Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Christian Sander      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 17. Mai 2008
Bei Webstories eingestellt: 17. Mai 2008
Anzahl gesehen: 1851
Seiten: 11

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Dicke Schneeflocken schwebten vom Himmel hinab und bildeten einen sanften, weißen Teppich im Garten der Jenssens. Weihnachten war erst zwei Wochen her und der geschmückte Baum stand noch immer im Wohnzimmer und ließ den Raum in einem majestätischen Licht erstrahlen. Draußen hing eine Lichterkette über dem Verandavordach und gab diffuses Licht an die Umgebung ab.

Im Kamin brannte ein Feuer. Es war Abend, das Essen war bereits seit einer halben Stunde vorbei und Lilly spielte in ihrem Zimmer mit ihrer neuen Barbie. Sie hatte sich die Puppe zu Weihnachten gewünscht und bekam sie schließlich mit einer kompletten neuen Garnitur an Kleidungsstücken. Tanja gab ihr, kurz bevor sie die Treppe in ihr Zimmer hochging, zu verstehen, dass sie in einer halben Stunde bettfertig gemacht wird. Tanja selbst war damit beschäftigt das Geschirr vom Esstisch zu entfernen. Mark nahm derweil erschöpft im Sessel im Wohnzimmer Platz und betrachtete das Feuer. Es war ein besonders harter Arbeitstag für ihn. Laufend musste er vom Gericht zur Kanzlei und wieder zurück, nur weil sich die Umstände im Fall seines Mandanten ständig änderten. Das Verfahren war noch lange nicht vorbei, denn immer neue Beweise wurden entdeckt. In einem solchen Fall hatte Mark oft die Lust verlassen, den Fall abzuschließen um ihn einem Kollegen zu übergeben, der solche kniffligen Fälle mochte. Mark scheute sich allerdings nicht vor Arbeit. Nur dieser Fall schien ihm den letzten Nerv zu rauben und er wollte endlich wieder vernünftig arbeiten. So, wie diese Geschichte verlief, konnte er kaum richtig arbeiten, denn seiner Auffassung nach, musste er als Anwalt die Kontrolle haben. Die schien ihm nun zu entgleiten, das spürte er immer deutlicher. Sein Mandant war da keine große Hilfe, denn durch seine wechselnden Aussagen machte er es dem Gericht schwer, seine Version der Geschehnisse zu glauben. Er stand in dem dringenden Verdacht, sein Sohn wegen Trunkenheit am Steuer getötet zu haben. Der Sohn nahm das heiß geliebte Auto des Vaters und setzte es vor einen Baum. Damit war das Ein und Alles des Mannes zerstört worden. Das sprach ziemlich für den miesen Charakter des Mannes, dachte Mark. Diesem Kerl war sein Wagen wichtiger als sein Sohn, denn er soll dermaßen wütend gewesen sein, dass er seinen eigenen Sohn mit dem Kabel der Nachttischlampe erwürgt haben soll.
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Dieser bestritt das natürlich und meinte, dass es die Schuld seines Sohnes war, der die Last nicht ertrug. Er plädierte somit auf Selbstmord. Die Staatsanwaltschaft bezweifelte diese Erklärung stark. Für Marks Mandanten sprach nur der Umstand, dass man seine Fingerabdrücke nicht auf der Tatwaffe fand. Dafür war sein Alibi mehr als dürftig. Er behauptete steif und fest, den Hund ausgeführt zu haben. Als er seine Strecke beschrieb, konnte man ihm nachweisen, dort nie gesehen worden zu sein. Daraufhin änderte er einfach die Strecke unter dem Vorwand, dass die Ereignisse um seinen lieben Sohn seine Erinnerung vernebelte und er sich nur bruchstückhaft an den Tag erinnern konnte, der mittlerweile zwei Monate zurücklag.

Mark rieb sich durchs Gesicht. Tanja kam von hinten zu ihm und stellte ein kaltes Bier auf den kleinen Beistelltisch neben dem Sessel. Sie fragte ihn gar nicht erst nach seinem Tag, denn sie konnte die Antwort bereits von seinen Augen ablesen. Bisher hatte er ihr jedes Detail, ohne Nennung von Namen, über seinen aktuellen Fall berichtet und Tanja hielt ihm in dieser Sache die Hand. Manchmal konnte sie als Außenstehende ihm einen Blickwinkel anbieten, der ihm sonst verwehrt blieb. Nicht selten hatte sie einen Hinweis geliefert, der ihn auf eine Idee brachte. Bestimmt konnte er mit ihrer Hilfe so manchen Fall am Ende doch noch für seine Mandanten entscheiden. An diesem Fall allerdings biss er sich die Zähne aus und auch Tanja vermochte keine Tipps mehr geben zu können. Dafür war die Angelegenheit viel zu verfahren gewesen. Sein Mandant war aber selbst Schuld, schließlich gab er immer wieder andere Informationen und unterstützte so unabsichtlich seine Unglaubwürdigkeit.

„Vielleicht solltest du den Fall an Stefan abgeben“, schlug sie ihm vor. Stefan war sein Anwaltskollege und guter Freund. Seine Kanzlei lag in derselben Etage.

„Tanja, sei mir nicht böse, aber ich möchte heute nicht über diesen Fall reden.“

Tanja nickte. Sie konnte seine Gefühle gut verstehen. Wäre sie an seiner Stelle, hätte sie auch die Nase gestrichen voll und würde des Abends zu Hause lieber bei einer Aktivität mit ihrer Familie abschalten, als an die Strapazen auf der Arbeit erinnert zu werden. Dafür war morgen wieder Zeit, sich um alles zu kümmern.

Es herrschte eine Stille zwischen den beiden, die nach einem Gespräch verlangte.
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Fern sahen die beiden schon lange nicht mehr unter der Woche. Am Wochenende gingen sie manchmal in die Videothek und liehen sich eine DVD aus. Mark wollte dringend mit Tanja über etwas reden, aber er wusste nicht wie er es anstellen sollte.

„Schatz“, begann er leise. „Als ich heute so zwischen Gericht und Kanzlei hin und herfuhr, fiel mir etwas ein.“

Tanja sah von der Zeitschrift auf, die sie zu lesen begonnen hatte. „Was denn?“

„Ich stand an der Ampel und da lief eine Gruppe von Kindern über die Straße. Irgendwie faszinierte mich dieser Anblick, all diese kleinen Kinder in einer einzigen großen Gruppe. Ich begann über eine Idee nachzudenken, die allen etwas bringen würde.“

Tanja ließ Mark ruhig ausformulieren, was er zu sagen hatte, aber sie ahnte fast, in welche Richtung es ging. „Sprich weiter“, sagte sie.

„Nun ja, ich dachte darüber nach, wie es wohl wäre, wenn wir Lilly auch in einem Kindergarten anmelden würden.“

Eigentlich hatte er erwartet, sie würde ihn gleich überfallen, wie blöde diese Idee doch war, doch Tanja blieb ruhig. Sie zerkaute seine Worte ganz sorgfältig, lutschte sie fast, wie ein Stückchen Schokolade, nur um den vollen Geschmack auf der Zunge wahrnehmen zu können.

„Mark, hast du ein einziges Mal an die Konsequenzen für Lilly und für uns gedacht?“

„Natürlich habe ich das. Genau um diese Konsequenzen geht es mir ja.“

„Wie meinst du das?“ Jetzt wurde Tanja neugierig.

„Lilly ist jetzt fünf. Sie hat keine Freunde, keine Spielkameraden. Sie wächst quasi isoliert auf. Ich denke, dass ein Kind, das komplett ohne Kontakt zu anderen Kindern, oder sogar anderen Menschen aufwächst irgendwann total wunderlich wird. Verstehst du was ich meine? Wir erziehen sie zu einem Eltern fixierten Kind, zu einer verschrobenen Eigenbrötlerin, wenn man so will.“

„Ich finde, du übertreibst, Mark“, erwiderte Tanja knapp.

„Das denke ich nicht. Es gibt Tage, da kriegt sie einen Wutanfall, nur wenn einer von uns mehr als zehn Sekunden aus ihrer Nähe verschwindet. Sei’s nur um zum Klo zu gehen. So kann es nicht weitergehen.“ Mark lehnte sich ebenfalls etwas vor, als könnte Tanja ihn so besser verstehen.
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Er wollte die Dringlichkeit seiner Aussage damit nur unterstützen.

„Und was ist mit Lillys Art? Hast du mal dran gedacht, dass die Leute im Kindergarten es herausbekommen könnten?“

„Natürlich habe ich daran gedacht. Aber willst du sie ewig hier einsperren?“

Tanja wandte den Blick von ihm ab. Im lodernden Kaminfeuer suchte sie nach einer Antwort auf dieses brisante Thema. Sie musste Mark Recht geben, Lilly zeigte eigenartige Verhaltensweisen, die sich negativ auf ihre sozialen Fähigkeiten auswirkten. Sofern sie soziale Fähigkeiten besaß, denn immerhin sah Lilly außer ihren Eltern höchstens noch ihre Großeltern oder mal die Kassierer im Supermarkt, wenn ihre Mutter sie zum einkaufen mitnahm.

„Nein, sie soll ja auch andere Kinder kennen lernen. Vielleicht sollten wir öfter mit ihr raus gehen, auf Spielplätze, in Freizeitparks oder wir gehen mit ihr auf eine Eltern-Kind-Freizeit.“

„Ich fürchte, das wird kaum ausreichen. Ich finde, sie braucht den regelmäßigen Kontakt, einen besten Freund, oder eine beste Freundin. Lass es uns wenigstens versuchen, Schatz.“

Das Gespräch wurde jäh unterbrochen, als beide ein knarrendes Geräusch hörten.





Sanft schwang die kleine Lilly ihre neue Barbie hin und her. Arielle, so taufte sie die Barbie, sollte endlich einschlafen, denn Lilly entschied, es war spät genug für eine so junge Puppe. Lilly mochte den Namen Barbie für ihre neue Puppe auch nicht, deswegen benannte sie sie um. Arielle lief erst kurz vor Weihnachten im Fernsehen und weil ihr der Film so gut gefiel, gab sie ihrer neuen Lieblingspuppe prompt diesen Namen.

„Schlaf, Arielle, schlaf, la laa la laa la laaa…..“; sang Lilly flüsternd. Arielle lag in ihrem Arm, doch ihre Augen wollten sich nicht schließen. Es war eine Barbie wie jede andere auch, also keine mit herunter klappbaren Augen, aber Lilly spielte meist, dass sie irgendwann einschlief. Lilly sang ihrer Arielle viele Einschlaflieder vor, die ihre Mutter ihr auch immer vorsang. Nach einer Weile war Lilly der Ansicht, Arielle würde gerade ins Traumland wegdriften. Vorsichtig erhob sie sich und legte die Puppe in ihr Puppenbett.

„Schlaf gut, mein Liebes“, flüsterte sie und gab Arielle einen Kuss auf die Stirn.
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Stolz, ihr „Kind“ erfolgreich ins Bett gebracht zu haben, stand sie neben dem Puppenbett. Lilly straffte sich die rosafarbene Strumpfhose glatt, die sich in ihrer Pofalte unangenehm gesammelt hatte. Das passierte ihr ständig, denn Lilly war viel zu klein für ihr Alter und ihre Kleidung war ihr immer etwas zu groß. Diese Strumpfhose schlabberte ordentlich an ihren Beinen und wenn sie lange saß, raffte sich der Stoff entweder in ihrer Pofalte oder in den Kniekehlen, was Lilly sehr störte.

Langsam bewegte sich Lilly rückwärts vom Puppenbett weg. Das kleine Mädchen drehte sich um und schien etwas zu suchen. Sie war etwas zerstreut, denn sie wusste selber nicht, wonach sie suchte. Plötzlich blieb ihr Blick an ihren Bett hängen, genauer – an ihrem Teddybär. Lilly brauchte ihn oft, wenn sie Trost brauchte oder stark nachdenken wollte. Der arme Bär, der den schlichten Namen Teddy trug, war schon ziemlich zerkaut.

Lilly ging auf ihn zu und schloss ihn in ihre Arme. Ein glückliches Lächeln flog über ihr Gesicht, als hätte sie einen lieben Freund nach langer Zeit wieder gesehen. Sie hatte ihn bestimmt genauso lieb wie ihre Mama und ihren Papa, auch wenn sie diese beiden immer mehr lieben würde, als irgendjemand anderen. Doch manchmal hatte sie sich so dolle mit ihren Eltern gestritten, dass nur noch Teddy ihr helfen konnte. Mit Teddy stritt sie niemals, denn er war immer ihrer Meinung. Teddy war Lillys allerbester Freund und neben ihren Eltern brauchte sie keinen anderen mehr auf dieser Welt um glücklich zu sein.

Ihn wiegte sie in ihren Armen und hielt ihn dabei fest im Griff. Im Gedanken gestand sie ihm immer wieder, wie sehr sie ihn liebte und dass sie ihn nie hergeben würde. Lilly wiegte Teddy hin und her, schunkelte selbst richtig mit, so dass sie bald darauf mit ihm tanzte. Sie drehte sich immer schneller um die eigene Achse. Lillys goldenes langes Haar flog kreisförmig um sie herum und umspielte sanft ihr kleines Gesicht, wenn sie ihren Rundflug verlangsamte.

Ich liebe dich, Teddy, ich liebe dich! wiederholte sie in Gedanken immerzu.

Nach einer Weile, Lilly konnte nicht genau sagen, wann, spürte sie ein unangenehmes Gefühl in ihrer Kehle. Es war so ein trockenes Gefühl und Lilly dachte daran, sich etwas zu trinken zu holen.
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Abrupt blieb sie stehen und sauste ungelenk zu Boden. Dem Mädchen war schwindelig geworden und sie atmete schwerer, weil sie etwas außer Puste war. Trotzdem war sie immer noch glücklich und erhob sich, auch wenn ihr Schwindelgefühl noch nicht ganz verschwunden war. Vorsichtig watete sie aus dem Zimmer und erreichte kurz darauf die Treppe. In ihrem Arm hielt sie Teddy noch immer fest. Er musste immer mit, egal ob Lilly mit zum Einkaufen ging oder nur zur Toilette.

In der einen Hand hielt sie Teddy, die andere stabilisierte ihren Abstieg auf der Treppe. Das Geländer war ihr viel zu groß und Lilly hielt sich immer nur an den Stäben im Geländer fest. Andere Kinder ihres Alters reichten ganz sicher schon auf das Geländer und konnten es schon bald richtig umfassen. Trotz Lillys körperlichen Einschränkungen war sie genauso schnell unten angekommen, wie jedes andere Kind auch.

Unten angekommen tapste sie in der sie umhüllenden Dunkelheit umher. Von rechts nahm sie diffuses Licht wahr. In ihr keimte die Angst, aber Lilly versuchte sich dagegen zu wehren. Es fröstelte sie sehr, in dieser unheimlichen Dunkelheit zu wandern. Aus ihrer Perspektive wirkte alles so riesig. Die großen Vitrinenschränke, die Standuhr und sogar der Sekretär aus dunklem Mahagoni-Holz erhoben sich gespenstisch im Halbdunkel des Korridors. Manchmal, wenn Lilly nicht aufmerksam zu den Seiten sah, sondern nur einen helleren Punkt geradeaus fixierte, kam es ihr so vor, als näherten sich ihr die Möbelstücke. Sie wusste, dass es nur tote Dinge waren, aber der Sinn für die Rationalität verlor sich in dieser Situation. Lilly war geneigt, ihren Durst zu vergessen und sich wieder in ihr Zimmer zurück zu begeben. Sie könnte doch einfach oben ins Badezimmer gehen und sich ein Glas Wasser aus dem Wasserhahn nehmen.

Nein! Sie war schon so weit gekommen, jetzt wollte sie nicht aufgeben. Lilly steckte sich Teddys linken Fuß in den Mund und kaute darauf herum. Das lenkte sie von ihrer Furcht ab und beruhigte sie etwas. Unsicher setzte das Kind einen Fuß vor den anderen. Ihrem Ziel, dem Licht am Ende des langen dunklen Korridors, kam sie immer näher.

Bedrohlich ragte die Standuhr zu Lillys Linken hoch und schien sie ob ihrer Angst zu verspotten. Das Mädchen trotze dem aber, in dem es die Uhr zu ignorieren versuchte.
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Hoffentlich war nicht gerade in diesem Moment eine volle Stunde erreicht und die Uhr würde laut diese Stunde einläuten. Dass die Uhr abends nicht läutete, vergaß Lilly darüber hinaus völlig, denn ihre Angst war noch immer so präsent, dass sie alles andere überschattete.

Dann hatte Lilly plötzlich etwas anderes im Fokus ihrer Wahrnehmung ausgemacht, dass ihre Konzentration erforderte. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern ganz leise vor sich und sie lauschte so aufmerksam diesem Gespräch, dass sie die Angst darüber hinaus verdrängte. Das bedrohliche Monster, das bereits seine scharfen Klauen nach dem Mädchen ausstreckte, verwandelte sich wieder zurück in eine gewöhnliche Standuhr. Wenn sie jetzt genauer hinsah, konnte sie die Uhr in dieser Dunkelheit kaum noch sehen. Die Angst von vorhin hatte ihre Sinne dermaßen geschärft, dass sie die Uhr in allen Details sehen konnte. Sie konnte jedes furchtbare Detail erkennen, das sich zu einem Ungetüm verwandelte und nach ihrem Leben trachtete. Jetzt kam Lilly ihrem Ziel bedeutend näher: dem Ende des Gangs und damit direkt zu ihren Eltern.

Das Mädchen erreichte erleichtert das Esszimmer. In einer Ecke stand der geschmückte Baum und die Lichterkette erhellte den Raum so sehr, dass keinerlei Bedrohliches zurückblieb. Im Anschluss an das Esszimmer befand sich eine Tür, die einen Spalt geöffnet war. Dahinter war das Wohnzimmer, in dem die Eltern ein Gespräch führten.

„Natürlich habe ich daran gedacht. Aber willst du sie ewig hier einsperren?“ Ihr Vater sagte diesen Satz, als Lilly nahe genug herankam. Gemütlich loderte ein Feuer im Kamin. Lilly mochte den Kamin, obwohl Feuer ihr Angst machen konnte. Aber wenn sie sah, wie die Flammen hektisch hin- und hertanzten und schnell bewegende Schatten auf der Wand hinterließen, war Lilly wie gefangen und tauchte in eine andere Welt hinab. Diese Schatten, das unregelmäßige Leuchten des Feuers hatten eine magische Wirkung auf das kleine Mädchen, das sich beim Betrachten weit weg träumte.

„Nein, sie soll ja auch andere Kinder kennen lernen. Vielleicht sollten wir öfter mit ihr raus gehen, auf Spielplätze, in Freizeitparks oder wir gehen mit ihr auf eine Eltern-Kind-Freizeit.“

Diesmal sprach ihre Mutter. Lilly lehnte an einer der beiden Türen, die verschlossen war und lauschte.
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Worüber sprachen ihre Eltern nur?

„Ich fürchte, das wird kaum ausreichen. Ich finde, sie braucht den regelmäßigen Kontakt, einen besten Freund, oder eine beste Freundin. Lass es uns wenigstens versuchen, Schatz.“

Was konnte Papa nur damit meinen? Was wollte er versuchen? Lilly war sehr gespannt darauf zu erfahren, wie es weiterging und versuchte daher einen Blick auf die beiden zu erhaschen. Sie drückte sich und Teddy so weit an die kleine Öffnung, die die um einen Spalt geöffnete Tür bot, dass die Tür mit einem laut knarrenden Geräusch unter dem Druck nachgab. Lilly erschreckte sich, als die Tür plötzlich weiter aufging und auch ihre Eltern schreckten scheinbar aus ihrem Gespräch hoch, als ihr kleines Mädchen auf einmal im Raum stand.



„Schätzchen, was ist denn los?“ Tanja wollte gerade aufstehen und sich zu Lilly begeben, da kam diese ein paar Schritte näher. „Was will Papi versuchen?“

Tanja warf Mark einen Blick zu. Dieser seufzte leicht und wollte zu sprechen anfangen, doch Tanja kam ihm zuvor: „Dein Vater hat vorgeschlagen, dich in einen Kindergarten zu schicken.“

Gebannt sahen die beiden Erwachsenen zu, wie ihre Tochter einen klaren Sinn in diesen Worten zu fassen versuchte. Doch Lilly wölbte verständnislos ihre Augenbrauen.

„Kindergarten?“ fragte das Kind mit piepsiger Stimme. „Werden da Kinder eingepflanzt, so wie die Blumen in unserem Garten?“

Mark konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Nein, Lillyschatz. In einen Kindergarten gehen ganz viele Kinder um miteinander zu spielen. Das ist nur ein Haus, das Kindergarten genannt wird.“

„Kann ich da dann mit anderen Kindern zusammen Barbie spielen?“

„Aber sicher doch.“ Mark kam auf Lilly zu und kniete sich zu ihr hinunter. Er wollte sie irgendwie auf seine Seite ziehen, damit sie gemeinsam Tanja überzeugen konnten, dass es eine gute Idee war.

„Oh toll!“ freute sich das Mädchen und warf sich ihrem Vater in die Arme. Dieser fing sie auf und schloss sie ganz fest in seine Arme.

Tanja sah sich dieses Bild der Götter eine Weile mit an. Scheinbar bildete sich da eine Front gegen sie auf, die erreichen wollte, dass Lilly in einem Kindergarten angemeldet wurde.
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Doch die Angst entdeckt zu werden, konnte sie nicht völlig abstreifen.

„Lilly, Liebling“, sprach Tanja in einem fürsorglichen Tonfall. „Wenn du in den Kindergarten gehst, darfst du mit niemanden über dich reden. Du weißt doch, was passiert wenn unser kleines Geheimnis ans Licht kommt, oder?“

Lillys Freude schwand etwas. Sie senkte den Kopf, denn sie wusste, was ihre Mutter meinte. Schon vor langer Zeit haben sie ihr eingeschärft, mit niemanden, nicht mal mit Oma und Opa über ihr Geheimnis zu reden. Lilly wusste daher ganz genau, was passieren würde, wenn sie einem anderen Kind, einer Betreuerin oder wem auch immer, irgendein Detail über sich erzählen würde. „Ich weiß, Mama. Die werden mich euch wegnehmen und dann sehe ich euch nie wieder. Die machen mich vielleicht tot, wenn sie mich nicht mehr wollen.“

Ernst nickte Tanja. „Hör mal, Liebes. In diesem Kindergarten wärst du ein paar Stunden nur mit den anderen Kindern zusammen. Papa und ich werden dann nicht bei dir sein.“

„Echt?“ fragte Lilly erschrocken und wandte sich an ihren Papa.

„Ja, sie hat Recht. Du musst dann etwas Zeit alleine mit deinen neuen Freunden verbringen.“

Das gefiel Lilly irgendwie nicht. Sie hatte Mama und Papa doch so lieb und sie brauchte sie immerzu. Warum sollte sie dann einige Zeit am Tage alleine sein? Lilly wollte keinesfalls ohne Mama und Papa in den Kindergarten, auch wenn ihr der Gedanke, andere Kinder kennen zu lernen sehr reizte. Unsicher blickte sie ihren Vater aus großen Augen an.

„Das ist aber nicht so schlimm“, sagte er. „Zum Anfang musst du nicht so lange dableiben, und einer von uns wird immer da sein. Du wirst dich dran gewöhnen, immer länger alleine zu bleiben.“

Immer noch unsicher sah Lilly jetzt zu ihrer Mutter. „Ja, wirklich?“

„Papa hat Recht, so läuft das da.“

Lillys Gedanken rasten. Sollte sie sich auf dieses unsichere Unterfangen einlassen und einen Schritt in die Öffentlichkeit wagen, oder sollte sie dagegen stimmen und im Schutz ihrer Eltern verbleiben? Beides bot Vor- und Nachteile. Entweder hatte sie die Chance, neue Kinder kennen zu lernen und Freunde zu bekommen, dafür aber Gefahr laufen, dass jemand ihr Geheimnis erfuhr, oder sie blieb daheim in Sicherheit wo ihr nie etwas geschehen würde, wo sie aber vor der Außenwelt abgeschnitten aufwuchs und nie etwas anderes sah als ihre Eltern.
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Wie sollte es da später in der Schule laufen, von der Lilly schon einiges gehört hat?

„Was ist, wenn ich das aber unbedingt will?“ fragte Lilly.

Tanja dachte kurz nach. „Denk an deine Veränderung. Was ist damit?“

„Mama, das wird noch etwas dauern. Ich spüre noch nichts, was sich verändert. Ich glaube, das dauert noch ganz ganz lange. Du wirst es erfahren, wenn es soweit ist.“ Lilly war plötzlich nicht mehr so klein, als sie das sagte. Immer wenn die Zukunft des Kindes zur Sprache kam und Lilly mitredete, schien sie sich wie eine Erwachsene zu benehmen. Sie sprach völlig klar und ernst über diese Veränderung, über die sie selber noch nicht viel wusste.

Tanja schien sich einverstanden zu geben.

„Denk mal dran, Tanja, du könntest auch wieder in deinem früheren Beruf arbeiten“, warf Mark ein. Das war Tanjas wunder Punkt. Nur zu gerne würde sie wieder in dem Frisörladen arbeiten. Die Arbeit hat ihr immer sehr viel Freude gemacht. Tanja musste zugeben, dass die Idee mit dem Kindergarten durchaus ihre Vorteile für alle barg.

„Nun gut, ich denke wir können es ja mal versuchen“, gab sie endlich zu.

Lillys Augen fingen an zu leuchten. „Qu’enzopla ovum mesta-bati!“ rief sie aufgeregt und sprang von Marks Schoß. „Mesta-batiiiiiiiii!“

Mark und Tanja tauschten verwirrte Blicke aus. „Liebes, was hast du da gerade gesagt?“

Lilly verharrte in ihrem Freudentanz, zu dem sie auch Teddy einlud und sah in das verständnislose Gesicht ihrer Mutter. „Was?!“

„Was bedeutet mesta-bati?“

Lillys Gedanken rasten. Mesta-bati? Irgendwie kam ihr das Wort bekannt vor, aber sie kannte dessen Bedeutung nicht. „Ich weiß es nicht?“

„Was hast du denn gerade gesagt, als du dich so gefreut hast?“ wollte Mark wissen.

„Ich komme in den Kindergarten“, sagte Lilly, die nicht verstand, wieso ihre Eltern sie nicht verstanden.

„Heißt mesta-bati Kindergarten?“ fragte Tanja.

Lilly konnte das mit einem Nicken bestätigen. Instinktiv wusste sie, was dieses Wort bedeutete, aber sie konnte es nicht wirklich übersetzen. Es war nur so ein Gefühl, denn schließlich sprach Lilly keine Fremdsprache.
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„Okay, Liebes. Wir suchen einen schönen Kindergarten aus und melden dich da an.“

Lilly war froh. Sie setzte ihren Tanz mit Teddy fort und schwebte förmlich über den Parkettboden. Im flackernden Licht des Feuers wirkten ihre Bewegungen wie flüssig. Dazu summte sie eine unbekannte Melodie, die Lilly eben erst erfand.

Mark und Tanja wechselten erneut fragende Blicke aus. Sie wollten das Thema mit Lillys Kauderwelsch nicht weiter erörtern, solange ihre Tochter dabei war. Eins stand jedenfalls für beide fest: dieses Kauderwelsch musste eine tiefere Bedeutung haben und es gab ganz sicher eine direkte Verbindung zwischen dieser kindlichen Sprache und dem gut behütetem Geheimnis.

Mark und Tanja ließen Lilly noch eine Weile austoben, bis auch sie ins Bett musste. Arielle schlief schon lange tief und fest, vergewisserte sich Lilly bevor Mark ihr eine Gutenachtgeschichte vorlas. Tanja fand, dass er sich besser um das Abendritual kümmerte, als sie es je konnte. Das war der heiligste aller Vater-Tochter-Momente und Tanja hielt sich dabei immer raus. Natürlich brachte sie ihr Kind auch manchmal zu Bett, aber Lilly liebte es immer so sehr, wenn Papa es tat.

Nach diesem Abend sprach Lilly nie wieder in diesem fremdartigen Dialekt. Nie wieder, bis zu der Nacht im Krankenhaus, neun Monate später.
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