Die Botschaft der blutigen Tränen   115

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles

Von:    Fil      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 28. März 2011
Bei Webstories eingestellt: 28. März 2011
Anzahl gesehen: 3042
Seiten: 4

Blutige Tränen von Fukushima





Wie lange ist es schon her, seit ich hier zusammengekauert und gekrümmt, in einer Müllhalde ähnlicher Landschaft, verharren muss.

Ein Tag, oder zwei Tage, oder gar schon drei Tage?

Ich habe die Zeit und die Orientierung völlig verloren, es rauscht in meinen Ohren und in meinem dröhnenden Kopf spiegelt sich das unglaubliche Geschehen der Vortage wider.

Was war eigentlich passiert, ich versuchte meine Gedanken neu zu ordnen.

Gerade als ich auf dem Weg zu meinen Eltern war, wollte ich doch eigentlich nur einen kleinen Abstecher runter zum Strand machen! Ja, das war es, ich wollte meine Eltern in Fukushima besuchen.

Ich bemerkte nicht sogleich das drohende Zittern der Erde. Ich spielte gedankenverloren mit den Füßen im herrlichen weißen Sand, als der Sand wieder langsam zwischen meinen Zehen zitternd herunter rieselte, dann vernahm ich nur noch ein tosendes, krachendes, berstendes Geräusch.

Im gleichen Moment durchzuckte mich eine unwirkliche Angst.

Ich wusste nicht wieso diese Angst mich mit einem Male so beherrschte und warum ich wie erstarrt im Sand sitzen geblieben war?

Ich blickte in Richtung Meer und sah wie sich die Wellen unwirklich auftürmten und drohend auf den Strand zukamen.

Regungslos wie in einer Schockstarre sah ich sie auf mich zukommen.

Eigentlich ist es ein wunderschöner Tag, was sollte da schon passieren, durch fuhr mich der Gedanke, an ein wenig Entspannung denkend, bevor es nass schlammig und unendlich kalt und dunkel um mich wurde.

So war es gewesen vor Tagen.

Und jetzt, ich schaue an mir herunter und sehe mich Dreckverschmiert, aber lebend.

Ich lebe!

Die Arme aufgerissen, die Beine aufgeplatzt, Hautabschürfungen am ganzen Körper.

Was ist mit mir passiert?Ich versuche erneut mich zu erinnern.

Mit geweiteten Augenpupillen blicke ich mich vorsichtig und angstvoll um.

Meinen Urlaub wollte ich übers Wochenende hier in Fukushima verbringen.

Doch wo ist die Stadt?

Müll, Dreck, Metallschrott, Steine, Möbelteile, leblose Tiere, Gegenstände aller Art – doch Menschen?

Ich sehe keine Menschen hier – wo sind sie, wo sind die Menschen?

Kein Geräusch ist zu hören, kein Vogelgesang, absolut keine Tiergeräusche.
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Stille.

Es gibt keine Geräusche mehr um mich herum, ich höre nur noch das Blut durch meinen Kopf pochen und durch meine Adern langsam, eher erlähmend, pulsieren.

Keine menschlichen Stimmen, wo ist das Lebendige-Geräusch der Menschen, der Stadt?

Wo ist das alles?

Wo sind sie alle?

Wo ist das pulsierende Leben?

Langsam versuche ich meine Gliedmaße zu ordnen und löse mich aus meiner augenscheinlichen Erstarrung und Verkrampfung.

Endlich schaffe ich es aus meinem verdreckten Müllbett zu kriechen.

Aus den Augenwinkeln beäuge ich die unwirkliche verzerrte utopische Landschaft.

Und meine hilflose Situation wird mir schlagartig bewusst.

Was ist das hier, wo bin ich hier, das ist doch nicht mehr meine Heimatstadt Fukushima!

Ich fasse meinen ganzen Mut zusammen und versuche meine neue Umgebung zu erkunden.

Das Meer ist weg, ich sehe keine Wellen und keine aufschäumenden Wogen mehr.

Schlamm und Dreck überladen ist alles um mich herum.

Der Dreck beherrscht die ganze Umgebung, bizarr und unwirklich ist alles, so weit man sieht, überall Müll und chaotische Zustände.

Hier und da zappelte ein Fisch, aus dem Schlamm mit übergroßen Augen mich fragend anschauend, weiter unruhig angstvoll, zitternd, zappelnd.



Antworten.

Antworten bedurfte, es!

Was war hier geschehen?

Was ist mit mir geschehen?

Die Nacht umarmte mich erneut und ich fiel zurück in einen neuen unruhigen Angstschlaf.

Lebe ich noch - oder bin ich schon tot?

Ich wollte nicht mehr denken, ich hatte auch keine Angst mehr, ich wartete geduldig.

Aber, auf was wartete ich eigentlich?

Befand ich mich schon in der Unendlichkeit der Ewigkeit?

Die Erde zitterte wieder, ich war erschöpft und klammerte mich an dem Gedanken fest, dass ich nicht alleine sein kann, hier in diesem kalten dreckigen Schlamm und Müll.

Ein übler Geruch kroch in meine Nase und ich sah, angewidert vom Anblick des stinkenden Fisches, wie sich die Fischaugen neben mir allmählich langsam auflösten.
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Meine Haut brannte wie Feuer, doch sie erwärmte so allmählich meinen ausgekühlten fast gefrorenen Körper.

„Wasser …! ich brauch Wasser ich muss etwas trinken!“

Auf allen vieren kriechend machte ich mich auf den Weg um etwas, trinkbares zu finden.

Schlagartig vielen mir die ewigen Werbeblöcke aller Fernsehsender, von allerlei köstlichen Getränken, die mehrmals zwischen meinen Lieblingssendungen flimmerten, ein.

Jetzt flimmerten die Werbeblöcke vor meinem inneren Auge, nach ihnen lechzend beobachtete ich sie gierig.

Ich werde irre!

Das Wasser lief mir nicht mehr im Munde zusammen, ich war ausgetrocknet wie ein Reiskorn.



Unerreichbar.

In unerreichbarer Ferne, war jeder Tropfen Flüssigkeit.

Doch, ich bin nicht gewillt aufzugeben!

Ich suchte weiter.

Vergebens.

Und endlich, sah ich eine, mit mir weg gespülte Flasche. Mit letzter Kraft schraubte ich den Verschluss auf – leer, sie ist leer, hysterisch schüttle ich wild die leere Flasche. Das kann nicht sein durchzuckt es mich, in meinem Innern brennt es, ich muss den ohnmächtigen Brand in mir endlich löschen. Fahrig, zittrig mit weit aufgerissenen Augen beobachte ich die Fischgräte neben mir, die mich gestern noch groß angestarrt hatte.

Das Fischskelett lässt Böses erahnen. Ich zucke zusammen.

Das Feuer auf meiner Haut brennt sich weiter durch mich hindurch.

Aus tausenden blutigen Hautrissen quellt mein Leben.

Mein Leben brennt lodernd sengend weg.

Einer Ohnmacht nahe habe das Gefühl mich aufzulösen.



Zettel.

Ein verschmierter Zettel liegt neben mir und ich greife zeitlupenartig mit fast lähmenden unwirklich entstellten Fingerkuppen danach. Ich sehe das Abrechen der schwammigen Fingernägel und weiß, dass ich mich beeilen muss …

Ich streiche mir langsam durch mein Haar und halte es in meinen Händen.

Angewidert von mir selbst, blicke ich in das Glas der leeren Flasche, und erkenne mich selbst nicht mehr.

Erschrocken über mein Spiegelbild laufen mir blutige Tränen über meine sich auflösenden Wangen, das Salz der Tränen brennt zusätzlich eine tiefe Furche in mein Gesicht.
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Und plötzlich quollen unaufhaltsam immer weiter blutige Tränen aus meinen Augen, ich muss den anderen Menschen sagen was passiert ist! Sie müssen wissen welche unsichtbare schleichende Gefahr ihnen droht! Ich muss versuchen ihnen dies alles, was mir widerfahren ist, mitzuteilen! Ich blicke wieder in das Glas der leeren Flasche, glanzlose Augen starren mir entgegen, aschfahle blutige Haut umrahmt mein vormals hübsches Gesicht, haarloses Haupt, vereinzelte eitrige Hautkrater, die Kahlheit meines Körpers ist bezeichnend, alles wirkt eigentlich schon leblos und tot an mir.

Denke ich noch, als?

Ich blicke auf - Hallo Mutter, Hallo Vater schön euch zu sehen.

Bitte nehmt mich mit, sagt doch was, warum sprecht ihr nicht mit mir?

Ich strecke ihnen hilfesuchend meine Arme entgegen, doch sie greifen, ins Leere.



Die unsichtbare Gefahr hat ihr Opfer gefunden!







Wochen später fand man bei den Aufräumungsarbeiten in der Nähe von Fukushima eine Flasche.

Der Inhalt: “Ein verschmierter, Blutbeschriebener eingerollter Zettel und ein mit Blut getränktes Holzstäbchen! Es diente scheinbar als Schreibstift, einem mit dem Blut der Augen, den Tränen geschriebenen Text, ein blutiges Haarbüschel so wie einen abgerissen Fingernagel. Das fand sich alles in der kleinen beschriebenen Papierrolle, die Angst einer Zeitzeugin über das schreckliche „Geschehen“ eine Flaschen – Botschaft!“







Die Botschaft der blutigen Tränen und wo ist morgen Fukushima?
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Kommentare zur Story:

  Hallo Fil,
eine eindrucksvolle Geschichte, die mich innerlich sehr aufgewühlt hat. Ich finde es toll, dass du dich diser Thematik gestellt hast, was nicht einfach ist. Es bedarf schon unendlicher Fantasie und einer gehörigen Vorstellungskraft, um dieses grausige Elend in angemessene Worte fassen zu können. Dieses ist dir mit dem Einsatz vieler kraftvoller Adjektive, die das wahre Ausmaß dieser Tragödie entlarven, glänzend gelungen.
Bleibt nur zu hoffen, dass wir künftig von einer derartigen Katastrophe verschont bleiben.
LG. Michael  
   Michael Brushwood  -  13.04.11 10:28

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  @Petra und Dieter Halle - wie wir alle, denke und hoffen auch ich, dass sich so etwas hier bei uns nicht ereignet.
Doch wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass die natur so nach und nach an ihre grenzen stößt und sich wehrt.
Wir zerstören uns eingentlich selbst den lebensraum und hinterlassen zum schluß nur schutt und asche ...

Danke für den kommentar von euch. Hoffen wir, dass uns diese unsichtbare gefahr nicht trifft und uns erspart bleibt.  
   Fil  -  13.04.11 08:34

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  Schrecklich und tieftraurig. Kann nur Petra zustimmen. Wir wollen die Daumen drücken, dass es so nicht wird. Mitreißende Story und ein schönes Bild.  
   Dieter Halle  -  29.03.11 21:38

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  Düstere, authentisch geschriebene Zukunftsvision über Fukushima. Hoffen wir, dass das nicht eintritt.  
   Petra  -  28.03.11 22:03

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