Trauriges · Kurzgeschichten

Von:    Phan-Thomas      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 16. September 2008
Bei Webstories eingestellt: 16. September 2008
Anzahl gesehen: 2215
Seiten: 2

Schlurfende Schritte nähern sich der Tür zur Zweizimmerwohnung im zweiten Stockwerk des alten Mietshauses in der Berliner Innenstadt. Herr Walter führt den Schlüssel ins stockende Schloss und öffnet mit einiger Mühe die Tür. Frustriert wie jeden Abend wirft er die Arbeitstasche in die Flurecke, schiebt sich weiter bis in die dunkle Küche und plumpst auf seinen klapprigen Küchenstuhl. Zeit für eine Verschnaufpause, den Blick gedankenlos auf den zerkratzten Holztisch gerichtet. Wie lange er dort so sitzt? Manchmal eine halbe Stunde, oft auch eine ganze. Und nicht selten wohl sogar länger.



Irgendwann, so wie jeden Abend, steht er, begleitet vom Klappern des Stuhls, dann doch mühsam auf und geht gebeugt zum Kühlschrank. In diesem wartet eine neue erfrischende Flasche Wodka auf seine schwache Hand. Herr Walter trinkt gern, tatsächlich so gern, dass er das jeden Abend wieder tut. Wie sonst soll er seinen beschissenen Bürojob überhaupt ertragen? Ganz abgesehen von seinem komplett versauten Leben: Die Freunde hat er längst schulterzuckend hinter sich gelassen, das Geld meist ausgegeben, bevor es überhaupt in der eigenen Brieftasche landet. Und seit zwei Monaten macht ihm auch noch sein Magen zu schaffen.



Aber der klare, plätschernde Wodka mit seinem reinen, ehrlichen Geschmack, der kann Herrn Walter doch immer wieder aus seinem Loch herausholen, für eine Weile zumindest. Ja, normalerweise geht es ihm nach einem halben Fläschchen Zauberwasser wirklich ausgezeichnet. Normalerweise. Denn heute will ihm sein lieber Freund Alkohol einfach nicht helfen. Zwar dreht sich seine unaufgeräumte Wohnung wohlig wabernd um ihn, und die Magenschmerzen sind auch für eine gnädige Weile verstummt.



In seinem Kopf allerdings fühlt sich alles anders an als sonst. Der anfängliche Rausch, der sonst seinen gepeitschten Verstand in einen gnädigen Nebel hüllt, will ausbleiben. Stattdessen hebt die erste Wirkung des Alkohols seine längst verstorben geglaubte Vernunft zurück ins Leben. In diesem Augenblick des völligen Bewusstseins hat Herr Walter erkannt, dass er so nicht weiterleben möchte und es auch nicht mehr lange kann. Vielleicht, nein wahrscheinlich hat der verbliebene Teil seines Verstandes genau heute Abend ein Einsehen, bevor der Wodka ihn mundtot machen konnte.
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Diesem Umstand hat Herr Walter nun seinen ganz eigenen Moment der inneren Erleuchtung zu verdanken: So plötzlich wie offenbar notwendig bringt er es fertig, sein eigenes Dasein durchscheinender zu betrachten, als eine Flasche Wodka jemals sein könnte. Dieses Dasein, sein Tag, seine Woche, sein Leben - alles muss sich ändern, ab jetzt und solange er noch Herr seines Verstandes sein kann!



Der grässliche Job muss weg, das ist nun klar. Herr Walter wird einen neuen finden, wenn er das wirklich will. Und dafür muss auch der scheußliche Alkohol endlich verschwinden, der seinen Verstand bisher so trügerisch umschmeichelt und taub geredet hat. Und zynischerweise hat genau dieses teuflische Gift ihm den Ruck verpasst, den er gebraucht hat, um die verrosteten Zahnräder in seinem Hirn wieder auf Touren zu bringen. Herr Walter weiß, dass nur er selbst sein Leben verbessern kann, jetzt, wo wieder selbst der Strippenzieher sein kann.



Beschwingt vom Rausch seiner Blitzerkenntnis springt er auf, packt schwungvoll die noch halb volle Flasche Wodka und marschiert leicht taumelnden Schrittes zum Spülbecken, um sein Laster endgültig im Abfluss der Vergangenheit verschwinden zu lassen. Leider jedoch tritt er genau dabei auf die leere Flasche, die er gestern völlig betrunken während seiner geistigen Abstinenz zu Boden gestoßen hat. Abfangen kann er den unverhofften Sturz nicht, der schneller vonstatten geht, als seine bereits trägen Sinne dies noch realisieren könnten. Beim Versuch lassen seine hilflosen Finger lediglich die Flasche fallen. Und so rollen schließlich beide Wodkaflaschen für einen scheinbar endlos langen Augenblick laut rauschend über den Fußboden, um letztlich doch still liegen zu bleiben - ebenso still wie Herr Walter, der sich beim Sturz auf die Tischkante das Genick gebrochen hat.
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Punktestand der Geschichte:   63
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Interessante Kommentare

Kommentar von "Kleine Meerjungfrau" zu "Bah, Ekelattacke"

Muahhhh, bah, widerlich, ekelhaft... Wie kommt man denn auf soetwas?? Da hast du dich aber geekelt an dem Tag, oder? Und du steckst die anderen damit an. Auch wenn der Inhalt fies ist, ein gelungener ...

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Kommentar von "axel" zu "Herzflattern"

Wie zärtlich, sehr gelungen.

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