Romane/Serien · Spannendes

Von:    Tintentod      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Mai 2011
Bei Webstories eingestellt: 26. Mai 2011
Anzahl gesehen: 2914
Seiten: 32

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Für gewöhnlich schlief Roper bis in den späten Morgen hinein, und auch an diesem Freitag brach er nicht mit dieser Tradition. Er hätte noch länger als bis halb zwölf geschlafen, aber die Kinder seines Bruders Allan tobten unter seinem Fenster und zwangen ihn förmlich aus dem Bett.

Er stand auf, öffnete das Fenster und warf einen Turnschuh nach draußen, woraufhin das Kindergeschrei verstummte und er undeutlich hörte, wie sie ins Haus zurückrannten.

Als Allan ihn wegen des Wurfgeschosses zur Rede stellen wollte, stand er gerade unter der Dusche und tat so, als könne er seinen Bruder nicht verstehen. Allan rief durch die geschlossene Badtür, er solle einen Moment das Wasser abstellen, und er rief zurück, er solle sich abregen.

„Wenn du deine Ableger unter Kontrolle hättest, müsste ich keine Schuhe nach ihnen werfen“, sagte er, als er mit einem Handtuch um die Hüften aus dem winzigen Bad trat.

„Es sind Kinder, Joe“, sagte Allan missmutig. Das war immer wieder seine Ausrede. Seine eigenen Kinder hatten alle Freiheiten der Welt, alles wurde entschuldigt.

Roper hasste es, wenn sein Bruder ihn so nannte. Er hasste es, wenn Allan heraushängen ließ, dass er ihm für alles, was er für ihn tat, dankbar sein müsse. Schließlich ließ er ihn über der Garage wohnen, nachdem Roper sich geweigert hatte, zurück ins Farmhaus zu ziehen.

„Seid du wieder da bist, hat sich einiges geändert“, hatte Allan gesagt und so getan, als sei Roper zwanzig Jahre lang fort gewesen, dabei hatte er bloß ein halbes Jahr an der Ostküste verbracht.

Tatsache war, dass Allan als älterer Sohn die Farm übernommen hatte und er nicht wagte, seinen kleinen Bruder zum Teufel zu jagen; egal, wie oft sie sich stritten und egal, was seine Frau darüber dachte.

Wenn Roper nicht gerade Schuhe nach ihnen warf, kam er mit der Brut seines Bruders eigentlich ganz gut aus, manchmal kamen die beiden Jungs zu ihm und sahen dabei zu, wenn er an seinem Chevy herumschraubte, oder sie fragten ihn, ob er zum Essen reinkommen wolle.

Dana hatte ihn noch nie persönlich zum Essen eingeladen, aber sie sagte auch nichts, wenn Roper ins Haus gepoltert kam und sich ohne ein Wort aus dem Buffettschrank einen weiteren Teller und Besteck holte und sich einfach dazusetzte.
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Sie kochte ganz gut, aber sehr pragmatisch und ohne Leidenschaft. Essen musste satt machen. Reste vom Vortag mussten weg. Sie hatte wohl auch Allan aus pragmatischen Gründen geheiratet und vier Kinder mit ihm in die Welt gesetzt. Auf der alten Farm hatte sie ein gutes zuhause gefunden und war versorgt.

Roper kam diesen Einladungen nicht immer nach. Ihm gingen nicht nur die Kinder auf die Nerven, sondern besonders das Haus an sich, das noch genauso aussah wie zu den Zeiten, als seine Eltern noch gelebt hatten, als er Kind gewesen war. Alles um ihn herum erinnerte ihn ständig daran, was passiert war. An den Wänden hingen noch immer die Familienfotos, die Fotos von Dads prämierten Zuchtstieren und Reitpferden, gerahmte Zeitungsausschnitte mit den Rodeoberichten. Allan würde diesen alten Plunder nicht in hundert Jahren in einen Karton räumen und auf den Dachboden stellen. Außerdem nannte Dana ihn Joe und betonte es jedes Mal, als sei es ein Schimpfname; niemand nannte ihn Joe, alle sagten Roper, selbst der Sheriff, wenn er mal wieder etwas verbockt hatte.



Es war einfach, Allan wieder loszuwerden, Roper musste nur das Handtuch dazu benutzen, um sein Haar trocken zu reiben. Diesmal kam keine Einladung zum Essen, aber er hatte sowieso vor, ihn die Stadt zu gehen. Roper musste zu Fuß bis zur Straße und dort den Daumen raushalten, weil sein alter Chevy mit demontierten Reifen auf Ziegelsteinen aufgebockt neben der Garage stand. Er hatte kein Geld für eine Reparatur. Weil er kein Geld hatte, lebte er auch noch immer in der winzigen Kammer über der Garage, obwohl das nur eine vorübergehende Lösung hatte sein sollen, nachdem er aus dem Haus ausgezogen war. Mit einem ordentlichen Job und einem wöchentlichen Scheck hätte er sich längst irgendwo eingemietet, möglichst weit weg von der Farm seines Bruders.

Der erste Farmer, der Richtung Stadt fuhr, hielt an und räumte ihm den Beifahrersitz frei. In dieser ländlichen Gegend war es üblich, an Leuten nicht vorbeizufahren. Außerdem war es viel zu heiß, um die Strecke zu Fuß zu laufen.

„Roper, was ist mit deinem Wagen?“, fragte der Mann, der zehn Meilen weiter die Straße hinauf lebte und noch immer versuchte, mit der Rinderzucht reich und berühmt zu werden.

Roper reichte ihm eine seiner Zigaretten, zündete sich selbst eine an und kurbelte das Seitenfenster herunter.
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Er hatte den Spitznamen seit seiner Jugend, die er bei den Rodeos verbracht hatte. Einige Leute hatten ihm eine strahlende Zukunft vorhergesagt. Wie man sich irren konnte.

„Aus dem Verkehr gezogen“, sagte er.

In dem Pick-up war es brütend heiß, es gab keine Klimaanlage, und obwohl beide Seitenfenster heruntergekurbelt waren, kam nur heiße Sommerluft herein. Die Nächte waren kaum kühler zu dieser Jahreszeit, und da Roper wusste, dass er bei dem Temperaturen eh nicht schlafen konnte, würde er Freitagnacht in der Stadt verbringen. Es gab einige Bars, in denen er sich mit ein paar alten Freunden treffen konnte. Diejenigen, die nicht den Landkreis verlassen hatten, um irgendwo Karriere zu machen. Die geblieben waren, weil ihnen nichts anderes übrig blieb oder weil sie nicht weg wollten. Roper zählte sich zu beiden dieser Kategorien.

„Ich hab gehört, du hast deinen Job hingeschmissen“, sagte der Fahrer, ohne ihn anzusehen. Er starrte auf die staubige Straße vor sich, die schnurgerade vorauslief und deren Entfernung man nur an den Strommasten abschätzen konnte, die ihr parallel folgten. Hier gab es nicht viel, was das Auge festhalten konnte. Der Himmel war wolkenlos blau und die einzigen Farbtupfer kamen von den Wasserspeichern.

„Die haben behauptet, ich hätte Werkzeug mitgehen lassen“, sagte Roper gleichgültig, stemmte seine Boots gegen das Armaturenbrett. Die Stiefel waren so staubig, dass man das braune Leder darunter nur erahnen konnte.

Natürlich hatte er ein paar alte ausgediente Werkzeuge eingesteckt, von denen er überzeugt gewesen war, dass sie niemand mehr brauchte und erst recht nicht vermissen würde. Es hatte ihn fuchsig gemacht, dass der Vorarbeiter behauptet hatte, er habe was von den guten Sachen verschwinden lassen. Deswegen hatten sie sich erst angebrüllt und dann geprügelt, was für Roper nicht gut ausgegangen war. Die Schmach der Niederlage, der Verlust eines relativ guten Jobs und die Tatsache, dass Allan wieder etwas hatte, was er ihm unter die Nase reiben konnte.

„Du bist nicht einmal in der Lage, einen Job länger als drei Wochen zu behalten“, hatte Allan gesagt.

Roper war überzeugt, dass der Vorarbeiter ihn beim Klauen beobachtet und die guten Werkzeuge selbst eingesteckt hatte, aber wem hätte er das sagen sollen.
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Es interessierte niemanden.

An der Kreuzung, die den kleinen Stadtkern wie eine Torte aufteilte, stieg er aus dem Pick-up, wünschte dem Alten noch einen schönen Tag und begann seine übliche Runde. Mit seinem Mobile versuchte er ein paar der Jungs zu erreichen, aber entweder klingelte er ins Leere oder sie behaupteten, sie seien mit anderen Dingen beschäftigt. Er hatte nichts anderes erwartet; wäre nur schön gewesen, wenn er seine Drinks nicht alle selbst hätte bezahlen müssen. So blieben immer noch die Jungs, die er nicht anzurufen brauchte, weil sie jeden Tag in den selben Ecken und Bars zu finden waren.

In der Bar, in der sein Vater gern einen getrunken hatte, leierte die Musicbox alte Countrysongs, und er wunderte sich jedes Mal, dass dem Barkeeper davon nicht schon die Ohren bluteten. Der Sprit, den sie hier ausschenkten, war billig und reichte vollkommen aus, um sich die Kante zu geben, aber Roper blieb nicht länger als für zwei Drinks. Er schaute hier nur regelmäßig herein, weil er insgeheim hoffte, der Geist seines Dads würde hier an der Theke hocken und sich über sein Auftauchen jedes Mal ärgern.

Er warf einen kurzen Blick in das Kasino, was vor einem Jahr mit viel überflüssigem Prunk und Tammtamm eröffnet worden war und von dem sich die ganze Stadt erhofft hatte, es würde ein paar zahlungskräftige Fremde anlocken, was sich aber als Fehlschlag erwiesen hatte. In den ersten Monaten, als der Betreiber noch kräftig Werbung gemacht hatte, waren an den Wochenenden ein paar Leute aus der Umgebung in die Stadt gekommen, aber der Reiz des Glückspiels hatte sich schnell gelegt. Wer das Geld dazu übrig hatte, konnte es sich auch leisten, bis nach Las Vegas zu fahren.

Unter der Woche lohnte es sich kaum, das Kasino zu öffnen und an den Wochenenden hingen dort die Jugendlichen und Arbeitslosen herum, die nur darauf warteten, dass sie in ihre Lieblingsbar ein paar Straßen weiter konnten. Die Atmosphäre glich einem Bingo-Abend in einer Methodisten-Kirche.

Roper entdeckte ein paar Gesichter, die er kannte, schnorrte sich Zigaretten, und meinte, dass man sich am späten Abend im Obnox treffen könne. Im Obnox hatte Roper schon mehr als einmal eins auf die Nase bekommen, aber dort spielten sie gute laute Rockmusik und das Publikum war ehrlich und direkt.
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Es war vermutlich auch die einzige Bar, in der er noch anschreiben lassen konnte, denn dort war sein Konto immer ausgeglichen, weil er dem Ladenbesitzer ab und zu einen Gefallen tat.

Wenn er Mädchen aufreißen wollte, blieb er für gewöhnlich in der Nähe der Kontaktbörse. So nannten sie den freien Platz zwischen Kasino und Kentucky Fried Chicken, wo sich im Sommer alles traf, was noch nicht in die Bars hineinkam oder nicht hinein wollte.

Bis auf einen schwarzen Kaffee und zwei Zigaretten hatte Roper noch nichts gegessen, also zog er in das kleine Diner an der Ecke der Hauptstraße, setzte sich an die Theke, und bevor er etwas bestellte, sammelte er das Kleingeld aus den Taschen seiner Jeans zusammen. Wegen des heißen Wetters trug er nur ein T-Shirt und hatte alles aus seiner Jacke in seine Jeanstaschen gesteckt. Während das Geld auf der blank geputzten Theke klimperte, hatte Bruna die Bedienung ein Erbarmen mit ihm und spendierte ihm einen Kaffee und Kuchen.

„Steck das jämmerliche Kleingeld wieder ein“, sagte sie, „komm und bestell den hausgemachten Hamburger bei mir, sobald du wieder einen Job hast.“

Roper grinste. Er war mit Brunas Tochter in einem Jahrgang auf der High School gewesen und sie waren ein paar Mal miteinander ausgegangen. Vielleicht hatte er bei ihr noch immer einen Stein im Brett. Irgendwo hingen noch die Fotos vom Abschlussball im Diner, die Roper in einem schlecht sitzenden aber sehr schicken Anzug zeigten, mit einem rot geschlagenen Gesicht und dick angeschwollenem Auge, das aussah, als habe ihm jemand einen Golfball in die Augenhöhle gedrückt und das Lid darüber gezogen. Was man auf den Fotos nicht sehen konnte, war die verbundene Hand. Beim Rodeo am Wochenende zuvor hatte ihm einer der Stiere beim Roping Ringfinger und den kleinen Finger der rechten Hand abgequetscht und als er vom Pferd gefallen war, hatte ihn ein Huf im Gesicht erwischt. Kein Grund, deshalb den Abschlussball abzusagen.

Bruna verkaufte den Kuchen als hausgemacht, aber jeder wusste, dass sie ihn tiefgefroren vom Großhändler geliefert bekam. Er schmeckte trotzdem hervorragend und Roper kratzte den letzten Krümel vom Teller. Jemand rief seinen Namen durch das Diner und er winkte in die Richtung, erhob sich aber nicht von seinem Platz an der Theke.
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„Komm schon rüber“, rief Charlie. Er saß mit seiner Freundin und einem anderen Pärchen an einem der Vierertische. Sie hatten gerade erst ihre Bestellung aufgegeben, die Getränke standen noch unberührt vor ihnen. Die Mädchen nippten an ihren Diät-Colas, die Jungs hatten sich Bier bestellt. Sie ließen den Abend sachte angehen.

Roper kannte nur Charlie näher, mit den anderen hatte er kaum mehr als ein Wort gewechselt. Sie kamen aus dem Teil der Stadt, der für eine Ansiedlung von Einfamilienhäusern erschlossen worden war. In den Straßen sah jedes Haus und jeder Vorgarten exakt gleich aus, die Bewohner schienen selbst die gleichen Autos zu fahren. Schicke, großzügig geschnittene Häuser, die sich von den Alteingesessenen niemand hätte leisten können. Sollte einer von den Farmern bei seiner Hausbank vorsprechen, um einen Kredit für eines der neuen Häuser zu erfragen, würden sie ihn vermutlich einweisen lassen.

Die Pärchen rutschten auf der U-förmigen Bank enger zusammen, dass Roper sich zu ihnen setzen konnte und Charlie fragte, was er vorhabe.

„Nichts Besonderes“, sagte Roper, „nur nachher ins Obnox.“

„Was ist das?“, fragte eines der Mädchen und ihr Freund, dessen Namen Roper sich nie merken konnte, erklärte, es sei eine Motorradgang-Bar mit Ambiente. Die Mädchen sahen sich kritisch an, und falls sie vorgehabt hatten, eine neue Bar anzutesten, wussten sie jetzt, dass sie das Obnox auslassen würden.

Charlie hatte ebenfalls wie der Rest der Stadt bereits gehört, dass Roper seinen Job verloren hatte und meinte, er könne bei sich im Betrieb anfragen, wenn sie eine Stelle frei hätten. Roper erwiderte nichts. Charlie war weder ein guter Freund noch schuldete er ihm etwas, wozu machte er dann solche Angebote, die er wie einen schlechten Witz in der Luft hängen ließ. Sollte er ehrlich sein und sagen: Du hast bestimmt wieder Scheiße gebaut, Roper, du hattest einen Job doch noch nie länger als ein halbes Jahr.

Sie tranken ein paar Biere zusammen, und bevor es ans Bezahlen ging, tat Roper so, als habe sein Mobile geklingelt und er müsse weg. Er murmelte, er würde Charlie das Geld fürs Bier irgendwann mal zurückgeben und revanchierte sich mit dieser Unehrlichkeit für Charlies Jobangebot.
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Er lief durch die Straßen, wartete darauf, dass die Sonne unterging und es ein wenig kühler wurde, suchte in der kleinen Buchhandlung, die noch geöffnet hatte, nach einem interessanten Roman, aber er fand keinen, den er noch nicht kannte oder der ihn interessiert hätte. Er las gerne die alten Krimis, die sie mit Bogart verfilmt hatten, der Nachteil daran war, dass er sie bereits alle auswendig kannte und es niemanden mehr gab, der diese Art von Büchern noch schreiben konnte.



Im Obnox begann der Abend für gewöhnlich sehr früh. Die ersten Gäste waren schon betrunken und randalierten, noch bevor die Sonne untergegangen war, aber Roper konnte solchen Dingen aus dem Weg gehen. Als er an der Bar saß, den ersten Whisky trank und sich umsah, klingelte sein Mobile und er fummelte es mit der linken Hand aus der Hosentasche.

Es war Billy, einer der Jungs, die er angerufen hatte. Freund wäre ein zu starkes Wort gewesen. Wenn sie sich begegneten, grüßten sie sich wie Freunde, aber das war nicht das Gleiche. Ab und zu rief Billy an und fragte, ob Roper Lust hatte, ein paar Scheinchen zu verdienen. Natürlich hatte er Lust – selbst an einem Freitagabend, wenn er schon etwas getrunken hatte.

Billy hatte einen guten Job, er fuhr Lastwagen von A nach B und ließ dabei mitunter etwas von der Ladung verschwinden, die er dann mit einem anderen Lastwagen aus dem Versteck holen und weitertransportieren musste. Wenn er einen zweiten Mann für diese Aktionen brauchte, rief er meist Roper an. Der konnte zupacken und meckerte nicht, wenn die Kisten schwer waren.

„Meine Karre ist aufgebockt“, sagte er, „du musst mich abholen. Ich warte im Obnox.“ Er grinste den Barkeeper an, während er Billys Erwiderung hörte, der sich über den heruntergekommenen Laden ausließ.

„Noch einen“, sagte er, „wenn das Geld reinrollt, sollte man es nicht am Rollen hindern.“

„Wenn du mit Billy eine seiner Touren machst, solltest du vorher nicht saufen.“

Roper zeigte ihm den Mittelfinger. Meist war es ihm egal, wenn die halbe Stadt wusste, was er tat und was er nicht tat, aber manchmal ging es ihm fürchterlich auf die Nerven. Er wünschte, er wäre in einer großen Stadt, je größer desto besser, wo niemand seinen Namen kannte.
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Wo niemand sagte: Roper, weshalb hast du schon wieder deinen Job verloren? Wie konntest du das deinem Bruder antun? Du wusstest, dass der Hengst noch nicht so weit war. Deinem alten Vater hat es das Herz gebrochen. Weshalb schaltest du nie deinen Verstand ein? Weshalb endet alles bei dir in einer Katastrophe?

In einer Stadt, wo ihn niemand kannte, würde er sich auch die Vorwürfe der letzten Jahre nicht mehr anhören müssen.

Es dauerte nur zwei Drinks, bis Billy ihn mit seinem Lastwagen abholte. Er ließ Roper einsteigen und sagte, es würde schnell gehen, die Kisten seien ganz in der Nähe gelagert. Während der ganzen Fahrt quatschte Billy, rauchte selbst gedrehte Zigaretten und lachte darüber, als er erzählte, wie einfach es sei, seinen Boss zu bescheißen.

Roper fand, dass er es in Ordnung war, jemanden zu bescheißen, der mehr Geld hatte als man selbst, wenn man sich damit über die Runden brachte, aber er fand es ziemlich schräg, dass Billy sich dabei wie ein Held fühlte.

Die ganze Aktion dauerte kaum eine Stunde, Billy sagte, es seien Zigaretten, die sie in den Kisten transportierten und die er an einen seiner treuen Kunden mit viel Gewinn verscheuerte. Er gab Roper für seine Arbeit zwanzig bucks und fragte, ob er mit in die nächste Stadt wolle, um richtig einen drauf zu machen.

„Setz mich wieder am Obnox ab“, erwiderte Roper, „jedenfalls danke für die Einladung.“

Er hatte keine Lust, auf Billy angewiesen zu sein, wenn er volltrunken nach Hause wollte. Und Billy war Okay, wenn es um schnell verdientes Geld ging, aber er war niemand, mit dem Roper trinken wollte.



Das Obnox war angefüllt mit den Freitagabend Besuchern, die bereits vor der Tür neben ihren Wagen und Motorrädern standen und das Flaschenbier an den Hals setzten, weil die Luft oder die Musik in der Bar zu schlecht waren.

Roper drückte sich durch die Menge bis an die Theke, orderte sich den nächsten Drink. Das Mädchen fiel ihm sofort auf. Sie hatte sich einen Platz an der Theke ergattert, saß mit übergeschlagenen Beinen auf dem Hocker und trank Flaschenbier. Ihre Beine und ihr Hintern fielen ihm ins Auge und er bewegte sich ein Stück zur Seite, um die volle Rückseite ihres Hinterns weiter begutachten zu können.
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Er war kräftig. So kräftig, dass er ein Stück über den Hocker hinausragte und er machte einen knackigen Eindruck. Roper überlegte eine betrunkene Sekunde lang, sie anzusprechen, dabei wie aus Versehen seine Hand auf den Hintern zu legen und versuchte sich auszumalen, wie sie reagieren würde. Sie war dunkelhaarig, mindestens so groß wie er, trug kurz geschnittene Jeans und ein Tank-Shirt, und bei der Art, wie sie dort saß und wie sie ihr Bier trank, rechnete er sich eine neunzig-prozentige Wahrscheinlichkeit aus, dass sie ihm für diese Anmache nicht ins Gesicht schlagen würde. Aber er konnte sich nicht sicher sein. Manche Mädchen zogen sich so an und mochten es trotzdem nicht, wenn man sie anmachte.

Sein Mobile klingelte, er fühlte nur den Vibrationsalarm und entdeckte, dass er zwei Anrufe in Abwesenheit hatte. Sein Bruder hatte versucht, ihn zu erreichen. Er überlegte, schaltete das Mobile aus und steckte es wieder weg. Selbst, wenn das Haus brannte, interessierte es ihn im Moment herzlich wenig.

Als er wieder aufsah, hatte sich das dunkelhaarige Mädchen auf dem Hocker umgedreht und sah ihn an.

Ich hätte doch den Anfang machen sollen, dachte er, grinste breit und beugte sich zu ihr hinüber. Für eine normale Unterhaltung war es im Obnox zu laut.

„Netter Hintern“, rief er.

Sie rutschte vom Hocker, tat so, als würde sie ihn von oben bis unten mustern und machte eine Kopfbewegung Richtung Tür.

Auf dem Weg nach draußen wurden sie von der sich bewegenden unruhigen Menschenmasse getrennt, Roper verlor sie kurz aus den Augen, als er ihr folgte, aber eine Sekunde später sah er diesen Hintern wieder in den knappen Shorts, und vor der Tür wirbelte sie zu ihm herum, schlang ihre nackten Arme um seinen Brustkorb und drückte sich an ihn. Sie roch nach Bier und Parfum, kein billiges Parfum und nicht zu viel davon, nur ein Hauch von teurem Parfum auf ihrer Haut.

Es war früher Abend, irgendwo am Horizont warfen die letzten Sonnenstrahlen rotes Licht über das flache Land. In dem diffusen Licht standen sie einen Moment da, die Luft war noch immer heiß und trocken.

In den Häusern der besseren Wohngegend würden die Klimaanlagen weitere vierundzwanzig Stunden laufen, die Bewohner der einfachen Farmhäuser würden zum Einschlafen ein paar Biere auf der Veranda trinken und dann versuchen, trotz der Hitze zu schlafen.
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„Alice“, sagte sie und lächelte, „du siehst jemandem verdammt ähnlich.“

„Hi Alice“, sagte Roper, „und wem sehe ich ähnlich?“

„Dem netten Kerl, mit dem ich den Abend verbringen werde.“

„Hmh“, machte Roper und legte den Kopf zur Seite. Der Name passte nicht zu ihr. Sie sah nicht aus wie eine Alice. Sie sah nicht aus, als käme sie gerade aus dem Wunderland.

Er wünschte, er hätte seinen Wagen zurechtgemacht und könnte mit ihr herumfahren, denn das würde ein wenig mehr Eindruck machen.

„Ich bin Joe“, sagte er, „aber alle nennen mich Roper.“



Sie kauften zwei Flaschen Whisky und wanderten langsam durch die leeren Straßen, vorbei an den geschlossenen Läden und Farmmaschinenhändlern, fanden schließlich einen Platz, wo sie sich ungestört setzen und trinken konnten.

Im Obnox hatte Alice zwei Whiskygläser mitgehen lassen, die sie mit dem Saum ihres Shirts auswischte und ihm entgegenstreckte, damit er die erste Runde einschenken konnte.

„Du siehst nicht aus wie eine Alice.“

Sie hatte im Schneidersitz neben ihm Platz genommen und ihre Leinenschuhe ausgezogen. Ihre Fußnägel waren dunkelrot lackiert.

„Es tut mir leid, wenn ich keine Ahnung habe, wie eine Alice auszusehen hat. Wenn du willst, kannst du mir einen anderen Namen geben.“

Sie sprach ihren Namen aus, als könne sie ihn nicht leiden und er dachte, er würde einen guten neuen Namen für sie finden müssen.

„Wieso nennen sie dich Roper?“

„Mein Bruder und ich waren bei den Rodeos, seit wir Kinder waren. Dad hat Rinder und Pferde gezüchtet und ist mit uns ständig unterwegs gewesen. Seit er tot ist, hat mein Bruder die Farm übernommen und sie runtergewirtschaftet. Erst hat er die Pferde verkauft, dann die Rinder und das Farmland. Hat alles für einen sicheren Job hergegeben, nur um seinen Arsch bei einer Versicherung unterzubringen.“

„Ich würde mich lieber erschießen, als in so einem öden Job zu enden“, sagte Alice. Sie zündete sich eine Zigarette an und ließ den Qualm langsam aus ihrem Mund in den Himmel steigen.
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Es war so windstill, dass es aussah, als taste sich der Zigarettenqualm an ihrem Gesicht vorbei.

„Ich werde Tänzerin“, sagte sie, „reich und berühmt wäre Okay, ist aber vollkommen egal, wenn ich nur tanzen kann.“

„Okay, Tallula, würdest du für mich tanzen?“

Sie lachte über den Namen Tallula, aber sie weigerte sich, für ihn zu tanzen. Ohne Musik ginge das nicht, sagte sie. Roper überlegte, mit ihr in einen Musikschuppen zu fahren, wo sie tanzen könnten, aber er wollte sie nicht fragen, ob sie einen Wagen hatte.



Alice erzählte, dass sie mit ihren Eltern vor einem halben Jahr hergezogen war und noch immer keine Freunde gefunden hatte. Bekannte hatte sie eine Menge, aber ihr fehlte eine richtige Freundin, der sie alles anvertrauen konnte.

„Ich sitze stundenlang auf der Terrasse und telefoniere mit meinen alten Freundinnen“, sagte sie, „ich vermisse sie alle, aber das Leben geht irgendwie weiter, ob man es will oder nicht.“

Roper versuchte sich ihr Haus und ihr Zimmer vorzustellen, welche Bilder sie wohl an den Wänden hängen hatte und ob sie sich noch nicht von ihren Stofftieren hatte trennen können. Seine Mutter hatte die eingeschworene Riege von aufrecht sitzenden Bären noch auf ihrer Tagesdecke sitzen gehabt, als sie längst verheiratet und Mutter gewesen war. Sein Bruder und er hatten mit den Plüschbären nie spielen dürfen. Insgeheim hatte Roper sich mehr als einmal vorgestellt, wie sie wohl reagieren würde, wenn er die Bären nahm und aus dem Fenster warf. Oder Feuerzeugbenzin drüber sprühte und sie ansteckte. Diese Frage hatte er seinem Bruder gestellt und der hatte ihm dafür eine solche Ohrfeige verpasst, dass er in die Ecke geflogen war. Am nächsten Tag hatte Roper die Flasche Feuerzeugbenzin aus dem Küchenregal geholt und war mit der Air-Fix-Sammlung seines Bruders in den Garten gegangen.



„Weshalb sind deine Eltern hergezogen?“ Er wollte eigentlich fragen, wie lange sie schon in der Stadt war, weil er sie noch nie gesehen hatte an einem Freitag oder Samstagabend, oder unter der Woche beim Einkaufen. In einer Kleinstadt lief man sich ständig über den Weg. Aber im letzten Moment hatte er die Frage geändert, denn sie wäre ihr wie „weshalb habe ich ein so hübsches Kind wie dich hier noch nie gesehen?“ vorgekommen.
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Und … er hatte sie im Obnox kennengelernt und sie sah aus, als würde sie noch aufs College gehen. Welcher Vater erlaubte seiner Tochter, ins Obnox zu gehen?

„Dad war der Big Boss. Hatte seine eigene Firma und war deshalb nie zu Hause. Immer erfolgreich und immer unterwegs. Drei Mobiles, Laptop, Videokonferenzen am Flughafen und ein anständiger Herzinfarkt. Mister Erfolgreich bekam den Vorschlaghammer vor die Brust und wurde zu Mister Familienvater. Er hat die Firma verkauft und hat mich und Mum in ein neues Haus gesteckt, was er gekauft hat.“ Sie schnickte die Kippe von sich, die in dem dürren Gras landete. Ohne darüber nachzudenken, stand Roper auf und trat die glimmende Kippe mit der Sohle seiner Arbeitsstiefel aus. Trinken und rauchen war eine Sache, einen kleinen Steppenbrand auszulösen eine andere.

„Plötzlich ist er den ganzen Tag zu Hause. Er könnte wieder arbeiten gehen, irgendetwas mit sich anfangen, aber er geht lieber Mum auf den Geist. Und er mischt sich in mein Leben ein. Was ich esse, was ich anziehe, welche Freunde ich treffe, welche Filme ich mir ansehe. Seit Jahren tanze ich, ich nehme klassischen Ballettunterricht, seit ich vier bin. Hast du eine Ahnung, wie viele Tanzschulen es in dieser Gegend gibt?“

Roper grinste breit und machte eine entschuldigende Geste. Darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht, er war nie in der Notlage gewesen, eine Tanzschule finden zu müssen, um seinen Tag zu retten.

„Im ganzen Umkreis gibt es eine Einzige. Das allein grenzt die Auswahl ein und darüber hätte ich mich nicht beschwert, aber die einzigen Kurse, die dort angeboten werden, sind Square Dance und Square Dance für Fortgeschrittene.“

„Du versuchst deinem alten Herrn eins auszuwischen, indem du im Obnox trinken gehst?“

„Nein“, sagte sie, „ich war auf der Suche.“

Als er nach der Flasche griff, um einen weiteren Schluck zu nehmen, machte Alice „Oh mein Gott“ und griff nach seiner rechten Hand. Sie wollte wissen, wie er die beiden Finger verloren hatte und er erzählte von dem Seil, das ihm die Hand beim Roping am Sattelhorn eingequetscht hatte.

„Deshalb nennen sie dich alle Roper?“



Sie saßen lange in der Dunkelheit zusammen, versuchten die Sommerhitze wegzutrinken und nach der ersten beiläufigen Berührung ihrer Hände kam schnell der erste Kuss dazu.
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„Hast du einen Wagen?“, flüsterte Alice.

„Zu Hause. Wenn ich trinken will, nehme ich nicht den Wagen.“ Er fand, dass es sich als Entschuldigung richtig gut anhörte.

„Tallula hat nichts gegen einen kleinen Spaziergang. Können wir deinen Wagen holen und einfach losfahren?“ Sie sagte es mit einem Lächeln auf dem Gesicht und in ihrer Stimme, und trotzdem hatte Roper das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Als habe sie ein bestimmtes Ziel und meinte damit nicht die nächste Discothek.



Sie nahmen die Flaschen, jeder eine in die äußere Hand, gingen nebeneinander her zur Hauptstraße, die Finger der inneren Hände ineinander verschränkt. Es fühlte sich gut an, es war etwas anderes als das, was Roper sonst in einer heißen Freitagnacht tat. Manchmal betrank er sich nur, manchmal endete er mit einem der Mädchen im Bett, die kein Interesse hatten, ihn jemals wieder anzurufen oder ihn wiederzusehen. Manchmal erkannte er sie einen Tag später selbst nicht wieder.

Er mochte Alice. Sie hatte etwas Besonderes an sich.

Während sie die unbeleuchtete Landstraße in Richtung Farm entlangschlenderten, wurden sie von einigen hupenden Wagen überholt, der letzte hielt neben ihnen und der Fahrer fragte, ob er sie mitnehmen solle. Roper überließ Alice die Entscheidung und sie bedankte sich beim Fahrer und zog Roper weiter. Sie wollte mit ihm allein sein, sagte sie, und es machte ihr nichts aus, ein wenig zu Fuß zu gehen.

„Ihr werdet euch verlaufen“, rief der Fahrer und winkte durch das offene Fenster.

„Ich laufe die Strecke ständig“, erwiderte Roper, „und der Mond ist hell genug. Wir werden die Straße schon nicht aus den Augen verlieren.“

Darüber machte er sich keine Gedanken, er war bereits einen Schritt weiter. Sein Wagen stand zwar neben der Garage, allerdings war er ziemlich nutzlos ohne die Bereifung. Alice würde sich vermutlich weigern, seine Tallula zu sein, wenn sie sich in den Wagen setzte und sie nirgends hinfahren konnten. Er könnte seinen Bruder um den Dodge Dakota bitten. Die halbe Nacht würde verstreichen, während Allan ihn erst zusammenfaltete, weil er ihn so spät aus dem Bett holte und ihm dann einen Vortrag darüber hielt, weshalb er ihm auf keinen Fall seinen Wagen leihen würde.
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„Wir müssen leise sein, wenn wir auf der Farm sind“, sagte Roper, „meine Karre ist im Moment nicht einsatzbereit, deshalb werde ich ins Haus schleichen und die Autoschlüssel holen. Du wartest in der Garage.“

„Damit ich Mummy nicht aufwecke?“ Sie kicherte und stieß Roper seitlich mit der Hüfte an, was sie selbst aus dem Gleichgewicht und ins Torkeln brachte.

„Keine Mummy“, sagte Roper, zog sie zu sich zurück und drückte sie an sich. Sie wehrte sich nicht, presste sich an ihn und tanzte dann auf Zehenspitzen von ihm weg, als er versuchte sie festzuhalten.

„Daddy?“, rief sie, tanzte mit ausgebreiteten Armen auf der Mitte der Straße. Sie bewegte sich federleicht und verschwand für Augenblicke in der Dunkelheit, wenn sich eine Wolke vor den Mond schob.

„Beide seit Jahren auf dem Friedhof“, sagte Roper, „ich lebe bei meinem Bruder auf unserer Farm. Er schläft für gewöhnlich wie ein Stein, aber er wird aufwachen, wenn der blöde Köter bellt.“

Alice war mitten auf der Straße stehengeblieben und starrte zu ihm hinüber. Ihm war nicht klar, was er gesagt haben könnte, aber er bedauerte es, dass sie mit dem Tanzen aufgehört hatte.

„Ich werde leise sein“, sagte sie.



Alice wartete wie versprochen in der Garage, während Roper sich ins Haus schlich. Für den Notfall hatten sie ihre Mobile-Nummern ausgetauscht und beide auf Vibrationsalarm gestellt. So konnten sie sich gegenseitig warnen, wenn etwas an ihrem Plan schief gehen sollte. Er flüsterte mit dem alten Schäferhund, der für gewöhnlich im Flur neben dem Eingang schlief und ihn immer mit freundlicher Distanz behandelte, wie einen Nachbarn. Selbst für den Schäferhund, den Dana mitgebracht hatte, gehörte er nicht wirklich zur Familie.

Roper tastete sich durch den dunklen Flur, öffnete sehr langsam die knarzende Tür zum Wohnzimmer und drückte sich durch den schmalen Spalt. Er wusste, dass sie sehr laut quietschen und das ganze Haus aufwecken würde, wenn er sie bis zur Wand aufschob. Allan behauptete immer wieder, er stecke jeden Penny in das marode Haus und trotzdem würde es irgendwann einfach in sich zusammenfallen.
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Roper war der selben Meinung, aber es kümmerte ihn nicht. Das Haus war angefüllt mit Erinnerungen, die für ihn nichts wert waren.

Die Schlüssel für Allans Wagen lagen immer in einer kleinen Holzschale auf dem Sideboard, direkt neben der Schale mit Äpfeln, die Dana zur Dekoration herumliegen ließ.

Allans Frau legte die Äpfel nur zur Deko in diese Schale, sie erlaubte niemandem, sich einen Apfel zu nehmen, um ihn zu essen. Manchmal nahm Roper sich einfach einen und biss ein Stück ab, legte ihn dann mit der Bissstelle nach unten zurück in die Schale, nur um sie zu ärgern. Er verstand überhaupt nicht, weshalb sie mit Lebensmitteln Innendekoration betrieb, wo der Rest des Hauses langsam auseinanderfiel und der Putz von den Wänden blätterte.

Ihre übertriebene Sorgfalt hatte einen Vorteil, er fand Allans Autoschlüssel auch im Dunkeln und musste nicht lange danach suchen. Die Schlüssel lagen immer an ihrem Platz. Er schlich sich wieder aus dem Haus, stieg vorsichtig über den Hund hinweg, der sich vor die Tür gelegt hatte, als wolle er ihn am Verlassen des Hauses hindern. Roper flüsterte ihm zu, er solle ja die Klappe halten, es sei schon alles in Ordnung.

Allan würde es vermutlich überhaupt nicht mitbekommen, dass er sich den Wagen für eine nächtliche Spritztour nahm, und selbst wenn ... eine halbherzige Standpauke war alles, was Allan zustande brachte.



Er freute sich darauf, mit Tallula durch die Gegend zu fahren, selbst, wenn sie nur in Allans Wagen saßen, irgendwo parkten und tranken, würde es ein klasse Abend werden.

Roper überlegte, wie er unbemerkt den Wagen vom Haus wegbekommen sollte, spielte mit den Schlüsseln in seiner Hand, während er vom Haus weglief. Alice saß auf der Motorhaube, die Beine überkreuzt und hatte eine Zigarette zwischen den Lippen stecken. Sie war nicht angezündet.

„Setz dich hinter das Steuer“, sagte Roper leise, „du lenkst, ich schiebe.“

Sie fragte nicht, weshalb, streckte ihm nur den nach oben gerichteten Daumen entgegen und rutschte von der Motorhaube. Die ersten Meter kam der Dakota kaum von der Stelle, aber hinter der Garage fiel das Gelände etwas ab und er rollte den Weg zur Straße fast von allein.
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Er pfiff durch die Zähne, Alice bremste ab und er öffnete die knarrende Tür auf der Fahrerseite.

„Rutsch rüber“, sagte er. Alice verwandelte sich in Tallula, sie hob mit beiden Händen ihr Haar in den Nacken und sah ihn mit halb geschlossenen Augen an. Roper grinste darüber, dass sie versuchte, verführerisch auszusehen.

„Kann ich den Wagen fahren?“, fragte sie.

„Ich fahre und du sagst, wohin“, erwiderte Roper. Weil er es in einem ernsten Ton sagte, der offensichtlich keinen Widerspruch erlaubte, gehorchte sie, rutschte umständlich auf den Beifahrersitz (wobei sie ihm ihr süßes Hinterteil demonstrativ entgegenstreckte) und legte die Füße auf das Armaturenbrett. Der Dakota war sehr geräumig und gepflegt, seit er nicht mehr als Farmwagen benutzt wurde, aber er roch noch immer nach nassem Hund und chemischem Dünger.

Auf der Straße startete Roper den Motor und fragte Alice, wo sie hinwolle.

„Kannst du mich einfach von hier wegbringen?“, fragte sie.



Es war Nacht, die Straßen waren frei, aber sie kamen nicht weit. Obwohl sie noch Whiskeyvorrat hatten, fuhren sie am Obnox vorbei und frischten den Vorrat auf. Während Roper sich zur Theke durchboxte, das Geld auf den Tresen legte und die Flaschen vorsichtig wie Wickelkinder nach draußen zum Dodge Dakota trug, war Alice verschwunden. Noch vor ein paar Minuten hatte sie auf der Ladefläche getanzt, weil die Warterei beim Herumsitzen zu langweilig war, als er zurückkam, war sie weg.

Roper umrundete den Wagen, den er am Straßenrand geparkt hatte, sah sich um. Als er die Flaschen durch das offene Fenster auf dem Fahrersitz abstellte, das Wechselgeld achtlos daneben warf, entdeckte er Alice, die im Fußraum hockte und ihn ängstlich ansah. Er schob die Flaschen ein Stück über das abgewetzte Polster, setzte sich und drehte den Zündschlüssel. Als sie wieder auf der Straße waren, kletterte Alice stumm auf den Sitz zurück.

„Was war los?”, fragte Roper.

“Mein Dad weiß für gewöhnlich, wo er mich suchen muss. Ich hab seinen Wagen gesehen und bin auf Tauchstation gegangen. Wenn er mich entdeckt hätte, hätte er mich nach Hause geschleppt und eingesperrt.“

Er hatte das Gefühl, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagte, aber er stellte keine Fragen mehr.
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Er war nur froh, dass er ihren alten Daddy nicht kannte; vermutlich war er entweder im Obnox oder auf dem Parkplatz an ihm vorbeigelaufen.

„Was hältst du von einer kleinen Abkühlung?“

Es gab nicht viele Pools in der Umgebung, denn die Farmer benutzten das Wasser, um ihr Vieh damit zu tränken und ihre Felder grün zu halten – aber Roper wusste, dass es in den neuen Siedlungen am Stadtrand einige gab. Und zum Glück kannte er auch die Häuser, die nicht von lästigen Zäunen umgeben waren.

Wäre ein echter Witz, wenn eines davon das Haus ihrer Eltern ist, dachte er, und ich sie auf dem direkten Weg nach Hause fahre.



Roper wunderte sich, dass keine der anderen Pärchen auf die Idee gekommen waren, dort schwimmen zu gehen, aber vielleicht hatten sie andere Pools in der Umgebung gefunden, oder sie waren bis zu dem See gefahren, der ein paar Meilen außerhalb der Stadt lag.

Der Pool war sehr flach, aber lang genug, um kräftige Bahnen schwimmen zu können, das Wasser angenehm kühl. In der Dunkelheit konnten sie das Haus nur als Umriss vor den Wolken erkennen, die über den tintigen Himmel zogen, dort war alles ruhig. Alice war die Erste, die sich ausgezogen und ins Wasser gesprungen war, aber sie hatte es auch einfacher, aus ihrem Top und der Shorts zu klettern. Roper konnte erahnen, dass sie nackt ins Wasser gesprungen war, und zog gleich. Es erschien sehr vernünftig, schließlich wollte er sich nicht mit nassen Unterhosen zurück in den Dakota setzen, egal, wie heiß die Nacht noch immer war.

Einmal im Wasser, tauchte Roper unter, schwamm in die Mitte des Pools und kam wieder an die Oberfläche. In der Dunkelheit konnte er Alice nicht sehen, aber er hörte das verräterische Plantschen auf seiner linken Seite. Als er auf sie zuhielt, kicherte sie und platschte ihm einen Schwung Wasser ins Gesicht.

Roper versuchte sie unter Wasser zu greifen, sie versuchte von ihm wegzuschwimmen und entwischte ihm knapp. Hätte sie Kleidung getragen, hätte er sie daran festhalten können, aber an der glatten Haut waren seine Hände abgeglitten. Weil er nicht zu fest zupacken wollte, konnte sie sich auch beim nächsten Mal freischwimmen, dann aber tauchte er unter und bekam sie an einem Knöchel zu packen.
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Alice strampelte unter Wasser, ging kreischend unter und gemeinsam tauchten sie wieder auf, hielten sich aneinander fest, etwas außer Atem, horchten darauf, ob sich im Haus etwas rührte, und plötzlich wagten sie sich beide nicht, den nächsten Schritt zu tun. Es war Alice, die den Kuss begann und sich an ihn drückte, ihm dann zuflüsterte, sie habe sich gerade wieder in Tallula verwandelt.

„Woran merkst du das?“, fragte Roper. Er konnte in dem flachen Pool stehen, das Wasser schwappte gerade bis über seine Schultern und er hielt Tallula mit beiden Armen fest an sich gedrückt. Statt einer Antwort schlang sie ihre Beine um ihn, überkreuzte sie hinter seinem Rücken.

„Was pocht denn da?“, flüsterte sie, griff mit ihrer rechten Hand nach unten und suchte gleichzeitig in Ropers Gesichtsausdruck nach einer Reaktion.

Roper befürchtete zunächst, sie würde ihn nicht ranlassen, sie würde flüstern, dass sie es wolle, aber es ginge ihr zu schnell. Aber Tallula klammerte sich an ihn, hauchte ein tonloses „Oh ja“ in sein Ohr, was ihn so scharf machte, dass er alles um sich herum vergaß. Er schob sie in die perfekte Position, drückte sie gegen den Rand des Pools, griff nach ihren Oberschenkeln, um sie in dieser Stellung zu halten. Als er in sie eindrang, gab sie ein kleines angenehm erstauntes Geräusch von sich, was in haltloses Keuchen überging. Hätten sie sich nicht einen privaten Pool für diesen Quickie ausgesucht, wären sie beide nicht angetrunken gewesen, hätte Roper versucht, sich in seiner Begeisterung zurückzuhalten, aber in dieser schwindeligen Situation steuerte er gradlinig auf einen schnellen und heftigen Orgasmus zu. Sie biss ihm in die Schulter, als sie kam, legte ihre Arme eng um seinen Hals und flüsterte: „Halt mich. Das ist so schön, lass mich nicht mehr los.“

Roper wartete, bis sich sein rasendes Herz wieder beruhigt hatte, löste sich von ihr und griff nach der Flasche, die am Rand des Pools abgestellt war.

Romantisch ist was anderes, dachte er, aber es spricht nichts dagegen, es zu wiederholen.



Die Füße platschend im Wasser, die feuchten Oberkörper an der warmen Luft, teilten sie sich den Rest aus der Whiskeyflasche, hockten am seichten Rand des Pools, küssten sich zwischen den Schlucken.
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Als die Flasche leer war, sagte Roper, die volle läge noch im Dakota.

Sie kicherten darüber, wie schwer es war, feucht in die trockenen Klamotten zu steigen und Tallula meinte, sie habe irgendetwas in ihrem Top stecken, was sie im Rücken kratzte. Roper sah nach und fand einen kleinen Käfer, der sich im Stoff verfangen hatte. Er gab ihn ihr in die Handfläche und Alice betrachtete ihn im Schein der Innenbeleuchtung.

„Armer kleiner Kerl“, sagte sie, hielt ihre Hand aus dem Fenster und blies ihn in die Nacht zurück.

Roper war aufgekratzt, drehte das Radio laut auf und trank zu viel vom Whiskey, obwohl er wusste, dass er irgendwann einen bösen Unfall bauen würde, wenn er damit nicht aufhörte, aber er war zu gut gelaunt, um der warnenden Stimme in seinem Hinterkopf Beachtung zu schenken.

Tallula sang zu einem der Songs, sie hatte eine helle und klare Singstimme, wenn sie auch einige Töne nicht traf, und Roper darüber grinste. Sie war hübsch, aufreizend, aber nicht perfekt. Sie konnte nicht singen und sie hatte kleine runde Ohrmuscheln, die ein wenig abstanden. Er bemerkte es, wie sie versuchte, ihre Ohren wieder mit dem langen Haar zu bedecken, was nur langsam trocknete.

Sie parkten den Dakota auf einem Feldweg unweit der Landstraße, schalteten das Licht aus und saßen für eine Weile einfach im Dunkeln.

„Ich will weg“, sagte Tallula, „hilfst du mir dabei? Ich gehe ein, wenn ich hier bleibe. Bei meinen Eltern, in diesem Haus. Es bringt mich um.“

„Du kannst einfach in den Bus steigen und wegfahren.“

„Glaubst du, das habe ich nicht schon versucht? Mein Dad findet mich und bringt mich zurück. Er bezahlt die besten PIs, um mich überall zu suchen. Das nächste Mal werden wir vermutlich an einen Ort ziehen, der keine Straßen mehr hat, nur Häuser und eine Start-und Landebahn. Wir sind nicht umsonst hergezogen, Dads Krankheit war nur eine großzügige Ausrede.“

Ich würde dich überall hinbringen, dachte Roper, für dich würde ich fast alles tun, glaube ich.

Für einen Moment war er in Gedanken versunken und Tallula dachte, ihm wäre ihr Geständnis peinlich. Sie drehte den Verschluss von der Whiskeyflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Sie verschluckte sich und hustete und Roper fragte, ob sie in Ordnung sei.
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“Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?”, fragte sie. Roper schaltete die Innenbeleuchtung des Dakotas ein und sah sie an, noch immer nicht sicher, ob sie in Ordnung war. Im Augenwinkel entdeckte er erst jetzt, dass Allans altes Jagdgewehr in der Halterung steckte. Das war seltsam, weil er es außerhalb der Jagdsaison niemals im Wagen ließ.

„Jedes Mal“, sagte er spontan. Kaum hatte er es ausgesprochen, kam ihm der Gedanke, sie hätte etwas anderes mit der Frage beabsichtigt, aber er schwieg, statt sich in Erklärungen einzuwickeln.

„Ich hab tierischen Hunger“, sagte sie, „können wir irgendwo was zu essen holen?“

„Burger?“, fragte Roper, „in der Nähe ist ein Schnellimbiss.“

Tallula nickte.

„Bist du wirklich in Ordnung?“

„Bringst du mich aus der Stadt?“

„Ja, sicher“, sagte Roper, „alles, was du willst.“

Er holte Burger und Pommes frites. Die Küche in dem Schnellimbiss war nicht die Beste, aber Roper kannte den Typen hinter der Theke. Sie waren ein Jahrgang und hatten gemeinsam die Schule besucht. Obwohl sie kaum eine Meile voneinander weg wohnten und sie als Kinder gute Freunde gewesen waren, hatten sie sich vollkommen aus den Augen verloren. Nur, wenn Roper mal wieder in den Schnellimbiss kam, um einen Burger zu essen oder sich einen Kaffee für Unterwegs zu holen, sprachen sie miteinander und behaupteten, sie würden fürs Wochenende anrufen, um sich mal wieder zu treffen. Sie meldeten sich beide nicht.

Daniel rief Ropers Bestellung nach hinten in die Küche und fragte, mit wem er unterwegs sei. Er konnte durch die Frontscheibe des Imbisses den Dakota sehen, aber weil es so dunkel war, erkannte er die Person auf dem Beifahrersitz nicht.

„Ich weiß noch nicht“, sagte Roper und drehte sich zur Tür herum, „wir sind uns gerade erst begegnet. Ich fürchte, ich bin nicht ganz ihre Kragenweite.“

„Als wenn es darauf ankommt“, erwiderte Daniel und reichte ihm grinsend die Papiertüte, an deren Unterseite bereits das Grillfett durchschlug.

Auf dem Weg zum Dakota dachte er darüber nach, wo Tallulas Vater sie überall suchen könnte und ob die Gäste und der Barkeeper im Obnox ihm Tipps gegeben hatten.
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Mehr als einer der Gäste könnte gesehen haben, dass sie das Obnox gemeinsam verlassen hatten.

Quatsch, dachte er, wir sind in Allans Dakota unterwegs, da denkt niemand an mich.

Sie fuhren eine halbe Meile, stellten den wieder Dakota ab und aßen auf der Ladefläche. Tallula schaffte nur den halben Burger und behauptete, sie habe noch nie so etwas Ekeliges gegessen und sie wolle überhaupt nicht wissen, was da in dem Fleisch alles drin sei.

Roper nahm ihre Hand und biss ein großes Stück von ihrem Burger ab.

„Der schmeckt wie immer“, sagte er, „da ist nichts drin außer Kuh.“ Er schmatzte und sagte: „Allerdings kann ich nicht sagen, ob der Rest nicht aus dem Mülleimer zusammengesammelt ist.“

„Aber du isst es trotzdem?“

„Naja, solange das Fleisch in Ordnung ist und die genug Senf drauf gemacht haben …“ Er hielt noch immer ihre Hand fest und führte sie zu ihrem Mund zurück, aber sie weigerte sich, einen weiteren Bissen zu nehmen.

„Das ist ekelig“, kicherte sie und drückte seine Hand weg, „ich nehm die restlichen Pommes.“

Sie hatte etwas an sich, was er wirklich mochte. Die Mädchen, die er sonst aufgabelte und mit denen etwas lief, waren nett gewesen, aber sie hatten alle immer etwas gemeinsam gehabt. Spätestens nach zwei Stunden hatte das Generve angefangen bei ihnen, erst recht, wenn er den Fehler gemacht hatte, direkt Sex mit ihnen zu haben, anstatt einen einigermaßen netten Abend mit Sex ausklingen zu lassen.

Am Besten war da noch, mit ihr nach Hause zu fahren, sich und seinem kleinen Freund den Spaß zu gönnen und dann zu verschwinden. Manchmal hinterließ er eine Nachricht mit seiner Nummer, aber meist machte er nicht einmal das. Mädchen aus dieser Gegend, die sich einladen ließen, erwarteten jedes Mal, dass man sich Mühe gab und Geld für sie ausgab, selbst, wenn sie wussten, dass es ein One-Night-Stand blieb. Und sie alle nahmen alle an der großen Zicken-Olympiade teil, wenn sie nicht das bekamen, was sie erwarteten. Keine von ihnen hätte sich mit einem Burger auf der Ladefläche eines Pick-ups zufriedengegeben. Tallula war ganz anders.

Vielleicht nur, weil sie alles tun wird, um von hier wegzukommen, dachte er, aber vielleicht ist es auch, weil sie mich mag, obwohl sie Jungs von ihrem Kaliber haben könnte.
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Sie warfen die Reste und Verpackungen über Bord. Tallula sagte mit leiser Stimme: „Lass uns noch hier bleiben, bitte. Sieh dir diesen Sternenhimmel an.“

Sie legte sich auf den Rücken und schob die Hände unter ihren Kopf, starrte nach oben in den Himmel. Roper legte sich neben sie und tat so, als würde er ebenfalls die Sterne betrachten, um ihr den Gefallen zu tun, heimlich sah er immer wieder zu ihr hinüber, obwohl sie in dem Dämmerlicht kaum zu sehen war. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte, als sie plötzlich fragte: „Was ist passiert zwischen dir und deinem Bruder?“

„Hmh?“, machte er.

„Ich könnte so tun, als hätte ich es nicht bemerkt, dass du nicht das beste Verhältnis zu deinem Bruder hast. Ich meine, er hat das Haus und du lebst über der Garage, und du musst dich reinschleichen und die Autoschlüssel klauen. Das ist nicht das, was ich ein gutes Verhältnis nenne.“

„Wir konnten uns noch nie wirklich ausstehen“, sagte Roper, „aber wir sind Brüder, also haben wir uns zusammengerissen. Dad hat immer darauf bestanden, dass wir als Team arbeiten auf den Rodeos. Wir waren immer ganz vorn bei den Wettbewerben, aber dann ist etwas passiert.“



Es wäre sehr einfach gewesen, sich etwas auszudenken und ihr eine Lüge aufzutischen, denn er hatte diese Geschichte noch nie jemandem freiwillig erzählt. Die Sache war schon einige Jahre her, aber er schämte sich noch immer dafür.

Er erzählte Tallula, was er getan hatte und weshalb das ohnehin schlechte Verhältnis zu seinem Bruder nie wieder besser werden würde. Sein Bruder hatte ein vielversprechendes Hengstfohlen geschenkt bekommen. Roper war deswegen nicht eifersüchtig gewesen, am Anfang jedenfalls nicht, denn er hatte zwei eigene gute Turnierpferde, die sein Vater ihm zur Verfügung gestellt hatte. Sie gehörten nicht ihm, aber er konnte mit ihnen trainieren und zu den Rodeos fahren.

Ihn störte nur jedes Mal, dass sein Vater und sein älterer Bruder ihm in alles reinredeten. Er konnte es ihnen nie recht machen. Er war sechzehn Jahre alt und nahm bereits ein paar Jahre an den Turnieren seiner Altersklasse teil, und seiner Meinung nach war er sowieso besser als sein Bruder. Als Allan den Junghengst Duke geschenkt bekam und mit ansah, wie sein Bruder sich darum kümmerte, als gäbe es nichts anders mehr auf der Welt, meldete sich der erste kleine Stachel der Eifersucht.
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Es wurde stetig schlimmer, als er sich eingestehen musste, dass Duke eines der besten Pferde war, die Dad jemals gezüchtet hatte und dass ausgerechnet Allan ihn bekommen hatte. Dad hätte ihn behalten oder für viel Geld verkaufen sollen, das war Ropers Meinung, die aber niemand hören wollte. Wenn er sich in der Richtung äußerte, behaupteten alle, er sei nur eifersüchtig und er solle sich endlich eingestehen, dass Allan der bessere Reiter war und mehr Verantwortungsbewusstsein hatte und das Pferd deshalb verdiente.

Duke wurde angeritten und langsam trainiert, wobei Allan sich mit ihm sehr viel Zeit ließ und ihn erst sehr spät zum ersten Wettbewerb anmeldete. Roper tat alles, um seinen Bruder in dem Wettbewerb zu schlagen, aber er hatte keine Chance. Nach der Siegerehrung gaben sie sich für die Kameras der lokalen Presseleute die Hand und grinsten, aber sie waren beide Meister der Fassade. Nur ihr Vater sah, was wirklich los war.

Für einen späteren Wettbewerb, dem Tonnenrennen, tauschte Roper heimlich sein Pferd gegen Duke aus. Es war eine spontane Idee gewesen, er wollte seinem Vater und seinem Bruder beweisen, dass Allan nicht besser war als er. Er hatte sich in der Idee verbissen, das Tonnenrennen zu gewinnen, und zwar mit dem Pferd seines Bruders. Obwohl er wusste, dass es ein Regelverstoß war, mit einem anderen Pferd als dem, was zum Wettbewerb angemeldet war, zu starten, und er vermutlich im Nachhinein disqualifiziert werden würde, würde ihm jedoch niemand die beste Rundenzeit nehmen können. Ebenso war ihm klar, dass Duke zwar den Pleasure- und den Reining-Wettbewerb mitgemacht hatte, aber dass Allan mit ihm das Tonnenrennen noch nicht trainiert hatte. Deshalb trieb er ihn wie der Teufel mit den Sporen vorwärts, um ihn im hohen Tempo auf die Gerade und um die Tonnen zu bekommen. Bereits auf der Strecke zur ersten Tonne galoppierte Duke mit hochgerissenem Kopf und Roper konnte ihn nur mit dem scharfen Gebiss einigermaßen unter Kontrolle halten, riss an den Zügeln und trat mit den Sporen zu, um ihn direkt hinter der Tonne abzuwenden, aber Duke war vollkommen überfordert, versuchte gleichzeitig zu bocken, zu steigen und kopflos davonzulaufen, dass er die Tonne mit der Brust umwarf und strauchelte.
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Ein erfahrenes Pferd wäre wieder auf die Beine gekommen, ohne zu stürzen, aber Duke war in Panik, überfordert und konnte seine Beine nicht schnell genug sortieren und sie gingen beide zu Boden.

Roper reagierte blitzschnell, er zog die Stiefel aus den Steigbügeln und verhinderte, dass Duke ihm das Bein zerquetschte, als er auf die Seite fiel. Duke brauchte mehrere Anläufe, um wieder auf die Beine zu kommen, stand zitternd da und brach wieder zusammen. Aus dem Publikum, das beim Sturz des Pferdes erschrocken verstummt war, kam ein gemeinsames entsetztes Murmeln, als Duke endlich wieder auf die Beine kam.

Und Roper konnte nur danebenstehen und zusehen, was er da angerichtet hatte.

„Ehrlich?“, sagte Tallula, „ich hätte dich dafür getötet.“

„Ich hätte es verdient. Duke hat sich bei der Aktion beide Vorderbeine gebrochen und sie haben ihn noch auf dem Platz erschossen. Sie haben ihn nicht mal mehr zu den Ställen bringen können. Ich hab am Rand gestanden und zugesehen.“

Roper erinnerte sich, wie mies er sich gefühlt hatte und dass er seinem Vater und seinem Bruder für Wochen nicht unter die Augen getreten war. Er wusste, er hatte insgeheim gewollt, dass Duke sich verletzte. Er hatte es in dem Moment darauf angelegt, als er ihn gegen sein eigenes Pferd ausgetauscht hatte.

„Hat meinem Bruder das Herz gebrochen“, sagte Roper, „und meinem Vater auch. Wir haben nie darüber gesprochen, weshalb ich es getan habe. Sie haben mich einfach ignoriert. Nachdem mein Vater gestorben ist, habe ich versucht, mit Allan darüber zu sprechen, aber da war es längst zu spät. Seitdem streiten wir uns nur noch.“

Tallula sagte, sie könne seinen Bruder verstehen, aber sie habe kein Verständnis dafür, dass er ihm diese Sache nicht verziehen hatte.

„Ihr seid Brüder“, sagte sie, „das zählt doch sehr viel mehr.“

„Der Zug ist abgefahren.“

Ihm lag auf der Zunge, sie nach ihrer Familie zu fragen, was bei ihr schief gegangen war, aber er wollte nicht hören, ob ihr Vater etwas mit ihr anstellte, was er als Vater nicht tun sollte oder ähnliches.

„Okay“, sagte Roper, „wo soll ich dich hinbringen, wenn es so weit ist? Du siehst nämlich nicht so aus, als wärst du bereits reisefertig.
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Talulla klopfte auf ihre rechte Gesäßtasche und meinte, sie habe alles, was sie bräuchte.

„Ich kann zu Hause keine große Tasche packen, das würde sofort auffallen. Ich habe diesen hier immer bei mir.“

Roper glaubte, es sei ein Bündel Geldscheine, die ihr zur erfolgreichen Flucht verhelfen sollten, aber es war ein Schlüssel, den sie aus ihrer Hosentasche zauberte. Ein Schlüssel zu einem Schließfach am Busbahnhof.

„Da ist alles, was ich brauche. Geld, Klamotten zum Wechseln, ein gefälschter Führerschein, laut dem ich zweiundzwanzig bin. Ich bin seit einem halben Jahr gut vorbereitet, aber seitdem habe ich es nicht mehr versucht. Wenn mein Dad oder einer seiner Leute mich jetzt erwischt, werde ich keine weitere Chance bekommen.“

Roper dachte mit einem unbehaglichen Gefühl darüber nach, weshalb er seinen Hintern nicht hochbekam und ebenfalls das Weite suchte. Es konnte nirgends viel schlechter sein als hier. Vielleicht würde sich selbst das Verhältnis mit seinem Bruder wieder einrenken, wenn er für eine Weile verschwand, zurückkam und beweisen konnte, dass er endlich erwachsen geworden war. Wie auch immer er das beweisen wollte.

Irgendwo neu anfangen, dachte er.

Er konnte die Räder an seinen Chevy montieren und einfach losfahren. Weshalb tat er sich so schwer damit? Weshalb bekam er nichts auf die Reihe?



Sie fuhren zurück in die Stadt, Tallula hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, ihre Hand lag leicht auf seinem Oberschenkel.

An der einzigen Tankstelle, die nachts geöffnet hatte, hielten sie an und Roper tankte für ein paar Dollars.

„Roper“, sagte der Tankwart, als er zum Bezahlen in das neonbeleuchtete Häuschen ging, „was hast du angestellt?“

Roper blieb stehen und starrte an sich herunter.

„Was?“, erwiderte er. Das Erste, was ihm in den Sinn kam, war die Sache mit Billy, aber das konnte sich kaum bis hier her herumgesprochen haben. Billy quatschte nicht, und er riss niemanden rein.

„Der Sheriff sucht dich.“ Der Mann warf einen Blick auf die Zapfsäulenuhr und nannte den Betrag. Roper tankte immer in so kleinen Mengen, aber er hatte noch nie gesehen, dass er mit Allans Wagen unterwegs war.
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„Ich hab nichts angestellt“, sagte Roper und versuchte ein entschuldigendes Grinsen, „ist vermutlich nur eine Verwechslung.“

„Deputy Winchell war hier, vor etwa zwei Stunden. Viel gesagt hat er nicht, nur, dass sie dich suchen und ich soll ihm Bescheid geben, wenn du hier auftauchst. Machte dabei ein Gesicht, dass Milch sauer wird, und als ich ihn fragte, was du angestellt hast, sagte er nichts. Ich kenn dich lange genug, Rop, ich weiß, dass du schon einige Dummheiten hingelegt hast, aber was – zum Geier – hast du jetzt angestellt?“

„Pure Verwechslung“, wiederholte Roper, „oder der alte Winchell hat Langeweile. Machen wir einen Deal? Wenn du ihn nicht anrufst, dass ich hier gewesen bin mit Allans Wagen, bring ich dir das nächste Mal ein paar Stangen von den Unversteuerten mit.“

„Deal“, sagte der Mann.



Mein Bruder ist ein altes Arschloch, dachte Roper, er muss entdeckt haben, dass sein Wagen weg ist, und hat direkt die Cops angerufen. Ich fasse es nicht.

„Bist du bereit?“, fragte er, als er sich hinter das Steuer klemmte und den Motor startete, und Tallula fragte nicht, wofür.

„Auf geht’s“, sagte sie, als ginge es nur um einen Besuch im Autokino.



Um zum Busbahnhof zu kommen, mussten sie durch die Stadt, aber mittlerweile war es so früh am Morgen, dass die Straßen wie ausgestorben waren. Roper umfuhr die Plätze, an denen sie gesehen werden konnten und die auf der direkten Strecke zum Busbahnhof lagen.

„Bist du aufgeregt?“, fragte er.

Tallula saß neben ihm, die Knie angezogen und die Schuhsohlen gegen das Armaturenbrett gestützt. Sie brauchte eine Weile für die Antwort und ihre Stimme war leise.

„Ich weiß nicht“, sagte sie, „ich habe es so oft versucht und es hat nicht geklappt, und ich habe mir so oft vorgestellt, wie es sein würde, wenn ich endlich wegkomme und nicht wieder nach Hause geschleppt werde. Auf die Idee mit dem gefälschten Ausweis bin ich viel zu spät gekommen, aber vermutlich hätte es noch vor Jahren auch nicht funktioniert. Jeder hätte mir angesehen, dass ich unmöglich schon so alt sein kann.“

Roper war in Gedanken noch immer bei der Tatsache, dass der Sheriff ihn mal wieder suchte, und er brachte das eine mit dem anderen in Verbindung.
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„Wir können gemeinsam irgendwo neu anfangen“, sagte er, „wir können uns besser gemeinsam durchschlagen. Du weißt schon – wir können gegenseitig auf uns aufpassen.“

Tallula reichte mit ihren Händen nach vorn an ihre Schuhe und zog die Zehen in Richtung ihrer Knie. Roper vermutete, dass sie nur dazu in der Lage war, weil sie tanzte und sehr gelenkig war.

Fast hätte er ihr erzählt, dass die Cops ihn suchten, aber er brachte es nicht mit ihr in Verbindung – es musste etwas mit den anderen Dingen zu tun haben, die er ab und zu drehte. Kleinigkeiten, die niemandem weh taten, und auf die die Cops erst Monate später kamen, wenn überhaupt.

„Du solltest nicht einfach verschwinden“, erwiderte sie, „du solltest dich erst mit deinem Bruder aussprechen und alles ins Reine bringen.“

Das hätte ich schon vor Jahren tun sollen, dachte Roper, jetzt ist es längst zu spät. Allan würde mir nicht einmal mehr zuhören, wenn ich sage, dass es mir Leid tut.

Es tat ihm leid. Zu wissen, dass man etwas Falsches getan hatte oder dass einem etwas Leid tat, waren zwei Paar Schuhe. Schon in dem Moment, als er mit Duke gestürzt war, hatte es ihm Leid getan, aber er hätte es niemals sagen können. Vielleicht war das ein Teil des ganzen Problems in seiner Familie.



Roper nahm den Weg durch die Stadt, fuhr sehr langsam und behielt die Straße hinter sich und die Seitenstraßen im Auge. Alle Geschäfte waren dunkel, die wenigen Häuser unbeleuchtet. Wenn in der Hitze der Sommernacht irgendjemand nicht schlafen konnte, lag er im Dunkeln wach. Kein anderer Wagen war unterwegs, die Straßen wie leergefegt.

„Ich fahr dich zum Busbahnhof“, sagte er, „du holst deine Sachen aus dem Schließfach und dann kannst du überlegen, ob du allein in einen der Busse steigen willst, oder ob du mit mir fährst. Ich werde den Dakota irgendwo stehenlassen und einen anderen besorgen. Schließlich kann ich meinem Bruder nicht auch noch den Wagen klauen.“

„Du hast kein Geld“, sagte Tallula.

„Ich hab Freunde, die mir noch was schulden. Ich muss ein paar von ihnen anrufen.“

„Lass mir ein paar Minuten Zeit, um darüber nachzudenken.“

„Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen.
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„Wofür?“, fragte sie.

„Dass du ins Obnox gekommen bist, um einen Kerl wie mich aufzureißen, damit er dich aus der Stadt bringt. Das ist Okay. Nach dieser einen Nacht mit dir würde ich so ziemlich alles für dich tun.“

„Ich weiß“, sagte Tallula und lächelte. Für eine Sekunde verwandelte sie sich zurück in Alice. Tallula wollte ihr altes Leben hinter sich lassen, Alice wollte trotz allem bleiben. Alice würde niemals Tänzerin werden, Alice würde irgendwann einen der Farmer heiraten und viele Kinder bekommen. Irgendwann würde sie vergessen haben, dass Tallula überhaupt existiert und dass sie wilde und aufregende Wünsche und Träume gehabt hatte.

Sie suchte nach Resten in der Whiskeyflasche, nahm einige Schlucke und murmelte: „Verdammt, ich hätte es nicht tun sollen. Sie werden den Alkohol riechen und sich daran erinnern.“

Roper wollte erwidern, dass niemand etwas riechen würde, wenn sie gemeinsam im Wagen seines Bruders die Stadt verließen. Sie würden weit weg sein, bevor die Stadt überhaupt wieder erwachte, und obwohl Roper nie langfristige Pläne gemacht hatte, war er in Gedanken bereits bei ihrem Leben zu zweit, irgendwo, wo sie niemand kannte und wo sie ein ruhiges beschauliches Leben führten. Er würde arbeiten für ihren Unterhalt, vermutlich würden sie nur schwer über die Runden kommen, aber wer kam in diesen Zeiten schon gut über die Runden.

Er wollte mit ihr gehen, um sie nicht allein zu lassen und um sie nicht zu verlieren. In dieser Nacht war mehr geschehen als in manchen Monaten, er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt und konnte sie nicht einfach wieder aus seinem Leben verschwinden lassen. Bei den Mädchen, mit denen er bisher zusammen gewesen war, mochte er sich das Verliebtsein eingebildet haben, entstanden durch verzweifeltes Wunschdenken. Irgendwann musste doch endlich die Richtige auftauchen. Und hier war sie plötzlich.

„Tallula“, sagte er und sie zog scharf die Luft ein. Es war ein dünner entsetzter Laut und Roper brauchte nicht einmal den Kopf zu bewegen, denn er sah es ebenfalls im Augenwinkel. Das rotierende Licht einer Polizeistreife.



Kaum, dass der Dakota langsam an dem Polizeiwagen vorbeigefahren war, heulte die Sirene kurz an, das akustische Zeichen für „Ich habe dich gesehen, mein Junge“, und der Streifenwagen setzte sich in Bewegung und folgte dem Dakota.
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Tallula hatte keine Chance, ihm zu sagen, er solle den Wagen anhalten. Roper trat das Gaspedal durch und der Dakota raste schleudernd und schlingernd die Straße hinunter. Sie kamen nicht weit. Erst jetzt begriff Roper, dass sie schon länger nach ihm gesucht haben mussten, denn oben an der Straße, noch vor der letzten Kreuzung, standen zwei weitere Polizeiwagen, sperrten die Straße ab und schienen nur auf ihn zu warten. Hinter den Wagen standen Polizisten und ein großer dünner Mann, der mit wütenden Armbewegungen mit einem der Cops diskutierte. In der Nähe stand Allan, er hatte sich abgewandt, aber Roper erkannte ihn trotzdem. Er trat erst auf die Bremse, als Tallula „verdammte Scheiße“ sagte.

Er konnte nur ahnen, was sich Tallulas Vater, sein Bruder und die Cops zusammengereimt hatten. Wer Tallulas Vater im Obnox gesagt hatte, dass sie gemeinsam die Bar verlassen hatten, wer sie mit dem Wagen seines Bruders gesehen hatte, wo sie überall gesehen worden waren. Tallulas Vater würde ihm dafür die Hölle heiß machen, und würde vermutlich von seinem Bruder dabei unterstützt werden.

„Ich steige aus“, sagte Roper, während er den Motor laufen ließ, „und wenn sich alle mit mir beschäftigen, rutscht du hinters Steuer und fährst los. Du hast eine gute Chance, den Wagen in einer Nebenstraße abzustellen und dich zu verstecken. Geh zum Busbahnhof und nimm den nächsten Bus irgendwohin. Wenn du dich sicher fühlst, rufst du mich an.“

„Es wird nicht funktionieren.“

„Sicher wird es das. Du hast Nerven wie Stahlseile.“

Du gehst immer zu weit, schien Allan oben an der Straße zu rufen, nie denkst du über die Konsequenzen deiner Aktionen nach. Nie wirst du erwachsen.

Er stieg aus, hob erst die Hände, während er langsam auf die abgestellten Polizeiwagen zuging, dann verschränkte er sie hinter dem Rücken und machte eine schnelle Bewegung wie Flügelschläge.

Der Cop, der ihnen gefolgt war, hatte seinen Wagen halb hinter dem Dakota abgestellt, und war ausgestiegen. Obwohl es noch immer heiß war, trug er seine Uniformjacke, er wischte sich immer wieder mit dem Ärmel über die Stirn.
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Als er sah, dass Roper die Hände hinter dem Rücken verschränkte, lief er auf gleicher Höhe auf der anderen Straßenseite Richtung Straßensperre. Er kannte Roper nicht, er war erst vor Monaten in die Stadt versetzt worden, und hatte keine Ahnung, wie er diese Situation einschätzen sollte.

Tallula rutschte auf den Fahrersitz und legte den Rückwärtsgang ein, während sie Roper nicht aus den Augen ließ.



Sie handelte, ohne nachzudenken – sie ließ den Dakota ein Stück rückwärts rollen und hoffte, dass es niemandem auffallen würde. Alle achteten nur auf Roper, wie er mit hastigen und unberechenbaren Gesten und Bewegungen auf die abgestellten Polizeiwagen zuging. Sie konnte nicht hören, was er sagte, obwohl er sich noch nicht weit vom Dakota entfernt hatte und der Motor im Leerlauf lief, aber sie hörte die Ansage des Sheriffs, der zwischen ihrem Vater und Allan stand und seine Waffe gezogen, aber noch nicht gehoben hatte.

Tallula starrte auf die hagere Gestalt ihres Vaters, der abwechselnd die Arme vor der Brust verschränkte und dann wieder die Hände in die Hosentaschen schob. Er war immer nervös, wusste nie, wie er stillstehen sollte, immer nervös und immer in Bewegung. Tallula konnte an seiner Haltung erkennen, unter welchem Druck er stand.

Er fürchtet, mich zu verlieren, dachte sie, umfasste das Lenkrad fester und rutschte im Sitz ein Stück nach vorn. Mum ist ihm nicht genug für seinen Kontrollzwang. Ich wette, er hat seinen Therapeuten mal wieder erzählt, er hätte alles unter Kontrolle. Was für ein Witz. Er wird zusammenbrechen, wenn ich nicht mehr da bin.

Der Sheriff, der Roper dazu aufforderte, stehen zu bleiben und die Hände hinter dem Kopf zu verschränken und um Gottes Willen keinen Blödsinn zu machen, war so ruhig und gelassen, als hätte er Roper gebeten, in sein Haus zu kommen und am Tisch Platz zu nehmen. Entweder war er schon sehr oft in solchen Situationen gewesen und wusste, was zu tun war, oder er kannte Roper gut genug, um zu wissen, wie er mit ihm umgehen musste. Tallula hielt beides für möglich. Und sie verstand überhaupt nicht, weshalb Roper der Aufforderung nicht nachkam.



Er machte einen Schritt zurück, drehte sich halb um, steckte dabei die Hände halb in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch.
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Er wollte sehen, ob Tallula noch hinter dem Steuer saß und bereit war, endlich wegzufahren. Sein Blick zu ihr hinüber war sehr kurz, nur ein Blinzeln lang, sie sah das kurze auffordernde Grinsen, was er ihr schickte.

Wieder rief der Sheriff etwas, Tallula trat vorsichtig auf das Gaspedal und ließ den Dakota langsam rückwärts rollen.

Ich will nicht gehen, dachte Alice, ich kann hier bleiben. Vielleicht wird mit Roper alles anders. Besser. Vielleicht begreift Dad dann endlich, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin.

Und Tallula antwortete: Er wird es nie begreifen. Er versteht nicht, dass Kinder groß werden und ihr eigenes Leben wollen. Und wie könnte er Roper akzeptieren, wenn er keinen der anderen Jungs akzeptiert hat? Nette Jungs von nebenan, nette Jungs aus der Schule. Die bei der ersten Verabredung ordentlich angezogen auftauchten und sich vorstellten, die versprachen, dich bis elf Uhr nach Hause gebracht zu haben. An allen hatte er etwas auszusetzen. Vergiss es, Sweety, er wird es niemals aufhören.

Zu gerne hätte Tallula ihrem Vater etwas zugerufen, ein paar letzte Worte, damit die Situation für ihn einfacher wurde.

Ich hasse dich nicht, Dad, hätte sie gern gerufen, aber ich kann nicht mehr in einem Haus mit dir leben. Du zerbrichst mich.

Der Dakota rollte langsam rückwärts, Tallula sah in den Rückspiegel, ob die Straße hinter ihr frei war, und trat etwas stärker auf das Gaspedal.



Es schien, als verwirbelte die Zeit um sie herum. Sie stand nicht still, sie wurde langsamer, wobei sich das Innere des Strudels langsamer drehte als das Äußere. Wieder hatte sie dieses seltsame Gefühl, wie damals, als sie von ihrem Kletterbaum gefallen war. Sie hatte den Halt verloren und war drei Meter tief gefallen. Während des Fallens war die Zeit stillgestanden. Sie hatte sich scheinbar Minuten lang gefragt, wann sie endlich aufschlagen und ob es wehtun würde. Gleichzeitig mit dem Aufschlag, bei dem sie sich eine Gehirnerschütterung und blaue Flecken geholt hatte, kam die Zeit wieder in ihren korrekten Ablauf zurück.

Diesmal dauerte es nur sehr viel länger, bis sie die Zeit wieder einholte.

In dem Teil des Strudels, der sich schnell bewegte, befand sich der Polizist, der auf ihrer rechten Seite neben seinem Wagen gestanden und der scheinbar nur zugesehen hatte, während ihr Vater herumtanzte, der Sheriff neben Allan mit Roper sprach.
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Jetzt, als er den Motor des Dakotas hörte, setzte er sich in Bewegung, hob eine Hand und machte eine Geste, als wolle er sie auffordern, den Wagen anzuhalten.

Roper stand im Zentrum des Strudels, er bewegte sich so langsam, dass Tallula dachte, nur er sei in dem Traum gefangen. Er rief etwas zu dem Polizisten hinüber, hob die Arme hoch über seinen Kopf. Sein Shirt rutschte ein Stück hoch und entblößte seine Haut. Der breite Saum seiner Boxershorts lugte unter der Jeans hervor. Gleichzeitig setzte sich Tallulas Vater in Bewegung, er schob Allan dabei ein Stück zur Seite, der ihn vergeblich festzuhalten versuchte.

Roper rief etwas, drehte sich zu Tallulas Vater herum und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf ihn. Mitten in der Bewegung zuckte er zusammen, schwankte auf plötzlich unsicheren Beinen und ging zu Boden. Er fiel auf die Seite, versuchte mit langsamen Bewegungen, wieder hochzukommen, aber er schaffte es nicht.

Wie Duke, dachte Tallula, wie Duke, wie er versucht, mit seinen gebrochenen Beinen wieder aufzustehen, und es nicht schafft.

Sie konnte weder blinzeln, noch wegsehen, selbst ihr Atem war stehengeblieben. Sie hatte den Schuss nicht gehört, aber sie wusste, dass der Polizist, der Abseits gestanden hatte, seine Waffe gezogen und geschossen hatte.

Ropers Bruder kniete bereits neben ihm, hielt ihn am Boden, als die anderen dazukamen. Allan hob eine Hand, sie tropfte dunkel, er wischte sich mit dem Handrücken durch das Gesicht, hielt dabei den Kopf gesenkt.

Der Strudel war noch immer da, verwandelte die Szene in einen Film, der mit der falschen Geschwindigkeit ablief. Tallula atmete zitternd ein, drehte den Dakota und fuhr dabei ein Stück über den Rasen eines Vorgartens, gab endlich Gas.



Erst am Busbahnhof, wo sie den Wagen abstellte, fand sie in die Zeit zurück. Alles bewegte sich normal. Sie zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie die Fahrkarte kaufte, nachdem sie ihre Sachen aus dem Schließfach geholt hatte. Der Mann hinter dem Schalter sah sie musternd an und sie erklärte, sie habe sich mit ihrem Freund gestritten und würde für eine Zeit lang zu ihrer Schwester fahren.
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„Soll er sehen, wie er das Haus in Ordnung hält, wenn ich nicht da bin“, sagte sie, „ich hätte ihn schon viel früher in seinem Müll sitzen lassen sollen.“

Im Bus presste sie die Tasche zwischen Fenster und Schulter und lehnte den Kopf dagegen. Sie war so müde, dass sie vergessen hatte, wo die Fahrt hingehen würde.

Der Bus hatte bereits zweimal gehalten und ein paar einsame Passagiere aus-und einsteigen lassen, als ihr Mobile vibrierte. Sie schreckte hoch, klappte es auf und starrte auf das Display. Sie hatte es total vergessen.

„Roper?“, sagte sie flüsternd und dachte gleichzeitig, weshalb ihr Vater nicht versuchte, sie anzurufen.

Es war Allan. Er hatte Ropers Mobile gefunden und es an sich genommen.

„Er lebt“, sagte er, „es wird ihm eine Zeit lang nicht gut gehen, aber er wird es schaffen. Dein Dad wird dich suchen, Alice. Wenn Roper nicht schon am Boden gelegen hätte, hätte er sich auf ihn gestürzt, um rauszukriegen, wo du hin willst. Ich habe gerade meinen Dakota nach Hause gefahren, werde ein paar Stunden schlafen und dann wieder ins Hospital fahren.“

„Hat er sich entschuldigt?“, fragte sie.

„Ja“, sagte Allan und seine Stimme klang etwas entspannter, als versuche er ein Lächeln, „ich weiß zwar nicht, weshalb er sich bei mir entschuldigt hat für diese hirnrissige Aktion, aber er hat sich entschuldigt.“

„Wenn sie meine Eltern sehen, sagen sie ihnen bitte, es geht mir gut. Ich werde mich melden, wenn ich angekommen bin.“

„Bist du sicher, dass du es dir gut überlegt hast?“

„Ganz sicher. Das Ganze war nicht Ropers Idee, er hat mir nur geholfen. Und er hat sich für die Sache mit Duke entschuldigt. Er hat mir davon erzählt.“

Sie klappte das Mobile zu, schaltete es aus. Es war ein gutes Zeichen, dass sie keinen Anruf in Abwesenheit hatte, als sie es am Morgen in der fremden Stadt wieder einschaltete.

Den ersten Anruf in Freiheit würde SIE machen.
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Kommentare zur Story:

  roper und alice-tallula, was für ein paar! ich bin jedenfalls froh, dass du ihn nicht hast sterben lassen... :-)  
   Ingrid Alias I  -  13.06.11 17:23

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  Liebe alle,
vielen Dank für die Kommentare. Eigentlich hatte ich Roper sterben lassen wollen am Ende, aber weil mir jemand sagte: "Du scheinst die Tendenz zu haben, alle deine Protas sterben zu lassen", habe ich es abgeändert.
Ich glaube, im Hinterkopf habe ich noch ein paar Dinge für ihn und Tallula parat, aber sie sind leider noch nicht auf dem Schirm. THE BOYS IN THE BASEMENT arbeiten noch daran.
Liebe Grüße - und wie immer: DANKE FÜRS LESEN
DublinerTinte ;0)  
   Tintentod  -  11.06.11 21:34

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  Schön, Pia verwöhnt uns mit einer einer weiteren Kurzgeschichte bei der man gerne noch einen weiteren Teil lesen möchte.  
   Jochen  -  04.06.11 22:32

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  Ein neuer "Held" mit Namen Roper. Mann, habe ich zum Schluss um ihn gebangt. Und wie geht´s weiter?  
   Petra  -  01.06.11 22:05

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  Liest sich, wie der Anfang eines längeren Romans. Sehr gute Schilderungen der Charaktere und der Umgebung, in welcher Roper leben muss.
Joe (Roper) und Alice(Tallula) sind zwei eigenwillige Menschen, die nicht so recht mit ihrem Leben klar kommen. Sie sind hochsensibel und sicherlich würden sie sich besser zurecht finden, wenn sie nicht eine solche Vergangenheit gehabt hätten. Dieses Kapitel (oder diese Kurzgeschichte) endet dramatisch, dennoch wird die Neugierde des Lesers aufrecht erhalten, wie es vielleicht weitergehen könnte. Von mir ein Lob für diesen Schreibstil. .  
   Dieter Halle  -  29.05.11 11:48

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