Romane/Serien · Spannendes

Von:    Pia Dublin      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 22. April 2009
Bei Webstories eingestellt: 22. April 2009
Anzahl gesehen: 2506
Seiten: 24

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


„Ich habe Simon erst zwei Monate später wieder gesehen“, sagte Tommy, „er hat sich gerade von einer Schussverletzung erholt und hat mir an dem Abend erzählt, dass es Reggie erwischt hat. Bei irgendeiner Schießerei mit den Truppen. Er sagte, er könne nicht glauben, mich lebendig wieder zu sehen und er wolle mir einen Drink spendieren. Wir sind in den nächsten Pub und ich habe einen Tango-Orangensaft auf seine Rechnung getrunken.“

„Ist das das Ende der Geschichte?“ fragte Lea.

„Nicht wirklich. Es ist nur der Schlüssel dazu, wie ich mit dem Saufen aufgehört habe und weshalb die Leute von der Spezialeinheit hinter mir her sind. Sie wollen wissen, wo die Leichen sind.“

Er bewegte die Finger der verletzten Hand so gut es ging, ignorierte den Schmerz, der bis in die Schulter hochschoss.

„Hättest du mir jemals etwas davon erzählt, wenn das alles nicht passiert wäre?“

Tommy legte den Kopf schief, senkte den Blick und sagte: „Niemals. Dass sie mich aufgespürt und geschnappt haben, hätte nicht passieren dürfen. Das alles gehört der Vergangenheit an und es hätte niemals so weit kommen dürfen. Verstehst du, es ist gefährlich. Es wäre besser gewesen, ich wäre sofort verschwunden, aber das konnte ich nicht. Deshalb erzähle ich es dir jetzt, damit du selbst die Entscheidung treffen kannst, wie’s mit uns weitergehen soll.“

Sie sah ihn prüfend an, begann schließlich zu essen und schaffte es, Tommy ein wenig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wie konnte sie nach so einem Geständnis nach der Gabel greifen und essen?

Er starrte sie an und sagte dann sehr vorsichtig: „Lea? Wieso habe ich den Eindruck, dass du nicht wirklich zugehört hast?“

„Ich habe dir ganz genau zugehört und ich muss eine Weile darüber nachdenken. Es hat mich nicht überrascht, so etwas zu hören, weil ich mir eine Menge zusammenreimen konnte. Spike hat mir einen Besuch abgestattet, als du nicht da warst.“

Tommy wäre alarmiert gewesen, hätte sie von Sean gesprochen, der bei ihr aufgetaucht war um ihr etwas zu erzählen, aber Spike? Der mit seiner Kamera und Video-Cam verwachsen war und nichts anderes im Kopf hatte? Es dauerte eine Sekunde, bis er ahnte, was passiert war und es war, als hätte jemand eine Lampe in seinem Kopf eingeschaltet.
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Spike und seine Kameras.

„Was hat er dir erzählt?“

„Den ganzen Hintergrund. Er hat sehr gründlich recherchiert. Ich habe darüber nachgedacht, was ich tun soll. Glaub mir, ich habe sehr gut darüber nachgedacht. Wo du herkommst, weshalb du das getan hast und wie du damit leben kannst. Du wirst mich nicht los, Tommy. Das ziehen wir gemeinsam durch.“



Tommy machte einen Besuch bei seinen Kollegen, zeigte seinen Gipsarm und hörte sich scheinbar gut gelaunt die unausweichlichen Kommentare an. Sie alle waren erleichtert, ihn wohlbehalten wieder zu sehen und wenn jemand die Frage stellte, was zum Geier passiert war, sagte er, er könne sich an nichts erinnern, aber die Ärzte hätten gesagt, dass es wiederkommen würde. Er verbrachte eine Stunde im Büro des Dekans, sprach mit Hollenack über das, was passiert war.

„Ich werde Ärger bekommen deswegen“, sagte Tommy, „ich soll Dinge erklären, an die ich mich nicht erinnern kann. Wenn sie irgendwann etwas über mich hören und es nicht glauben wollen, machen sie sich nichts daraus.“

„Tommy, was wird das für eine seltsame Ansage? Das verstehe ich nicht.“

„Ich habe verdammt gerne fürs Bates gearbeitet“, sagte Tommy, „und wenn meine Hand wieder in Ordnung ist, komme ich wieder.“

„Wenn du einen Anwalt brauchst, und sei es nur, um dich besser zu fühlen, sag bescheid. Ich kenne eine gute Kanzlei. Und mach dir keine Sorgen, wenn es mit deiner Genesung länger dauert. Wir kümmern uns um unsere Leute.“

Hollenack’s Fürsorge war aufrichtig und Tommy fühlte sich nicht gut, als er sich von ihm verabschiedete. Als er vor Larry Johnson’s Büro stehen blieb und den Kopf in die Tür steckte, hatte er das Gefühl, seine alten Kollegen und Freunde das letzte Mal zu sehen. Dieses Gefühl wurde stärker, als Larry ihm deutete, er solle hereinkommen und die Tür hinter sich schließen.

„Setz dich“, sagte er, „du wirst nicht glauben, wer hier aufgetaucht ist. Chief Blake hat den Weg bis in mein Büro geschafft und hat eine Menge Fragen über dich gestellt. Seltsame Fragen, die ich nicht wirklich beantworten konnte oder wollte. Versuchen sie dir irgendetwas anzuhängen?“

„Blake hatte schon immer was persönliches gegen mich und jetzt hat er sich festgebissen.
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Aber du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen. Er wird hier kein zweites Mal auftauchen.“

Ich habe nie herausgefunden, weshalb Blake immer so misstrauisch gewesen ist, dachte Tommy, aber vielleicht bekomme ich jetzt Gelegenheit dazu.

„Ich lasse euch jetzt wieder in Ruhe arbeiten“, sagte er, setzte hinzu: „Habt ihr was von David McCann gehört?“

Larry schüttelte den Kopf.

Auf dem Weg über den Campus zu den naturwissenschaftlichen Gebäuden rauchte Tommy eine schnelle Zigarette. Seine Hand pochte und auch die alte Beinverletzung meldete sich wieder. Es lag entweder am Wetter oder an dem, was er vorhatte. Und eigentlich machte es keinen Unterschied. Er durchquerte Flure, öffnete Türen, die hinter ihm wieder ins Schloss fielen, stand schließlich vor dem Vorlesungssaal. Er benutzte den Eingang der Lehrer, sparte sich eine entschuldigende Geste oder Worte der Erklärung zu Dr. Will Ambrose hinüber, der ihn fragend ansah, seinen Vortrag unterbrach. Tommy wusste, dass er automatisch alle Blicke auf sich zog, auch wenn er heute nicht die Uniform des Sicherheitsdienstes trug. Es herrschte angespannte Stille in dem Saal, der mit etwa fünfzig oder sechzig Studenten besetzt war.

„Vincent Deakin“, rief er in die Stille, wieder beeindruckt von der überragenden Akustik dieser Säle, die seine Stimme bis in die hinterste Reihe trug.

„Ist Vincent Deakin anwesend?“

Von dort oben kam die unsichere aber klare Ansage, dass Spike da war. Tommy machte mit seiner gesunden Hand eine fordernde Bewegung hinunter in den Teil des Auditoriums, wo er neben dem Pult stand, Ambrose neben ihm seine handschriftlichen Unterlagen sortierte.

„Wir haben was zu besprechen“, sagte Tommy, als Spike oben auf dem Rang nur aufgestanden war und hinuntersah. „Schwing die Hufe.“

Will Ambrose, Doktor der Biologie, der den Studenten etwas über das Chamäleon erzählt hatte, sah ihn noch immer sprachlos an und wartete auf eine Erklärung der Unterbrechung. Obwohl Tommy der Überzeugung war, für diesen Tag genug Erklärungen abgegeben zu haben, sagte er mit ruhiger Stimme an Ambrose gewandt: „Es ist alles in Ordnung. Machen sie ruhig weiter mit dem Chamäleon.“

Oben auf dem Rang drängte Spike sich durch die Sitzreihen, beantwortete die geflüsterten Fragen „Was ist los? Was hast du angestellt?“ mit einem Kopfschütteln.
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Tommy wartete im Flur auf ihn, stand am Fenster und sah auf den Park hinaus. Er konnte von hier aus das Sportfeld erkennen, wo einige Studenten ihre Laufrunden drehten. Spike drückte hinter sich die Tür ins Schloss, trat näher und Tommy drehte sich zu ihm herum. Spike war blass um die Nase und Tommy unternahm nichts, damit er sich besser fühlte.

„Komm mit nach draußen“, sagte er, „was wir zu bereden haben, braucht niemand zu hören.“

Spike folgte ihm in den Park, sie folgten den schmalen geräumten Wegen, an deren Seiten sich der Schnee türmte. Sie gingen bis zum Pavillon, wo Tommy sich mit dem Fuß eine der Stufen vom Schnee befreite und sich setzte.

„Dann schieß mal los“, sagte er, „erzähl mir mal, was du über mich raus gefunden hast.“

Spike dachte an den Moment, als er Tommy mit dem Fremden gefilmt hatte und wünschte sich, er hätte es nie beobachtet. Oder nur beobachtet und sich nichts dabei gedacht. Plötzlich hatte er eine klare Vorstellung davon, in was er sich reingeritten hatte.

„Ich hab Lea doch nur davon erzählt, weil ich mir Sorgen gemacht hab“, sagte Spike, blieb zunächst stehen, aber im Laufe seines Geständnisses hockte er sich auf die untere Stufe des Pavillons. „Ich dachte, dass sie es wissen sollte, und außerdem konnte ich doch zu niemand anderem gehen. Wem hätte ich sagen sollen, was ich raus gefunden hatte? Mit John Cole vielleicht, den David mit seinen Fragen immer an den Rand der Verzweiflung gebracht hat, weil er alles ganz genau über die alten Beziehungen zwischen den Inseln wissen wollte? Ich konnte zu niemandem gehen. Aber ich musste es jemandem sagen. Es war Zufall, dass ich dich mit diesem Mann gefilmt habe, den ich auf dem Campus noch nie gesehen hatte. Ich habe erst die Verbindung hergestellt, als David ein paar komische Bemerkungen gemacht hat und als mir klar war, dass er das Originalband von Leas Video geklaut hat. Den Rest habe ich zusammengesucht aus Büchern und im Internet. Es gibt kaum Fotos im Netz, die man zu irgendwas benutzen könnte, es sei denn, sie haben historische oder politische Bedeutung. Und es gibt sehr viele, die ihren Namen geändert haben, um irgendwo unterzutauchen, deshalb erschien es mir sehr unsicher, einfach nach deinem Namen zu suchen.
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Bis zum Schluss war ich mir nicht wirklich sicher, aber jetzt bist du wieder da und wir sitzen hier. Ich hatte also recht. Das warst du in dem Zeitungsartikel.“

„Hast du Kopien von dem Zeug behalten, was du Lea gegeben hast?“

Spike schüttelte den Kopf.

„Was hätte ich damit tun sollen? Es im Fach Geschichte als Arbeit einreichen? Ich habe alles gelöscht, alles weggeschmissen, als mir klar geworden ist, worauf ich da gestoßen bin.“

„Wenn du auch nur einen Teil von dem verstanden hast, Spike, wirst du zu keinem Menschen darüber reden und das alles schnell wieder vergessen. Die Männer, die hinter mir her sind, verstehen keinen Spaß. Wenn die auch nur annehmen, dass du etwas wissen könntest, werden sie dich in die Mangel nehmen.“

„Warst du deshalb verschwunden?“

Tommy hätte ihm sagen können, was sie getan hatten, allein schon, um ihm das Fürchten zu lehren, aber er unterließ es. Spike hätte fragen können, wie er ihnen entkommen war.

„Sie verhören nicht, Spike, sie foltern, wenn sie etwas aus dir herauskriegen wollen. In dieser Sache sind sie an kein Gesetz gebunden, ich glaube nicht einmal, dass sie wirklich offiziell in meiner Sache unterwegs sind. Sie haben vollkommen freie Hand. Sie müssen niemandem Rechenschaft ablegen, sie müssen nur mit einem Resultat nach Hause kommen.“ Er suchte in seiner Jackentasche nach seinen Zigaretten. „Es würde dir nicht einmal helfen, dich an die Cops zu wenden.“

„Ich versuche, es zu vergessen“, sagte Spike, „versprochen.“

„Das ist besser so.“

„Es bleibt ein Geheimnis.“ Spike sprach das Wort „Geheimnis“ sehr nachdrücklich aus.

Tommy reichte ihm die Packung Zigaretten, er nahm sich eine heraus und reichte Tommy seinerseits das Feuerzeug.

„Wie konntest du damit leben?“ fragte Spike vorsichtig, „ich meine, kommt nicht irgendwann der Zeitpunkt, wo du lieber die Strafe abgesessen hättest und alles hinter dir gehabt hättest?“

„Nicht mit meiner Vergangenheit“, sagte Tommy, „wenn ich mich stelle, werde ich nicht einmal die Überführung überleben. Es gibt Männer, die ihre Strafe abgesessen haben und jetzt an Unis irische Geschichte lehren.
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Die einen Privatdozenten-Titel haben. Aber so läuft das nicht für mich.“

„Was hast du anstelle vor?“

Tommy sagte, dass er das auf sich zukommen lassen würde.

„Darf ich dich noch was fragen?“

„Überreiz es nicht.“ Er wusste nicht, ob Spike nur dumm oder verdammt gerissen war, in dieser Situation, in der jeder andere vor Angst in die Hosen geschissen hätte, noch neugierige Fragen zu stellen.

„Ich hab das alles im Internet gefunden und darüber gelesen und ich frage mich die ganze Zeit, ob es wirklich so passiert ist. Ob nicht alles aufgebauscht ist, was man von den Medien serviert bekommt. Es ist schwer zu begreifen, dass es so etwas geben soll in einem Land, das nicht irgendwo in Afrika liegt.“

„Um solche Dinge zu sehen, musst du nicht einmal das Land verlassen“, sagte Tommy, „und ja, diese Zustände sind wirklich so.“

„Wirst du irgendwann wieder nach Hause können?“

Diese Frage machte Tommy zu schaffen, denn sie kratzte an einer Stelle, die er lieber nicht berührte. Manchmal träumte er davon, wieder zu Hause zu sein und wenn er aufwachte, dachte er darüber nach, einfach wieder nach Hause zu fahren. Und wenn es nur die Republik war, in die er zurückkehrte, aber er wusste, dass die Chancen denkbar schlecht standen.

„Selbst, wenn die Truppen morgen abgezogen werden und Nordirland an die Republik angeschlossen wird, ist es für mich unmöglich, nach Hause zu gehen.“

Spike drehte sich zu ihm herum, zog ein letztes Mal an der Zigarette.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass du nicht wiederkommen wirst“, sagte er, „und das ist echt schade. Erst verschwindet David spurlos und dann du. Glaubst du, er taucht wieder auf?“

„Wer weiß“, sagte Tommy. Er stand auf, drückte den schmerzenden Rücken durch und meinte: „Sicher wird er wieder auftauchen. Vermutlich brauchte er nur eine kurze Auszeit.“

„Er lebt noch, meinst du?“

„Sicher“, sagte Tommy. Er behielt für sich, was er wirklich darüber dachte.



Er traf sich mit Joe, dankte ihm für seine Hilfe und gab ihm einen Teil des Geldes.

„So war es ausgemacht“, sagte er, „das war kein Freundschaftsdienst.
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Und es ist auch noch nicht vorbei.“

Joe hörte sich den Bericht an, konnte eine Weile nichts sagen.

„Werden sie wiederkommen?“

„Nicht diese beiden“, sagte Tommy.

„Wie hat Lea reagiert?“

„Davon weiß sie noch nichts. Aber sie ist verdammt tough. Sie wird nicht aufgeben, egal, was passiert. Ich wünschte, ich hätte sie nicht soweit getrieben, bei mir bleiben zu wollen. Ich fürchte, ich weiß, wie es enden wird.“



Er hätte auf die Vorladung warten können, aber sein Gefühl sagte ihm, dass die Zeit drängte. Deshalb marschierte er unangekündigt ins Revier, sagte, er wolle eine Aussage machen und schaffte es erstmals, dass Heather Cushman den Mund hielt. Ein Officer brachte ihn in einen Verhörraum, und wie er erwartet hatte, musste er nicht lange warten. Chief Blake und einer der Kriminalbeamten, der sich als Roger Landry, Lieutenant der Criminal Investigation Division vorstellte, kamen dazu, setzten sich ihm gegenüber. Sie brachten einen Haufen Unterlagen mit, einen Recorder, den sie auf der Mitte des Tisches platzierten.

„Ich brauche noch einen Aschenbecher“, sagte Tommy, „es kann länger dauern und da brauch ich eine Zigarette zwischendurch.“

Dass er es einforderte und nicht um Erlaubnis fragte und damit durchkam, erstaunte ihn kurz. Chief Timothy Blake überließ es Landry, das Verhör zu führen, er saß daneben wie ein Wachhund, aufmerksam und hellwach. Er war in die Rolle des Beobachters geschlüpft, achtete darauf, dass das Verhör im richtigen Rahmen blieb. Landry begann mit dem Tag des Verschwindens, fragte, an was Tommy sich erinnern konnte.

„Ich kann morgens anfangen“, sagte Tommy, „aber das wird sie nicht interessieren. Ich bin mit meinem Wagen nach Turner unterwegs gewesen und ich kann mich noch daran erinnern, dass ich von der Straße abgekommen bin. Ich glaube, ich habe noch gedacht, verdammt, nicht schon wieder ein Unfall, und dann habe ich einen Filmriss. Ich war in irgendeinem Haus, die Fenster waren vernagelt oder abgehängt, jedenfalls war es immer dunkel. Das ist alles, was ich weiß.“

Landry schlug eine der Akten auf, drehte sie so herum, dass Tommy einen Blick hineinwerfen konnte.

„Wir haben den Stationsarzt, der sie behandelt hat, gefragt, wie ihre Verletzungen zustande gekommen sein könnten und das ist das Ergebnis.
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Sie waren fünf Tage verschwunden, Tommy, und es sieht so aus, als habe sie irgendjemand in diesen fünf Tagen durch den Fleischwolf gedreht. Sie waren so ausgetrocknet, dass beinahe ihre Nieren versagt haben. Was ist mit ihrer rechten Hand passiert? Das Gelenk ist nicht nur gebrochen, durch die Handfläche ist etwas durchgeschlagen worden. Dr. Grant meinte, es könnte ein Nagel gewesen sein. Weshalb hat da jemand Jesus mit ihnen gespielt? Wer hat auf sie eingeprügelt, dass ihr ganzer Körper aussieht wie ein Sonnenuntergang? Wer hat ein Interesse daran, ihnen so etwas anzutun?“

Die ganze Zeit saß Chief Blake dabei, ließ Tommy nicht aus den Augen. Er würde sich durch nichts überraschen lassen, aber Tommy wusste, dass er ihn dazu bringen würde, in das Verhör einzugreifen. Das Laufen des Cassettenrecorders war zu hören, die eine Spule wurde kleiner, die andere größer.

„Stellen wir uns vor, ich würde morgen früh aufwachen und könnte mich plötzlich daran erinnern, was passiert ist“, begann Tommy, den Kopf leicht schief gelegt, „und ich könnte ihnen folgendes erzählen. Da waren zwei Männer, die mich in ein einsam gelegenes Haus hätten bringen können, weil sie irgendetwas von mir wollten. Vielleicht könnte ich mich an ihre Gesichter erinnern und ich könnte mich daran erinnern, was der eine gesagt hatte, als er einen Nagel durch meine Hand geschlagen hat. Vielleicht könnte ich mich daran erinnern, dass ich an den Stuhl genagelt war. Wer weiß? Es könnte mir wieder einfallen, welche Fragen sie mir gestellt haben und ob ich sie beantworten konnte. Aber das würde alles nichts bringen, weil es keine Verbindung hat. Wenn ich niemanden anklage, mir die Nieren eingetreten zu haben, hat diese Geschichte sofort ein Ende. Es hat nichts mit Lewiston zu tun, es hat nichts mit irgendjemandem zu tun, der hier lebt. Deshalb ist es in Ordnung, wenn ich mich nicht erinnern kann.“

Chief Blake starrte ihn an. Landry räusperte sich und sagte: „Wie steht es mit dem Verschwinden von David McCann? Einem Bates-Studenten. Ist das Zufall? Oder haben sie etwas damit zu tun?“

„Zu David McCann kann ich leider gar nichts sagen“, sagte Tommy.

Er sagte es mit einem so ehrlichen Bedauern und einer Trauer in der Stimme, dass Lieutenant Landry ihn nur ansah und nickte.
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Er wäre vermutlich nicht weiter darauf eingegangen, weil es nur am Rande ihre Interessen streifte, aber Chief Blake sah es anders. Er stellte die Fragen, die Tommy nicht beantworten wollte, noch weniger als alle anderen Fragen.

„Sie sind mit McCann befreundet. Machen sie sich keine Gedanken darüber, was mit ihm passiert sein könnte? Würden sie seiner Familie nicht gerne sagen wollen, dass es ihm gut geht?“

„Wie kann ich das?“ erwiderte Tommy.

Familie, dachte er, Darren hat hier keine Familie. Sein Dad hat ihn aus Belfast raus gebracht, um zu verhindern, dass das aus ihm wird, was aus uns geworden ist. Er wollte etwas anders für sein Kind, ein besseres Leben auf der anderen Seite der Grenze. Für eine kurze Zeit hat er es geschafft und dann hat Belfast zurückgeschlagen und niemand konnte verhindern, dass Darren mit ansehen musste, was seinem Dad passiert ist. Hätte das verhindert werden können, wäre er niemals in diese Situation geraten und er würde jetzt noch leben. Ich hätte ihn zwingen müssen, nach Hause zu verschwinden, als ich begriffen hatte, was los war. Ich bin mit Schuld daran, was passiert ist, aber ich werde es wieder gut machen. So gut ich kann. und ich werde den Cops nichts darüber sagen. Vielleicht finden sie Darren irgendwo, aber ich bezweifle, dass er jemals wieder auftauchen wird.

Er hörte kaum die scharfen Fragen, die Blake auf ihn abschloss, aggressive Anschuldigungen, Drohungen, bis er schließlich mit der Faust auf Tommys Gips schlug. Das Geräusch würde Chief Blake später vom Tonband löschen, sich mit wachsender Frustration weiter Tommys Reaktion anhören und sich fragen, wieso er überhaupt auf den Gedanken gekommen war, er könnte aus Tommy Gallagher auch nur einen Ton herausbekommen. Der verdammte Ire ließ keinen Laut hören, obwohl er vor Schmerz fast ohnmächtig seitlich vom Stuhl fiel. Sein lädiertes Gesicht wurde erst grau, dann leichenblass und er drehte sekundenlang die Pupillen unter die Augenlider. Landry murmelte an Blake gewandt, so leise, dass es nicht auf dem Band zu hören war, dass er ein solches Vorgehen nicht akzeptieren könne. Das war seine Art, seinem Chef zu sagen, dass er mit solchen verdammten Methoden kein Verhör führen würde.
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Blake fand nicht, dass er einen Fehler gemacht hatte, nicht, wenn Gallagher endlich etwas hören ließ, womit sie ihn packen konnten. Tommy sagte, als er wieder Luft bekam und er sicher war, sich nicht übergeben zu müssen: “Ich fürchte, ich kann ihnen nicht weiterhelfen. Ich kann mich nur an ein unbestimmtes Gefühl erinnern, dass sich diese Sache für mich erledigt hat. Wenn sie nicht weiter darin herumbohren, wird davon niemand mehr etwas wissen wollen.“

Landry sagte, sie würden einsam gelegene Häuser und Hütten absuchen, um möglicherweise den Ort zu finden, an dem er festgehalten worden war, und daraufhin sagte Tommy: „Wenn sie etwas finden, sagen sie mir bescheid.“

„Nehmen wir einmal an, wir hätten bereits etwas anderes gefunden“, sagte Lieutenant Landry. Er hatte eine freundliche humorvolle Stimme und erzählte in seinem Privatleben sicher ausufernde und unterhaltsame Geschichten, er spielte mit dieser Stimme und schaffte es, zu Tommy durchzubrechen, wie Chief Blake es mit Gewalt nicht geschafft hatte. Er flüsterte beinahe, als er fort fuhr: „Wir könnten etwas aus ihrer Vergangenheit herausgefunden haben und es könnte hier zwischen den Seiten stehen. Interessante Dinge könnten dort stehen. Zum Beispiel, dass ein Tomas Gallagher ohne h in Thomas im Jahr... aus Irland ausgewandert ist, um in Boston sein Glück zu versuchen. Allerdings war Tomas Gallagher beim Zeitpunkt seiner Einreise siebenundsechzig Jahre alt. Möglich, dass hier irgendwo auch die Erklärung dafür steht, aber vielleicht möchten sie uns erklären, wie so etwas möglich ist.“

Tommy konzentrierte sich darauf, nicht auf die Mappe unter Landrys Händen zu sehen und erwiderte: „Ohne Tonband und unter vier Augen.“

„Aus welchem Grund?“

„Das ist der Deal.“

Chief Blake schlug auf die Aufnahmetaste des Recorders, schaltete ihn unbeherrscht ab und wandte sich Landry zu. Tommy ahnte, was er von sich geben würde.

„Auf diesen verdammten Deal lassen wir uns nicht ein“, fauchte er, „auf keinen Fall.“

„Chief“, erwiderte Landry und wartete geduldig, bis Blake ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Ich bin für den Deal. Mir geht’s um die Sache, in die ich Licht bringen will und dafür gehe ich auch Kompromisse ein.
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Er sah in Blakes verschlossenes Gesicht und als sein gegenüber nicht reagierte, fuhr er fort: „Ich führe das Verhör alleine weiter.“

Tommy hatte keinen Grund zu triumphieren, ein Teil von ihm hätte lieber weiter den Mund gehalten und Amnesie vorgetäuscht, aber er musste einfach weiterdenken. Wenn er es schaffte, das Verhör nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen und zu lenken, konnte er ein paar Informationen preisgeben. Und wenn er Landry richtig einschätzte, wenn ihm kein grober Patzer unterlief, würde er als freier Mann as Revier verlassen. Chief Blake verließ den Verhörraum, schlug die Tür hinter sich zu. Tommy kratzte sich gedankenverloren an einer verschorften Stelle am Kinn.

„Okay“, sagte Landry, „erklären sie mir den Deal? Weshalb wollen sie Blake nicht mit dabei haben?“

„Mit dem Verhör hat das gar nichts zu tun“, sagte Tommy, „Chief Blake konnte mich noch nie leiden und er ist jemand, dem ich lieber nichts von mir offenbare.“

„Blake ist ein guter Polizist“, sagte Landry und Tommy erwiderte: „Das hat er eben vergessen, als er mir auf das Handgelenk geschlagen hat. Und sie“, Tommy deutete mit der gesunden Hand, in der er den Stummel der Zigarette hielt, auf Landry, „sie haben den Sinn dafür, mir zuzuhören.“

Es ist möglich, dass sie hinter die Sache mit den falschen Papieren gekommen sind, aber wenn da mehr wäre, hätten sie längst einen Haftbefehl, dachte er.

„Fangen wir an“, sagte er, „ich könnte den Mut verlieren, wenn ich zu lange warte.“

Ich könnte begreifen, dass es Schwachsinn sein könnte, was ich hier versuche, dachte er.

„Die Männer, die hinter mir her sind, sind von einer britischen Organisation. Ich kann nicht näher darauf eingehen, weil das eine ganz andere Geschichte ist und ich mit der Sache allein zurecht kommen muss. Selbst ihr Cops solltet euch nicht einmischen, deshalb habe ich auch Douglas nichts davon erzählt.“

„Hat es etwas mit der Army zu tun?“

Wie oft hatten sie darüber brüllend gelacht und dann irgendwann müde resigniert, Besucher, Touristen und andere Fremden über die Republican Army reden zu hören, die diese offensichtlich mit der regulären Army der Republik Irland verwechselten.
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Es kam selten vor, dass sich jemand für diese Belange interessierte; im Grunde hatte kaum jemand Interesse an der irischen Sache außer den Iren selbst.

„Die Vergangenheit holt einen mitunter sehr schnell ein und dann bleibt nicht viel Zeit, um darauf zu reagieren. Was hätte ich tun sollen, als sie mich geschnappt haben? Ich habe meine Haut gerettet und werde auch weiterhin tun und deshalb bleibe ich bei meiner offiziellen Aussage, dass ich mich an nichts erinnern kann.“

„Das stinkt gewaltig nach Ärger.“

„Aber es ist mein Ärger. Ich kann’s am allerwenigsten gebrauchen, wenn Chief Blake anfängt in meinen Akten nach Datenfehlern zu suchen und Gespenster sieht.“

Landry sah ihn misstrauisch an, überlegte lange und begriff, weshalb er den Recorder hatte abschalten sollen. Hätte Chief Blake seine Worte auf Band gehört, hätte er eine verdammt gute Begründung für weitere Nachforschungen gehabt.

„Gibt es einen Grund, weshalb wir nicht eingreifen sollten, obwohl es unsere Pflicht wäre? Nennen sie mir nur einen einzigen Grund, Tommy.“

Er tat es, obwohl er wusste, dass es keine gute Idee war. Er gab Landry die Begründung, dass er Chief Blake davon überzeugen würde, dass sein Verdacht unbegründet war und dabei würde er sich mächtig ins Zeug legen müssen. Tommy sprach es leichthin aus, beobachtete, wie Landry das Gesicht verzog und nickte. Dieses Nicken genügte ihm, denn es gab ihm die Zeit, die er brauchte, um den Rest zu erledigen.

„Kann ich gehen?“ fragte er, „oder wollen sie, dass ich noch irgendwas unterschreibe oder so?“

„Es gibt keinen Haftbefehl, also können sie gehen. Wir melden uns bei ihnen, wenn es etwas neues gibt.“

Landry räusperte sich, erhob sich und sagte sehr förmlich: „Wir sind ihnen dankbar, dass sie freiwillig hergekommen sind zur Aussage. Werden sie erst einmal wieder gesund, Tommy.“

Chief Blake tauchte unmittelbar nach Beendigung des Verhörs in der Tür auf, rauchend vor Wut aber unter Kontrolle. Außerhalb des Verhörraums ließ er sich nicht gehen, dort wusste er, dass er das Gesicht als Chief zu wahren hatte. Allein in seinem Büro würde er Landry wegen dieser Sache allerdings den Kopf abreißen.
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Auf dem Flur neben den Plakaten zur Verhütung von Verkehrsunfällen unter Alkoholeinfluss und gegen Drogenmissbrauch nahm er Tommy wie zur Verabschiedung beiseite, lächelte freundlich und murmelte durch die Zähne: „Ich behalte dich im Auge, Gallagher. Wenn du auch nur einen Furz mehr lässt als gewöhnlich, werde ich es wissen. Was immer da auf der Lake Street passiert ist, das bekomme ich raus. Und ich weiß, dass mit dir irgendwas nicht stimmt. Sobald ich das rausgefunden habe, komme ich mit einem Haftbefehl wieder. Und dann wirst du mir erzählen, was ich wissen will.“

Tommy lächelte ebenfalls; er blieb stumm, obwohl er dazu einiges zu sagen gehabt hätte, aber noch war es besser, Blake für den Moment das letzte Wort zu lassen.

Hauptsache ist, ich komme hier wieder raus. Ich lasse Blake den Triumph, das wird das einzige sein, was er jemals in der Hand haben wird.



Lea war noch im Café und er brachte ihr den Cherokee zurück, wie sie es besprochen hatten. Er hätte es bevorzugt, nur die Schlüssel abzugeben und wieder zu verschwinden, aber Lea hielt ihn fest. Sie orderte ihn hinter die Theke, wo er sich in der Ecke auf einen ausrangierten Stuhl setzte, das kranke Bein von sich schob. Lea nahm sich Zeit für ihn, hockte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf das ausgestreckte Knie.

„Schlimm?“ fragte sie.

Tommy sah sie an, versuchte sich an den Moment zu erinnern, als er sie das erste Mal gesehen und was ihm dabei durch den Kopf gegangen war. Er hatte die vage Vorstellung gehabt, dass sie neben ihrer Jugend und Schönheit etwas hatte, was allen anderen fehlte – sie konnte sich durchbeißen. Er hatte sie angesehen und gewusst, dass sie ein Kämpferherz hatte. Später, beim näheren Kennenlernen, hatte sich dieser erste Eindruck bestätigt und irgendwann hatte er nicht mehr darüber nachgedacht. Lea war ein klasse Mädchen, erstaunlicherweise sein Mädchen, bei der er sich sehr viel jünger fühlte und die meiste Zeit glücklich war. Bei ihr hatte er schnell vergessen, was alles passiert war und was er getan hatte. Jetzt änderte sich die Situation. Sie glaubte, sie könnte damit umgehen, was immer Tommy auch vorhatte, aber je länger er darüber nachdachte, umso mehr kam er zu der Überzeugung, dass er es ihr ausreden müsse.
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Er machte eine gleichgültige Bewegung, legte seine linke Hand auf ihre.

„Ich hab’s hinter mich gebracht. Jetzt will ich mich nur noch hinlegen.“

„Wenn du es noch eine Stunde aushältst, fahren wir zusammen. Ist nicht viel los heute. So kurz vor den Prüfungen kommen die Studenten nur noch vorbei, um sich einen Kaffee für unterwegs abzuholen. Wenn sie sich überhaupt die Mühe durch den Schnee machen. Ich erledige noch die letzten Bestellungen, mache schnell alles sauber und dann fahren wir. Ist das Okay, Großer?“

„Ich werde hier sitzen bleiben und warten, bis du fertig bist.“

Ich muss einen Weg finden, dachte er, sie muss verstehen, dass sie unmöglich mit mir kommen kann. Sie wird nicht auf mich hören, aber vielleicht auf jemanden, der ihr besser und deutlicher vor Augen führt, was ich getan habe. Ich würde es ihr wieder nur erklären wollen, aber das ist der falsche Weg. Sie muss selbst begreifen, dass sie nicht mitkommen kann, weil es ihr Leben zerstören würde.

Lea sah, dass er sich über etwas Gedanken machte, über etwas, was ihm schwer auf der Seele lastete. Sie teilte den letzten Kaffee aus, drehte das Schild auf geschlossen und sagte den letzten beiden Kunden, dass sie gerne in Ruhe austrinken könnten, wenn sie sich nicht daran störten, dass sie mit dem saubermachen begann.

„Hast du Doug gesehen?“ fragte sie, „er hat heute morgen kurz angerufen und wollte wissen, ob er ein paar Sachen von David aus seinem Studentenzimmer haben könnte. Er sucht irgendwelche Hinweise wegen seines Verschwindens.“

„Er war nicht im Revier, als ich dort war.“

Er war auch nicht in dem Haus, in dem sie mich festgehalten haben, jedenfalls nicht mehr zu dem Zeitpunkt. Terry war nicht mit dabei, als sie mich geschnappt und verhört haben, er ist in den ganzen Tagen nicht einmal aufgetaucht. Weil er unterwegs war, Darren abzuservieren und danach war er nicht mehr wiedergekommen.

Tweedle-dee, der den Hammer geschwungen hatte, hatte behauptet, der Mann, der sich Darren als Terry vorgestellt hatte, sei ein noch größeres Arschloch als der Ire, der sich lieber einen Zimmermannsnagel durch die Hand schlagen ließ, als einfach das zu erzählen, was sie wissen wollten. Terry war mit den Exekutionen einverstanden, aber nicht mit den Verhörmethoden und Tweedle-dee erzählte es Tommy nur, weil er sicher war, ihn nach dem Verhör mit einer Kugel das Licht auszublasen.
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Deshalb hatte er mehr erzählt, als er hätte tun sollen und als Tweedle-dum zugelassen hätte, wenn er dabei gewesen wäre. Und er hatte Tommy davon überzeugt, dass es richtig gewesen war, nichts zu sagen und bei erster Gelegenheit zurückzuschlagen.

„Der Junge“, hatte Tweedle-dee gesagt und gelacht, „er hatte ein verdammt helles Köpfchen. Schade drum.“ Und mit diesen Worten hatte er den Hammer geschwungen.

„Ich muss immer wieder daran denken, was ihm passiert sein könnte.“ Es war Leas Stimme, die undeutlich an sein Ohr kam, sich wie durch Nebel zu ihm hindurch arbeitete.

„Er ist zurück nach Irland“, antwortete Tommy. Dieser Gedanke war zu tröstlich und er konnte sich an diese Vorstellung gewöhnen.



Er legte sich auf die Couch, den Kopf auf Leas Oberschenkeln und schlief mit Hilfe der Elefantenpillen endlich langsam ein. Lea hatte das Telefon neben sich gelegt und ganz leise gestellt, tat so, als würde sie sich etwas im Fernsehen ansehen, aber in ihren Gedanken war sie sehr weit weg. Sie dachte daran zu verschwinden, nicht in der Art, wie sie es schon einmal getan hatte, sondern diesmal richtig und gemeinsam mit Tommy. Würde es ihr noch immer so leicht fallen? Würde sie akzeptieren können, was Tommy ihr noch alles erzählte? Spikes Memorandum war schlimm genug gewesen – eine grauenhafte Episode nach der anderen aus einem Land im Bürgerkrieg, mit Bombenanschlägen, Kniescheiben, Straßenschlachten und so vielen unschuldigen Opfern. Die Berichte von Leichenteilen, die man aus Vorgärten sammelte, nachdem wieder eine Autobombe hochgegangen war, von erschossenen Menschen in Pubs und Einkaufsstraßen, von Hinrichtungen in einsamen Gegenden, Männern, denen man Kartoffelsäcke über die Köpfe gezogen hatte. An diesen Dingen hatte Tommy teilgenommen. Was mochte er alles getan haben? Wie konnte er damit leben? Lea versuchte es abstrakt zu sehen, wie ein Soldat, der in einem fremden Krieg seine Pflicht erfüllt hatte und danach nach Hause ging und von diesem Standpunkt aus konnte sie es akzeptieren, aber es verlor nicht am Schrecken. Aber da war der Zeitungsartikel, den Spike gefunden hatte und der sie daran erinnerte, dass sie es sich nicht ganz so einfach machen konnte.
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In dem Artikel war nicht die Rede von Tommy Gallagher, wohl aber von Caolan O'Ciaragain, und sie fragte sich noch immer, wie man diesen Namen aussprach, und davon, wie er aus dem Gefängnis ausgebrochen und nun bereits seit einem halben Jahr verschwunden war. Es war ein detailierter Rückblick auf die Ereignisse, die zu seiner Verhaftung geführt hatten, der Prozess und der anschließenden Flucht, die man in dem Artikel als unausweichliche Konsequenz dargestellt hatte. Caolan ‚Tommy’ O’Ciaragain war nach einigen wenigen Zeugenaussagen auf offener Straße von einem Heckenschützen mehrfach angeschossen worden. Lea hatte sofort mit Entsetzen an seine Narben gedacht, schockiert darüber, wie nahtlos alles zusammenpasste. Der Schütze sei nach den Schüssen spurlos verschwunden, aber es sei anzunehmen, dass es ihm nicht gelungen sein dürfte, das Stadtviertel zu verlassen. Caolan war von Freunden ins nächste Krankenhaus gebracht worden und dort hatten die sofort hinzugezogenen Sondereinheiten der britischen Polizei schnell festgestellt, wer ihnen da ins Netz gegangen war. Seine Rolle in der IRA war nicht klar zu definieren, aber die Staatsanwaltschaft hatte sehr schnell einen ganzen Anklagekatalog zusammengestellt. Alles wartete nur darauf, ob er überlebte oder der Heckenschütze doch gute Arbeit geleistet hatte. Viele Tage lang schien es so, als würde Caolán es nicht schaffen. Als er dann endlich über den Berg war, wartete direkt der Prozess auf ihn, während dessen Verlauf er keine einzige Aussage zu den Anschuldigungen machte. Sein Anwalt wies die Anschuldigungen zurück, konnte aber auch nicht verhindern, dass er zu acht Jahren verurteilt wurde. Er nannte es vor der versammelten Presse ein Skandalurteil, da es weder glaubwürdige Zeugen noch Beweise gegen seinen Mandanten gäbe. Es klang nach reichlich heißer Luft, die er als Anwalt ablassen musste, und der frisch Verurteilte, auf Krücken wegen seines zerschossenen Oberschenkels und trotzdem mit Handschellen an einen Uniformierten gefesselt, sagte nur, als er zu einem Statement gebeten wurde: „Ich warte nur darauf, dass es meinem Bein besser geht.“

Es dauerte ein halbes Jahr, dann gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis, gemeinsam mit zwei weiteren Gefangenen und sein Bein war offensichtlich wieder sehr gut in Schuss, denn er tauchte ab und blieb verschwunden.
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Es gab keine Fotos zu dem Artikel, und obwohl der Name nicht stimmte, hätte Lea ohne zögern bestätigt, dass hier von Tommy die Rede war. Nicht nur, dass sie ihn von der Beschreibung in dem Artikel förmlich vor Augen hatte, auch die Verletzungen stimmten überein – die große Narbe am Oberschenkel, an dem die Chirurgen kreuz und quer geschnitten hatten, die anderen Narben an seiner Seite und an seiner Brust. Er hatte immer behauptet, die Verletzungen in der Army erlitten zu haben und es war nicht einmal wirklich gelogen, denn es hatte nie jemand gefragt, welche Army das gewesen sein könnte.

Oh Gott, Tommy, dachte sie, was hast du nur alles mitgemacht? Und wieso müssen gerade jetzt diese Männer auftauchen und alles kaputt machen?

Die Unterlagen hatte sie im Garten verbrannt, frierend dabeigestanden und beobachtet, wie die blättrige Asche sich im Wind verteilt hatte. Der Schnee um die kleine Feuerstelle war nur in unmittelbarer Nähe geschmolzen, bildete sehr schnell einen Eisring um das verbrannte Papier. Lea stand da, schob mit der Fußspitze die Asche hin und her, kontrollierte, ob noch lesbare Reste dem Feuer entkommen waren. Hinter ihr trat Tommy auf die Veranda, blieb bewegungslos stehen und hoffte, sie würde sich nicht zu ihm herumdrehen, um ihn mit Anschuldigungen zu bombardieren oder schlimmer, in Tränen auszubrechen und Erklärungen von ihm fordern, die er nicht geben konnte. Er vertraute ihr, dass sie alles dort im Schnee verbrannte und nichts übrig behielt. Sie hatte ihn weder gefragt noch bescheid gesagt, als sie mit dem Stapel Papier nach draußen gegangen war. Bevor sie ihn entdeckte, zog er sich ins Haus zurück, verschwand in die Küche, wo er sich an den Tisch setzte und sich darauf konzentrierte, was er zu essen machen wollte.

„Ich hab keinen Hunger“, sagte Lea, als sie zurückkam.



Tommy konnte sich nicht an den Traum erinnern, als er aufwachte, aber Lea meinte, er habe vor sich hingemurmelt und sehr unruhig geschlafen. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, auf der Couch bei ihr eingeschlafen zu sein, aber als er sich vorsichtig in die sitzende Position drückte, wummerten seine Seiten nur schwach und auch sein Arm hatte sich wieder beruhigt.

„Douglas hat angerufen, als du geschlafen hast“, sagte Lea, „er will kurz vorbeikommen.
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„Hat er gesagt, was er will?“

„Vielleicht will er nur sehen, wie’s dir geht.“

Es hatte zunächst wirklich den Anschein, als sei Douglas auf einen Krankenbesuch hereingeschneit – er ließ sich über das Wetter und den bummelnden Streudienst aus, erzählte gut gelaunt, dass er sich Karten für ein Konzert in Augusta besorgt habe und dort nicht allein hingehen würde. Als Lea ihn fragte, ob er eine Verabredung habe, grinste er nur. Er saß in seiner Uniform neben Tommy auf der Couch, hielt seine Tasse Kaffee in der linken Hand, hatte seinen Hut verkehrt herum auf den Tisch gelegt und die Autoschlüssel hineingeworfen.

„Wir sind noch immer auf der Suche nach David“, sagte er, „und bis jetzt sind wir nicht viel weiter gekommen. Christer war im College und hat sich in seinem Zimmer umgesehen, aber bis auf seine Schulsachen hat er nichts gefunden.“

„Ich hätte nichts anderes erwartet“, meinte Tommy müde, „er hat gelernt, keine Spuren zu hinterlassen.“

„Habt ihr euch darüber unterhalten? Dass er weg wollte?“

„Ich hätte ihn zwingen müssen, nach Hause zu fahren, hätte ihn persönlich in den Flieger setzen müssen.“

Lea hatte ihm die Medikamente aufgezwungen, die er gegen eine mögliche Infektion nehme sollte, es aber nicht gerne tat, weil sie ihm auf den Magen schlugen. Sie hatte ihm noch irgendwas gegen die Schmerzen verpasst und er fühlte sich duselig – ihm kam der Gedanke, dass er sich bei diesem Drogencocktail ebenso zwei Whiskey hätte reinkippen können. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Er wusste, was er sagte, auch unter den Drogen, und als Douglas wissen wollte, wie er das meinte, rückte er vorsichtig seinen angespannten Rücken zurecht und legte seine gesunde Hand an die Seite. Nicht nur, dass ihm von den bitteren Tabletten kotzübel wurde, seine Nieren taten bei jeder Bewegung weh und leider auch, wenn er sich überhaupt nicht bewegte.

„Als ich begriffen habe, in was er sich hineinbegeben hat, hätte ich sofort reagieren müssen. Ich wusste, dass er den Absprung nicht schaffen würde, weil er so versessen darauf war, diese Typen dranzukriegen. Es war kein Zufall, dass er am Bates aufgetaucht ist. Er hat sich auf mich ansetzen lassen.
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Zuerst dachte ich, er wäre auf ihre linke Tour reingefallen, aber irgendwann bin ich dahinter gekommen, dass er an sie rankommen wollte. Ich weiß nicht, was er vor hatte, aber es ist nach hinten losgegangen. Er ist nicht nur verschwunden. Ich fürchte, sie haben ihn abserviert.“

„Wie konnten sie ihn auf dich ansetzen?“

„Ich hab lange mit seinem Dad zusammengearbeitet. Und Kieran hat mich damals nach Boston geholt. Er hat mir in einer Situation geholfen, als ich am liebsten aufgegeben hätte – er hat alles Menschenmögliche für mich getan und deshalb ist es für mich doppelt so schlimm, dass das mit seinem Sohn passiert ist.“

„Hat du noch Kontakt zu ihm? Du musst ihn anrufen und ihm sagen, was passiert ist.“

„Sinnlos“, sagte Tommy und es klang sehr hart, als er dieses eine Wort aussprach. Sein Gesichtsausdruck entkräftete dieses Wort etwas, aber als Lea ihn weiter irritiert anstarrte, erklärte er widerwillig: „Kieran lebt nicht mehr. Nach seinem Tod ist Darrens Mutter nach Irland heimgekehrt. Da sollte er auch sein. Zu Hause.“

Douglas fragte irritiert, weshalb er David Darren nannte und als er es verstanden hatte, sagte er mit eisiger Stimme: „Heißt das, dass du uns alle verarscht hast, als du so getan hast, du würdest ihn nicht kennen? Du hast von Anfang an gewusst, was ablaufen würde.“

Tommy verteidigte sich nicht, obwohl er hätte sagen können, dass er erst sehr viel später begriffen hatte, wer David in Wirklichkeit war; aber er nahm den Vorwurf auf sich, weil er die Schuld zu tragen hatte. Er wollte sich nicht rausreden oder entschuldigen, Douglas hatte vollkommen recht wütend auf ihn zu sein.

„Was steckt dahinter?“

Lea sprang ein, kam ihm zur Hilfe und sagte mit sehr ruhiger Stimme: „Verstehst du es nicht, dass sie Darren nur benutzt haben, um an Tommy ranzukommen? Sie wussten genau, dass er sofort verschwunden wäre, wenn sie es anders angegangen wären. Darren hat die Drecksarbeit für sie gemacht.“

„Wussten sie von dieser alten Verbindung?“

„Ich fürchte, sie haben ihn aus diesem Grund ausfindig gemacht und eingewickelt.“ Tommy sprach wie zu sich selbst. „Sie haben sich ihm gegenüber als Splittergruppe ausgegeben und gaben vor, mich für Aktionen einspannen zu wollen. Das hat er ihnen abgekauft, und als ihm klar geworden war, dass etwas nicht stimmte, war es zu spät.
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„Hast du mit diesen alten Sachen abgeschlossen?“

„Ja“, sagte Tommy. Er dachte an seinen Dad, er immer etwas geahnt, ihn aber niemals zur Rede gestellt hatte, und mit dem er nie über diese Dinge gesprochen hatte.

„Hättest du wieder damit angefangen?“

„Dazu müsste ich nach Hause zurück. So einen Krieg kann man nicht aus dem Exil führen.“

„Wäre das der einzige Grund für dich? Dass du nicht zu Hause an der Front bist?“

„Ich habe zwanzig Jahre lang gekämpft, dann habe ich den Platz für die Jüngeren geräumt. Mehr kann ich dazu heute nicht sagen.“

Er war ausgelaugt und todmüde, sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit rostigen Schrauben gefüllt und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er wäre aufgestanden und aus dem Raum gegangen, hätte Douglas weiter Fragen gestellt und Antworten verlangt, aber das tat er nicht. Er saß stumm da, starrte vor sich hin. Lea befürchtete, er könnte mit irgendeiner unschönen Reaktion herausplatzen.

Er ist Polizist, dachte sie, nie im Leben wird er das alles schlucken und nichts deswegen unternehmen. Vielleicht war es keine gute Idee, ihm davon zu erzählen.

„Was soll ich jetzt mit dir anstellen?“ fragte Douglas. Er klang entnervt, aber nicht entschlossen bis zum letzten; dann hätte er Tommy nicht gefragt, wie er sich das weitere Vorgehen vorstellte. Tommy sah ihn prüfend an, vertraute auf seine Menschenkenntnis und darauf, dass Douglas ihre Freundschaft höher einschätzte als seinen Berufsethos.

„Du hilfst mir am meisten, wenn du das alles für dich behältst. Wenn wir viel Glück haben, hat sich die Sache erledigt, aber ich fürchte, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Ich werde verschwinden müssen.“

„So was kannst du mir nicht sagen und von mir verlangen, dass ich nichts unternehme. Du kannst nicht einfach verschwinden.“



Tommy konnte nachts nicht schlafen, obwohl Lea ihm Schmerzmittel gab und er bestätigte, dass er hundemüde sei. Sobald er die Augen schloss, drehte sich alles, als würde er in einem Kettenkarussell sitzen.

„Was ist los mit dir?“ flüsterte Lea, drängte sich vorsichtig an seine Seite, „ich bin doch bei dir.
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Du kannst ruhig schlafen.“

„Mir geht zu viel durch den Kopf.“

„Ich kann dich ablenken von deinen Gedanken.“

„Nein“, sagte er, „ich muss über vieles nachdenken.“

„Was haben sie mit dir gemacht, als sie dich festgehalten haben?“

„Es war bei weitem nicht so schlimm, wie es sich anhören würde. Ich meine, ich kann damit leben, was passiert ist, aber noch kann ich dir davon nichts erzählen.“

„Du hast mir von den anderen Dingen erzählt.“

„Ich habe gerade mal an der hässlichen Oberfläche gekratzt.“

„Es macht mir nichts aus.“

Ihre warme Nähe beruhigte ihn, wenn es auch nicht verhinderte, dass ihm weiterhin wirre Gedanken durch den Kopf marschierten. Alles verwirbelte in seinem Kopf, er brachte Ereignisse und Zeiten durcheinander und alles wurde durch einen bedrohlichen Unterton zusammengehalten. Er war nicht in der Lage, sich aus diesem Albtraum zu befreien, konnte sich nicht zwingen, an etwas anderes zu denken. Begann er davon zu erzählen, was sie mit ihm gemacht hatten, musste er es fortführen, wie er ihnen entkommen war. Was er getan hatte, um sie zu überwältigen und wie er es verhindert hatte, dass sie es noch einmal versuchten. Das war eine andere Liga als ihr beichten zu müssen, was er vor zwanzig Jahren in einem anderen Leben getan hatte. Und er fühlte sich nicht besser, als er morgens aufstand und sich dazu entschloss, Lea ein anständiges Frühstück zu machen und sie zu bitten, nicht ins Café zu fahren. Zu seiner Überraschung stimmte sie zu.

Sie verbrachten einen ruhigen gemeinsamen Morgen, nur unterbrochen von den Katzen, die ein wenig pikiert darüber waren, das Haus an diesem Vormittag nicht für sich zu haben. Tommy und Lea hätten unter normalen Umständen ausgedehnten Sex gehabt, aber zog man seine Verletzungen in Betracht, verschwendeten sie keinen Gedanken auch nur an eine abgewandelte Form von Sex und verbrachten sie Zeit mit Reden. Douglas hatte sich mit den Worten verabschiedet, dass er eine Nacht darüber schlafen müsse, um sich entscheiden zu können und Tommy war der Meinung, dass er länger als acht Stunden dazu brauchen würde. Als das Telefon klingelte, glaubten sie schon, Douglas würde sich melden.
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Tommy nahm ab und war sehr einsilbig. Er legte auf und sagte: „Pack ein paar Sachen zusammen.“

Lea starrte ihn an, blass und mit blutleeren Lippen.

„Nur für eine Nacht“, sagte Tommy, „höchstens zwei. Den Katzen stell ich Trockenfutter hin und wir sind schneller wieder hier, als ihnen lieb sein wird.“

„Wo fahren wir hin?“ fragte Lea.

„Das erfahren wir unterwegs“, antwortete Tommy, „wenn ich sicher bin, dass uns niemand folgt.“

Zwanzig Minuten später waren sie im Cherokee unterwegs, auf der Interstate 495 nach Portland, Lea hinter dem Steuer und Tommy mit seinem Mobile neben ihr. Sie zuckte zusammen, als es klingelte, warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Tommy sprach auf gälisch und sie ahnte, was er sagte.

Es ist niemand hinter uns her, wir sind sicher.

Er bekam den Zielort genannt und als er laut auflachte, sich an die Seite griff und trotzdem noch lachte, dachte sie, dass alles gar nicht so schlimm werden konnte.

„Wo geht’s hin?“ fragte sie.

„Nach Portland. Ins Clover-Ferien-Motel. Wir können golfen und die Sauna besuchen.”

„Ich kann nicht golfen.“

„Ich auch nicht“, sagte Tommy.



„Erinnerst du dich an den Gast, der in den letzten Wochen öfters im Café gewesen ist? Der mit den blonden kurzen Haaren und von dem du gesagt hast, es gefällt dir nicht, wie er mich anstarrt?“

„Was ist mit ihm?“

„Ich war mit ihm zusammen“, sagte Lea, „ich war fünfzehn und hab gedacht, er sei die Liebe meines Lebens. Ich war verrückt nach ihm. Meine Eltern sind ausgeflippt deswegen und als sie mich dazu zwingen wollten, mich von ihm zu trennen, hab ich meinen Rucksack gepackt und bin durchgebrannt.“

Fünfzehn und unsterblich verliebt in den Jungen zwei Straßen weiter, der sich in den gemeinsamen Kursen immer neben sie gesetzt hatte und an dem eigentlich nichts besonderes gewesen war, außer dass sein blondes Haar wundervoll lang und lockig gewesen war und er ein verdammt guter Baseballspieler sein konnte, wenn er sich Mühe gab. Lea und er kamen zusammen, als sie gemeinsam für eine Prüfung büffelten, gaben es schnell auf, ihre Verbindung geheim zu halten. Sie drohte ihren Eltern, einfach wegzulaufen, sollten sie nicht akzeptieren, dass sie sich verliebt hatte, aber sie nahmen sie nicht ernst.
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Ihr Vater meinte, sie würde nach zwei Tagen hungrig und heulend vor der Tür stehen, deshalb solle sie ruhig durchbrennen. Lea hatte ihren Rucksack gepackt und sich verbissen vorgenommen, nie wieder nach Hause zurückzukehren; hatte ihren blonden Freund an der Ausfahrtsstraße getroffen und sie waren trampend durchgebrannt.

„Wir waren ein halbes Jahr fort“, sagte Lea, „zwar haben wir Postkarten nach Hause geschickt, damit unsere Eltern wussten, dass es uns gut ging, aber wir wollten nicht zurück. Die Schule war egal. Ich wollte, dass er sich einen Job sucht und wir zusammen in einer kleinen Wohnung glücklich zusammen lebten, bis wir heiraten konnten, aber Oliver bekam kalte Füße. Nach sechs Monaten wollte er zurück nach Hause, er hatte keine Lust mehr, sich durchzuschlagen und er sagte, er würde mich nicht mehr lieben. Dafür habe ich ihn gehasst. Ich nannte ihn einen Waschlappen und ein Muttersöhnchen und was blieb mir anderes übrig, als auch nach Hause zu gehen. Alleine hatte das Durchbrennen keinen Sinn. Allerdings habe ich den bequemeren Weg gewählt für die Rückreise von Montana nach Lewiston. Er ist getrampt und zweimal fast überfahren worden, und ich bin einfach ins nächste Polizeirevier gegangen und hab gesagt, ich sei eine Ausreißerin und wolle wieder nach Hause.“

Sie nah die linke Hand vom Lenkrad und ahmte mit ihr ein endlos plapperndes Mundwerk nach.

„Ich musste mich zwar eine Stunde mit einer Jugendpsychologin unterhalten, aber dafür haben sie mich erster Klasse nach Hause gefahren. Zu Hause haben sie mich behandelt, als sei ich gekidnappt und endlich befreit worden und mein Dad hat es nicht mehr als Lappalie abgetan, wenn ich ihm gedroht habe. Oliver hat die Schule gewechselt und das Jahr nachgeholt und irgendwann ist er ganz aus Lewiston verschwunden. Schon seltsam, ich hab gedacht, er sei die wahre endlose Liebe, dann ist das ganze in Hass und Wut umgeschlagen und danach habe ich ihn nicht einmal mehr vermisst. Habe erst nach Monaten überhaupt bemerkt, dass er nicht mehr da war.“

„Aber jetzt ist er wieder aufgetaucht.“

„Mit seiner Frau und einem Zwillingspärchen. Ich glaube, die nächste Packung ist auch schon wieder unterwegs.
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Er interessiert mich nicht mehr, Gott bewahre, aber jetzt erinnere ich mich daran, wie wir ausgerissen sind. Das war nicht spontan damals, es war überlegt, angedroht und durchgeführt.“ Sie machte eine fragende Geste zu Tommy hinüber, als sie an der Kreuzung standen.

„Hier auf die 95 geht’s schneller“, sagte sie, „wenn wir es eilig haben. Haben wir es eilig?“

„Nein“, sagte Tommy.

„Ich hab dir das mit Oliver und mir erzählt, damit du weißt, dass ich für gewöhnlich das durchziehe, was ich mir vornehme. Also sei darauf gefasst, was auf dich zukommen könnte, wenn du mich fragst.“

„Du tust wirklich alles, um mitzukommen.“

„Du bist vorgewarnt. Und jetzt möchte ich nur noch wissen, was in Portland auf mich wartet.“

Über den Highway 95 kamen sie nach Portland herein, fuhren Richtung Westen bis nach Cumberland Mills hinein. Das Motel lag am Haskell Pont, ausgerichtet auf Camper und durchreisende Familien und bereitete sich auf die bevorstehende Wintersaison vor. Wie viele andere Hotels schloss auch das Clover im Dezember, verfiel in einen Winterschlaf, um Anfang Mai wieder wach geküsst zu werden. Es war perfekt, denn die Angestellten waren mit den Vorkehrungen zum Einmotten beschäftigt und außer ihnen waren nur zwei Familien in der Anlage. Tommy übernahm das Einchecken, erzählte munter, er habe sich beim Skifahren auf die Nase gelegt und bat um ein Zimmer, in dem man seine Ruhe hatte. Lea hatte ihre Ledersporttasche über die Schulter gehängt, lächelte versonnen und bewunderte ihn dafür, wie er aus seiner Haut schlüpfte.

Sie bezogen ein erstaunlich großräumiges Zimmer mit Doppelbett und Kabel-TV, durch das Fenster hatten sie einen schönen Blick auf den See.

„Im Sommer muss es hier phantastisch sein“, sagte Tommy.

Der See war eisiggrau, die kahlen Bäume am Ufer sahen aus wie düstere Tuschezeichnungen. Lea setzte sich auf das Bett, sah sich sorgfältig um. War das die Zukunft? Ein Leben in unauffälligen Motels und Absteigen, alle drei Tage in einer anderen Stadt? Sie mochte noch nicht darüber nachdenken und außerdem drängte sich etwas ganz anderes in den Vordergrund.

„Bekommen wir hier auch etwas zu essen?“

Tommy drehte sich zu ihr herum, spielte mit dem Zimmerschlüssel, an dessen Ring eine große gelbe Plastikkarte hing.
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„Du hast schon wieder Hunger?“

„Ich bin nervös“, sagte sie, „ich hätte gerne was zu knabbern.“

„Ich hol dir was“, erwiderte er, hatte seine Jacke noch nicht ausgezogen, zog umständlich den Reißverschluss wieder hoch. „Brauchst du sonst noch was? Wenn ich schon mal auf dem Weg bin.“

„Nein, sonst hab ich alles eingepackt.“

Er zog die Tür hinter sich zu und Lea konnte sehen, wie er am Fenster vorbei zum Haupthaus hinüber ging. Ihr erster Impuls wäre gewesen, den Fernseher anzuschalten, aber was gab’s da schon zu sehen, was sie zu Hause nicht auch hätte sehen können. Und sie wollte sich nicht ablenken lassen von den Dingen, die sie hergeführt hatten. Es klopfte an der Tür und sie sprang auf, um Tommy zu öffnen, dachte, er habe die Arme voll und könnte deshalb den Schlüssel nicht benutzen. Zwei Männer standen vor ihr, drückten sich an ihr vorbei durch die Tür und der letztere der beiden sagte, sie solle die Tür schließen. Sie dachte, sie würde erstarren vor Angst, aber als sie erwiderte, dass er nicht da sei, klang ihre Stimme so normal, als habe eine fremde Person sie benutzt.

„Wissen wir“, sagte der Mann, der sie angesprochen hatte, zog sich den Stoff bezogenen Holzstuhl heran und setzte sich, während sein Kollege an der Tür zum Bad stehen blieb. Lea blieb nahe der Tür, mit dem Hintergedanken, verschwinden zu können, sollten sie auch nur eine komische Bewegung machen.

„Ich kann ihnen leider nichts anbieten“, sagte sie, versuchte locker zu bleiben und kam sich dabei vor wie eine schlechte Schauspielerin, „wir sind noch nicht komplett eingerichtet.“

Die Männer sahen sie unverwandt an und erwiderten nichts.

Okay, dachte sie, stur stellen kann ich mich auch.

Sie setzte sich auf die schmale Fensterbank, ließ die Beine baumeln und betrachtete abwechselnd die Spitzen ihrer Turnschuhe und die unbeweglichen stummen Männer. Es schien Jahre zu dauern, bis Tommy zurückkam, eine Papiertüte ohne Aufdruck im Gipsarm. Beim Anblick der Männer machte er ein komisches Geräusch in der Kehle.

„Lea“, sagte er, „darf ich vorstellen. Du teilst gerade den Raum mit siebzig Jahre Knast.
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Kommentar von "weltuntergang" zu "Abschied nehmen"

Schweres und schönes Gedicht. Gefällt mir sehr total. Ganz liebe Grüße

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