Kurzgeschichten · Erinnerungen

Von:    Klaus Asbeck      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. November 2008
Bei Webstories eingestellt: 26. November 2008
Anzahl gesehen: 2511
Seiten: 2

Als ich jung war, hatte ich drei wertvolle Schätze: meinen gütigen und weisen Grossvater, meine unbegrenzte, farbenprächtige Fantasie und meine Empfindsamkeit. Meinen Grossvater durfte ich nicht behalten, die beiden anderen Schätze haben mich, ihre Formen verändernd, mein Leben lang begleitet – bis zum heutigen Tage.



Wenn ich seinerzeit am späten Nachmittag vom Spielen heimkam, erhitzt und voller neuer Eindrücke, dann schlich ich mich meist sofort zu meinem Grossvater, denn Mutter wollte nicht, dass ich ihn ständig belästigte, wie sie meinte.

Ich setzte mich vor ihn hin und wartete. Grossvater lächelte und wartete auch, obwohl er mein Anliegen bestens kannte. Damit rückte ich dann auch nach zwei oder drei Minuten raus, die seinerzeit eine Ewigkeit dauern konnten: „Grossvater, liest Du mir eine Geschichte vor?“ Grossvater seufzte sehr tief: „Nun, wenn Du mir versprichst, dass du nicht wieder weinst, wenn es traurig wird.“ „Versprochen, Grossvater, grosses Indianerehrenwort.“

Grossvater stand auf, suchte im Bücherschrank ein Buch und meinte, dass jedenfalls die Indianer ihr Wort gehalten hätten.



Wenn es draussen dunkel war, setzte er sich mir gegenüber dichter an eine Stehlampe und begann zu lesen, wobei er mich ab und an über den Brillenrand anschaute. Um mich versank sodann augenblicklich die Welt, und vor Aufregung kribbelten mir die Füsse.



An eine Geschichte erinnere ich mich lebhaft bis zum heutigen Tag:

Ein politischer Gefangener sollte deportiert werden und stand in Fussfesseln nebst den anderern bewachten Gefangenen auf dem Bahnsteig, wo sie mit dem Zug abtransportiert werden sollten. Es war ein alter Mann. Sein graues Haar reichte ihm fast bist auf die Schulter. Er schaute mit trübem Blick auf seinen Hund, der ihm trotz der Fusstritte der Wachmannschaft bis hierhin gefolgt war. Der Alte hob den Blick, schaute seinen Bewacher an und bat diesen nach einer zögerlichen Pause eindringlich, ob er wenigstens seinen Hund mitnehmen dürfe. Der Wachsoldat schüttelte verneinend den Kopf. Der alte Mann streichelte daraufhin seinen Hund, der freudig mit seinem Schwanz wedelte. Er sprach mit müder Stimme: „Wenn es so ist und unabänderlich, dann bitte ich Dich, junger Mann, im Namen Deiner Mutter und im Namen der Barmherzigkeit, meinen Hund hier und jetzt zu erschiessen, denn ohne mich müsste er schlimm leiden.
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Der Soldat erblickte die feucht-trüben Augen des Alten, schaute um sich, zog seinen Revolver aus dem Futeral und tötete den Hund mit einem gezielten Kopfschuss.

Der alte Mann beugte sich nieder zu seinem toten Hund, nahm seinen blutigen Kopf in seine Hände und murmelte: „Gute Reise, mein treuer Freund. Ich bitte Dich um Verzeihung. Wir sehen uns bald wieder.“ Er richtete sich auf und dankte dem Soldaten, wobei er nicht verhindern konnte, dass ihm die Tränen die Wangen herunterliefen und sich in seinem langen grauen Bart verloren.



An dieser Stelle legte mein Grossvater das Buch zur Seite und meinte fragend: „Und Dein grosses Indianerehrenwort?“ Denn ich schwamm bereits schluchzend in Tränen. Die Fragen und meine Fassungslosigkeit überstürzten sich. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Selbst die hingehaltene Keksdose von Grossvater versagte ihren Dienst. Grossvater nahm meine kleine verschmierte Hand in seine beiden feingliedrigen, gepflegten Hände und meinte: „ Nun beruhige Dich doch. Es ist doch nur eine Geschichte.“ „Aber Du weißt es genau, Grossvater, dass es nicht nur eine Geschichte ist,“ stotterte ich. Und nach einer Pause, nachdem ich meinen Kummer und meine Fragen sortiert hatte, fragte ich ihn: „Grossvater, warum tun die Menschen das, und warum musste der brave Hund sterben?“

„Ach, mein Junge, Deine erste Frage ist sehr schwer zu beantworten. Wenn Du Dein Paradies verlassen hast, und Du Dich später ungeschützt den Menschen stellen musst, dann wirst Du erkennen, dass es vielerlei Arten von Menschen gibt, darunter nicht wenige bittere, deren Verfehlungen wohl auch mit der Seelenwanderung in Zusammenhang stehen. Wenn ich hier nicht mehr bin, wirst Du Dich an meine Worte erinnern und begreifen, was ich damit meine.



Deine zweite Frage, warum der brave Hund sterben musste, ist leichter zu beantworten. Gottlob kommt es nur selten vor, dass eine tiefe Freundschaft zwischen Mensch und Tier auf eine derart grobe Art und Weise aufgelöst werden muss. Und glaube mir, es gehörte für den alten Mann viel Mut dazu, seinen besten Freund dergestalt vor langem Leiden zu bewahren.



K.A., 20.III.2007
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Punktestand der Geschichte:   154
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Kommentare zur Story:

  Eine traurig- schöne Geschichte.  
   Jochen  -  18.05.09 15:40

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  passt, mein Lieber.
bis die Tage.
halte durch.
A., Düssel  
anonym  -  28.11.08 16:43

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Homo Faber" zu "Der Zug"

Hallo, ein schöner text, du stellst deine gedanken gut dar, trifft genau meinen geschmack. lg Holger

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