang entlang. Fynn blieb allein zurück.



Die Tränen liefen. Schienen nicht versiegen zu wollen, schienen aus einer unerschöpflichen Quelle in ihrem tiefen Innern zu kommen. Sie wollte schreien.
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Wollte laufen. Wollte weg. Weit weg. Nicht mehr sein! Immer wieder schlug sie mit der Faust auf ihr Kissen. Holte schließlich tief Luft und riss sich zusammen.

Sie war noch keinen Monat in dieser Klasse und war fertig. Fertig mit den Nerven, der Welt und vor allem war sie am Ende. Sie konnte nicht mehr. Wäre Samuel nicht,… Sie traute sich nicht den Gedanken zu Ende zu denken.

Es verging kein Tag, an dem sie diese Schule verließ und nicht das Gefühl hatte zu zerreißen. Es verging kein Tag, an dem Samuel nicht für sie Partei ergriff, sie verteidigte, ihre Würde wahrte. Sie in Schutz nahm, wenn sie sprachlos den Angriffen ihrer Mitschüler ausgesetzt war. Und sie nahm seine Hilfe in Anspruch, kam sich dabei ungerecht vor. Ihr Gewissen quälte sie. Schimpfte sie feige. Mutlos und ängstlich. Nicht in der Lage, sich selbst zu stellen, sich zu wehren, sich den anderen entgegenzusetzen.

Nicht erst heute hatte Samuel wieder seinen Kopf für sie hingehalten. Und sie war wieder ohne ein einziges Wort des Dankes verschwunden. Wie konnte jemand so selbstlos sein? Er kannte sie nicht, nicht ihre Geschichte, wusste nicht, was sie durchgemacht hatte.

Das Klopfen an ihrer Tür riss sie aus ihren wüsten Gedanken. Sie wischte sich über die Augen. Mit erstickter Stimme brachte sie ein „Herein“ über ihre trockenen Lippen. Zögerlich öffnete sich die Türe und Samuel trat ein.

„Fynn, ist alles in Ordnung mit Dir?“ Mit wenigen Schritten durchquerte er das Zimmer und war bei ihrem Bett.

Fynn schüttelte den Kopf. Sah sie denn aus, als wäre alles in Ordnung? Ihre Augen waren gerötet, ihre Haare zerzaust und ihre Stimme war brüchig. Sie setzte sich auf. Samuel legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Sie rührte sich nicht. Genoss die beruhigende Wirkung seiner Berührung. Die Tränen gewannen wieder die Oberhand. Begannen, sich unablässig den Weg über ihre Wangen zu bahnen.

„Ach, Fynn…“ Samuel zog sie zu sich, bis ihr Kopf auf seiner Schulter ruhte. Ihr zierlicher Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Ihre Tränen von einem leisen Schluchzen begleitet.

Und plötzlich war da nur noch Stille. Wut stieg in Fynn auf. Sie stieß Samuel von sich weg. Sprang auf. Nahm ihr Kissen und schleuderte es durch das Zimmer.
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„Verschwinde Sam!“ Sie drehte sich zu ihm um und funkelte ihn an. „Du bist viel zu gut für mich!“ Mit einer Armbewegung fegte sie ihren Nachttisch leer.

„Ich zerstöre Dich, so wie ich mich zerstört habe!“ Wieder nahm sie ihr Kissen und warf es gegen ihr Bücherregal.

„Ich bin es nicht wert. Du kennst mich nicht. Kennst nicht meine Geschichte. Warum setzt Du Dich so für mich ein?“ Ein Schrei begleitete ihre Zerstörungswut. Ein Schrei aus ihrem Inneren, ein Schrei, dessen Kraft sich seit Jahren in ihr aufgestaut hatte. Zur unbändigen Wut wurde. Ihr Schrei wurde zu einem Schluchzen, einem Wimmern, einem Winseln. Erstarb schließlich ganz. Sie sackte in sich zusammen, kauerte auf dem Boden, weinte stille Tränen. Zitterte am ganzen Körper.

Langsam kam Samuel zu ihr, setzte sich neben sie auf den Boden. Legte sanft den Arm um sie und spürte ihren Widerstand brechen. Fynns Kopf ruhte an seiner Brust und er spürte, wie sein Shirt von ihren Tränen durchweicht wurde. So saßen sie. Minuten, vielleicht auch Stunden.

So, wie die Tränen aus Fynn herausbrachen, brach auch ihre Geschichte aus ihr heraus. Sie durchlebte jede Minute noch einmal. Qualvoll und entsetzlich. Fast so, als würde alles noch einmal geschehen. Sie sah ihren Vater mit hysterischem Lachen das Benzin im Haus verteilen, nicht fähig, sich zu wehren. Nicht fähig, ihre Mutter und ihre über alles geliebte Schwester zu warnen. Gefangen in ihrem eigenen Körper, nicht fähig sich zu rühren. Sie sah ihren Vater das wohlige Kaminfeuer in einen zerstörenden Brand verwandeln. Getrieben von Eifersucht, Misstrauen und dem Alkohol. Getrieben von der Hoffnung, seine Familie im Tod wiedervereinen zu können. Das Feuer war durch das Haus gerast, hatte sich aus ausgebreitet, sich den Raum erkämpft. Der Rauch hatte auf ihre Lunge gedrückt und doch… ihr Leben war nicht lebenswert ohne Amy und Emma. Sie hatte sich durch das Haus gekämpft, verfolgt von einem unbesiegbaren Monster. Einem unberechenbaren Gegner. Amy hatte es schließlich selbst geschafft. Doch sie hatte ihre Mutter nicht finden können.

Wieder spürte Fynn die Verzweiflung in sich. Die Verzweiflung der Machtlosigkeit. Wieder hörte sie den gellenden Schrei ihrer Mutter, wieder wusste sie, dass sie sie nicht retten konnte.
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Wieder merkte sie, dass sie die Kräfte verließen, bevor sie in der Lage war etwas auszurichten und wieder wurde es schwarz um sie…



Als Fynn erwachte, saß Samuel neben ihr. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Sie hatte mehr als vier Stunden geschlafen, er hatte mehr als vier Stunden neben ihr gewacht. Draußen war es bereits dunkel und die Lichter der Stadt strahlten in der Nacht.

Seine Augen ruhten auf ihr.

„Oh Gott, Sam…“ Fynns Stimme war rau und brüchig. „Es tut mir so leid. Ist alles in Ordnung mit Dir?“ Nur schwach konnte sie sich an ihren Wutausbruch erinnern.

Samuel nickte. Stille trat ein.

„Fynn, ich weiß mehr über dich, als Du denkst.“ Samuels leise Stimme durchbrach das unangenehme Schweigen. „Ich habe mit Amy gesprochen, sie hatte mir alles erzählt. Deswegen glaubte ich, Dich so gut verstehen zu können – deswegen verstehe ich Dich so gut.“

Fynn zog die Stirn in Falten.

„Du bist nicht die einzige mit einem Kindheitstrauma und nicht die einzige, die von ihren Mitschülern drangsaliert wurde, glaub mir…“ Er schluckte.

Fynn setzte sich auf und sah Samuel an. Er hatte leise gesprochen, doch so heftig, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. So kannte sie Samuel nicht. Aber sie kannte ihn gar nicht… Ihre Augen verhakten sich mit den seinen. Bohrten tiefer in ihn.

„Ich werde Dir das erzählen. Du hast mir auch Dein ganzes Herz ausgeschüttet. Aber nicht jetzt. Du bist so zerbrechlich…“, beantwortete er ihr die Frage, die ihr auf den Lippen brannte, sie aber nicht auszusprechen wagte. „Doch ich verlange auch etwas von Dir!“ Er packte sie bei den Schultern und zwang sie, seinem Blick standzuhalten. „Werde stark! Steh darüber! Du brauchst keine Angst zu haben! Du bist ein wunderschönes Mädchen. Du hast das Selbstvertrauen, das weiß ich von Amy. Du musst es nur wieder erwecken!“

Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden. Heftiger und intensiver. So eindringlich, dass Fynn gar nicht anders konnte. Sie nickte. Spürte eine Last von ihren Schultern fallen. Eine Last, die seit vier Jahren ihr täglicher Begleiter gewesen war.

Samuel lächelte. „Bis Du Dein Selbstvertrauen wieder gefunden hast, werde ich für Dich da sein.
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Ich werde Dein bester Freund sein. Werde sein, was Du möchtest. Fels in der Brandung, offenes Ohr… Du musst es mir nur sagen!“

Wieder verhakten sich ihre Blicke ineinander. Er hauchte ihr eine Kuss auf die Stirn, drückte sie zurück in die Kissen und verließ ihr Zimmer…



Wieder stand Fynn vor dem Sandsteingebäude. Ein neuer Tag. Ein neuer Kampf. Das gleiche Spiel. Und doch fühlte sie sich besser gewappnet als je zuvor. Nach ihrem gestrigen Zusammenbruch fühlte sie sich wie neu geboren. Nichts hatte sich geändert und doch war alles anders. Ein völlig neues Gefühl war in ihr.

Sie betrat die Schule, betrat das Klassenzimmer. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Samuel hatte ihr etwas mitgegeben, was sie noch nie zuvor besessen hatte. Er hatte ihr ein Schwert in die Hand gegeben, das Schwert der Freundschaft. Er hatte ihr eine Rüstung umgelegt, die stärker war, als alles, was sie je zuvor besessen hatte.

Sie überstand den Tag. Sie verstand den Unterrichtsstoff. Und als der Wind beim Hinausgehen ihre Haare tanzen ließ, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Dem Mädchen, das ihr eine gehässige Bemerkung hinterher rief, streckte sie frech grinsend die Zunge heraus.

Ihr Leben hatte jetzt ein neues Motto.

Stark. Bereit. Unbesiegbar. Schön. Entschlossen. Mutig!
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Kommentare zur Story:

  Hut ab, auch ich empfinde diese Story als sehr gelungen.  
   Jochen  -  08.10.11 22:44

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Hochdramatisch und sehr überzeugend geschrieben. Ja, so etwas kann wirklich passieren. Es gibt schlimme Schicksalsschläge und die Welt hat wenig Erbarmen mit den Geschädigten. Aber es gibt auch großartige Freundschaften. Eine gelungene Story.  
   Dieter Halle  -  04.10.11 21:58

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Interessante Kommentare

Kommentar von "weltuntergang" zu "Abschied nehmen"

Schweres und schönes Gedicht. Gefällt mir sehr total. Ganz liebe Grüße

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