Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Monk Wagner      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 10. April 2007
Bei Webstories eingestellt: 10. April 2007
Anzahl gesehen: 2333
Seiten: 4

Ich liebe meine Arbeit. Schon als Kind war es immer mein Traumberuf. Hier kann ich Menschen helfen und lerne selbst viel fürs Leben.

Ständig passiert etwas Neues, Unerwartetes. Jeder Tag ist anders. Alle Tage sind faszinierend.

Nein, ich wollte und will nie eine andere Arbeit machen.



Ich stehe im Aufenthaltsraum. Der Raum selbst ist in weiß gehalten. In dem kleinen Fernseher der an der Decke hängt läuft irgendeine Quizshow.

Der Fernseher ist zu klein, als das ich die Frage lesen könnte und seinen letzten Ton hat das Gerät schon vor langer, langer Zeit von sich gegeben. Manchmal frage ich mich, wie in den alten Kasten überhaupt bewegliche Bilder reinkommen. An guten Tagen sogar in Farbe und ohne Streifen.



Durch die vergitterten Fenster kann man in den Garten schauen. Es ist Frühling und die Natur erwacht.

Deshalb stehen oder sitzen mehr Leute vor den Fenstern als vor dem Fernseher.

Der Blick aus dem Fenster ist immer in Farbe. Und wenn man nah genug ist und zwischen den Gitterstäben durchsieht, ist der Ausblick an guten Tagen sogar ohne Streifen.



Vor einem der Fenster steht Martha. Martha ist Mitte Dreißig, hat lange, ungepflegte schwarze Haare und starrt nicht aus dem Fenster, sondern direkt mir in die Augen.

Ich stöhne leise und gehe dann mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu.

„Wie geht’s denn meiner Lieblingspatientin heute?“

Sie schweigt mich an. Sie schweigt mich immer an.

„Warum sprichst du nicht Martha?“ die Frage ist mehr an mich als an Martha gerichtet.

Niemand kennt ihre Geschichte. Sie wurde halb nackt in einem Park gefunden. Niemand vermisste sie. Niemand suchte nach ihr. Niemand konnte sagen wer sie ist.

Und sie selbst schwieg.

Ich weis auch nicht mehr wie sie zu ihrem Namen kam.

„Wer bist du Martha?“

Sie lächelt, fährt, mit der Rückseite ihrer rechten Hand, sanft über meine Wange, wendet sich von mir ab und schaut verträumt aus dem Fenster.

Ich schlucke und beobachte sie noch einen Moment.

Meine Patienten bewegen mich alle. Oft mehr als es für meinen Beruf gut ist. Martha ist eine besonders harte Nuss und sie berührt mich tief in meinem Innern.
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Ich denke immer noch über Martha und ihr Schicksal nach als mich Egon anspricht.

„Wenn Sie jetzt bei mir eine Lebensversicherung abschließen, kann ich Ihnen eine Hausratversicherung zu Sonderkonditionen anbieten.“

Ich setze wieder mein Lächeln auf. Egon will allen und jedem seine Versicherungen verkaufen.

Dabei war er vor seiner Einlieferung der Leiter eines Abrissunternehmens.

„Hallo Egon! Wie geht es Ihnen heute?“

„Mir geht es nicht so gut, wie es Ihnen mit einer privaten Zusatzkrankenversicherung gehen würde. Chefarztbehandlung und Einzelzimmer sind die Zauberworte. Wie hört sich das für Sie an?“

„Das hört sich großartig an! Machen wir doch gleich einen Beratungstermin für morgen aus. Wir haben jetzt 10:15 Uhr. Morgen um die gleiche Zeit?“

„Ich habe sofort gesehen, dass Sie ein Mann mit Verstand und Intelligenz sind! Sie werden es nicht bereuen. Morgen wird für Sie ein neues Leben in absoluter Sicherheit beginnen!“

Mit diesen Worten und einem Augenzwinkern verabschiedet sich Egon um sich ein neues Opfer zu suchen.

Ich freue mich bereits jetzt darauf morgen dieselbe Unterhaltung erneut zu führen.



Egon versucht gerade Ludwig Erhardt und Rosa Luxemburg, unsere beiden politischen Spinner, eine Versicherung anzudrehen.

Währenddessen sehe ich mich wieder im Raum um und entdecke Michael. Er sitzt in derselben Ecke, auf demselben Schemel auf dem er immer sitzt.

Er starrt in die Ecke, wippt vor und zurück und murmelt vor sich hin.

Ich beschließe mich etwas zu ihm zu setzen.

Auf dem Weg zu ihm werde ich fast von Cihan umgerannt. Er faselt was von wegen „Ungläubige umbringen“. Ich ignoriere ihn.

Ich setze mich direkt hinter Michael. Es ist irgendwie beruhigend ihm dabei zuzusehen wie er vor und zurück wippt und dabei immer wieder zu sich selbst sagt „Klar hab ich einen an der Klatsche. Aber auch nicht mehr als die 6 Milliarden anderen Bekloppten. Klar hab ich einen an der Klatsche. Aber auch nicht mehr als die 6 Milliarden anderen Bekloppten.“.

Wie auch immer. Vielleicht sollte ich darüber nachdenken seine Medikation umzustellen.

Ich spreche ihn an, obwohl ich weis, ich komme nicht zu ihm durch.
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„Hallo Michael! Wie geht’s meinem Lieblingspatienten heute?“

„Klar hab ich einen an der Klatsche. Aber auch nicht mehr als die 6 Milliarden anderen Bekloppten.“

„Ja. Das hab ich schon mal gehört. Aber was hast du genau an der Klatsche?“

„Klar hab ich einen an der Klatsche. Aber auch nicht mehr als die 6 Milliarden anderen Bekloppten.“

Manchmal glaube ich, Michael ist noch der normalste Mensch hier. Nicht nur auf der Station, sondern generell. Weltweit.

„Mach’s gut Michael. Bis morgen!“

„Klar hab ich einen an der Klatsche. Aber auch nicht mehr als die 6 Milliarden anderen Bekloppten.“



Irgendwie wiederholen sich die Szenen fast täglich. Allerdings werden sie nie langweilig.



Da klopft mir auch schon mein nächstes, tägliches Ritual auf die Schulter. Ich weis bereits wer mir etwas erzählen will.

Gedanklich wandere ich zurück in die Zeit der wilden zwanziger und dreißiger Jahre des 20sten Jahrhunderts.

„Hey Joey!“ schallt es mir entgegen.

„Hi Al!“ gebe ich mitspielend zurück.

„Ich habe Post von meinem Bruder bekommen. Dieser Idiot will, dass ich ehrlich werde. Ich verdiene hier ein Vermögen. Tausendmal hab ich ihn gefragt, weshalb er so dumm ist für ein Trinkgeld Whisky-Fässer zu zerschlagen, wo er sie doch für mich, für teures Geld verkaufen könnte.“

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast, Al.“ sage ich und überlege, ob Al Capone wohl wirklich einen ehrlichen Bruder hatte.

„Doch. Dieser Trottel arbeitet im mittleren Westen für die Polizei und bekämpft die Prohibition.“

Unser Al Capone heisst eigentlich Fritz Müller. Einer unserer kreativsten Köpfe.

„Wie geht’s sonst so, Al?“ frage ich Fritz.

„Ach, eine meiner Nutten ist mit einem meiner Buchmacher durchgebrannt. Sie hat die Bordellkasse und er die Kasse des Wettbüros mitgehen lassen. Ich sag dir, es ist heutzutage so schwer ehrliches Personal zu finden.“

„Wem sagst du das, Al. Aber ich dachte mehr daran, wie es dir gesundheitlich geht.“

„Oh.“ sagt Fritz und druckst etwas herum. „Nun ja, ich hab da so einen roten Ausschlag auf meinem Penis. Ob ich mir von einer Schlampe die Syphilis geholt habe?“

Das muss man Fritz lassen.
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Seine Hausaufgaben hat er gemacht.

Natürlich war das mit dem Ausschlag gelogen. Ich schick ihn trotzdem zu Dr. Gralmann. Sicher ist sicher.



Al Capone geht gerade weg, als Guildo, alias Dr. Brunner auf mich zukommt. Er hält sich für einen Psychologen.

„Hallo Kollege!“ begrüße ich ihn.

„Hallo Dr. Keller.“ gibt er mir zurück und will wissen „Wie geht es unseren Patienten?“

„Alles unverändert.“ antworte ich. „Und wie geht es Ihnen?“

„Gut. Danke der Nachfrage. Was machen Sie hier? Sollten Sie nicht auf Ihrem Zimmer sein?“

Guildo hält sich nicht nur für einen Arzt, sondern mich auch für einen Patienten.

Um ihn problemlos zu seinem Zimmer zurück zu bringen, bin ich auch bereit den Patienten zu spielen.

Er winkt zwei Pfleger herbei. Da ich ihn nicht in Verlegenheit bringen will, nicke ich den beiden Pflegern zu und sie kommen zu uns rüber.

Wir gehen zu viert einige Schritte und gelangen rasch zu Guildos Zimmer.

Ich sage „Dr. Brunner, lassen Sie uns das Schauspiel für heute beenden.“

Guildo nickt und meint „Ganz Ihrer Meinung. Vielleicht sollten wir den Doktortitel für den Rest des Tages in diesem Zimmer einsperren.“

Ich glaube, Guildo ist auf einem Guten Weg.

Ich verabschiede mich von ihm und sehe zu, wie sich die Zimmertür langsam schließt.

Tragik und Komik liegen in der Psychiatrie nah beieinander.



Jetzt bin ich also wieder allein in meinem Zimmer.

Ich höre die Weisheit von Michael als Echo in meinem Kopf widerhallen:

„Klar hab ich einen an der Klatsche. Aber auch nicht mehr als die 6 Milliarden anderen Bekloppten.“
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Kommentare zur Story:

  und erst in den drei letzten sätzen die auflösung - plötzlich und unerwartet - wahnsinn! ich habe gänsehaut bekommen bei der unerwarteten wendung, und dabei hatte ich noch während der ganzen geschichte eine stinkwut ob soviel fachlicher inkompetenz aufgebaut.
klasse plott, gute ausausarbeitung, spannend erzählt!
lg ursula  
kalliope-ues  -  15.04.07 18:58

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Kommentar von "Marie" zu "optimistischer Pessimist"

Mir gefällt es, egal, was andere denken. Auch die berschrift lockt. Gruß marie

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