Plötzlich kamen alle wieder - Teil 10   12

Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Homo Faber      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 11. Januar 2007
Bei Webstories eingestellt: 11. Januar 2007
Anzahl gesehen: 2416
Seiten: 12

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Wir kamen um 10 Uhr morgens in Dortmund an. Der Reiseleiter hatte sich während der Fahrt wieder gefasst. Als die erste Pause anstand, hatte er noch darum gebeten, dass ich mich nicht wieder verlaufen solle und rechtzeitig am Bus sein solle, hatte es aber scherzhaft ausgedrückt. Auch wenn wir pünktlich von London abgefahren wären, wären wir wahrscheinlich auch nicht eher in Dortmund eingetroffen, denn dann wären wir in einen Stau gekommen, durch meine Verspätung war dieser uns erspart geblieben, hatte es sich herausgestellt.

Und nun waren wir wieder in Dortmund. Es wirkte alles so trostlos um mich herum. Die Stadt schien verändert. Viel düsterer, viel fremder. Jetzt fing alles wieder von vorne an. Einsamkeit. Dann würde Sebastian garantiert wieder nerven. Wahrscheinlich hatte er schon wieder hundertmal angerufen, während ich in London war. Ich konnte mir schon genau vorstellen, wie es ablaufen würde. Er würde mich fragen, wieso ich nicht ans Telefon gehe, wenn er anrufe. Dann würde ich sagen, dass ich nicht da war. Dann würde er wieder sagen, ich solle keinen Mist erzählen. Dann würde ich sagen, dass ich in London war, und das würde ich dann schon ziemlich ungehalten sagen. Dann würde er sagen, ich könne es dann ja wenigstens mal erzählen, wenn ich so etwas vorhabe. Dann würde ich sagen, dass ich ja wohl keine Rechenschaften schuldig sei. Dann würde er wieder sagen, dass er es nicht okay finde, dass ich nichts sagen würde. Warum konnte ich ihn nicht einfach loswerden. Leute, die mir sympathisch waren, an denen mir etwas lag, entfernten sich immer von mir, nur Leute, mit denen ich nichts zu tun haben wollte, wurde ich einfach nicht los. Ich hatte ja schon mal versucht, den Kontakt zu ihm abzubrechen, aber er verstand es nicht, statt dessen fing er nur Diskussion an. Es war unmöglich ihn loszuwerden. Ich meldete mich nie bei ihm von meiner Seite aus, er sich nur immer bei mir, meistens war ich auch noch unfreundlich, er beschwerte sich öfter auch darüber, aber wieso kam er dann immer wieder an und meinte, wir seien Freunde? Ich war Melanie auch nicht hinterher gelaufen und hab mich ständig bei ihr gemeldet, als sie mir immer aus dem Weg ging, weil es nichts bringt, wenn man jemanden hinterher läuft, der nichts mit einem zu tun haben will. Aber er war da anders.

Früher zu Schulzeiten, konnte man noch Spaß mit ihm haben, aber in den letzten Jahren ging er mir immer mehr auf die Nerven.
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Vor allem versuchte er mir immer Rat in Dingen zu geben, wovon er überhaupt keine Ahnung hatte. Bevor ich „nach Hause“ fuhr, ging ich noch in die Stadt und besorgte mir endlich einen Anrufbeantworter, was ich schon so lange tun wollte. Danach fuhr ich „nach Hause“.

Es war meine zweite Wohnung. Ich wohnte seit zweieinhalb Jahren darin, ich war kurz nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte und somit mehr Geld verdiente dort eingezogen. Meine erste Wohnung war 30 m² groß, für den Anfang genügte das, aber auf Dauer war es zu klein, vor allem die Küche war zu klein, als Hobbykoch konnte ich mich darin gar nicht richtig ausleben. Meine aktuelle hatte 50 m², das war für mich allein genau richtig. Sie hatte zwei Zimmer, ein Bad und eine genügend große Küche. Hier konnte ich das anwenden, was ich von meiner Oma und in diversen Kochkursen, die ich während der Schulzeit an Volkshochschulen besucht hatte, gelernt hatte und auch selber experimentieren. Vor allem konnte ich auch Pia von meinen Kochkünsten überzeugen.



Es war mein erster Tag in der Wohnung, nachdem ich mit dem Umzug fertig war und alles eingerichtet war.

„Heute werde ich meine Küche einweihen, in dem ich für dich koche. Du darfst dir etwas wünschen“, sagte ich zu Pia. Sie überlegte nicht lange.

„Cebabcici“, antwortete sie voller Eifer. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Ich hasste dieses Gericht, ich fand es sogar ekelhaft, konnte nicht verstehen, wie man so etwas gerne mögen konnte. Ich wusste gar nicht, dass sie es mochte, sie hatte es mir gegenüber noch nie erwähnt. Ich wusste, dass ihr Lieblingsgericht Hühnerfrikassee mit Reis war. Hatte sie auf jeden Fall mal gesagt.

„Aber dein Lieblingsgericht ist doch Hühnerfrikassee“, meinte ich.

„Ja, aber heute hab ich richtig Lust auf Cebabcici“, strahlte sie übereifrig. Sie wollte es also unbedingt essen. So wie sie es voller Eifer und Begeisterung ausgesprochen hatte, konnte ich ihr diesen Wunsch unmöglich abschlagen und kochte es, nachdem ich mit ihr einkaufen war. Ich hatte es zwar noch nie gekocht, da ich es ja nicht mochte, aber es war ja nicht schwer. Dazu machte ich Pommes in meiner neuen Friteuse.
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Ich selbst aß nur Pommes.

„Aber warum ist du denn nur Pommes?“, fragte Pia.

„Nun ja, ich hasse Cebabcici“, sagte ich.

„Warum hast du es denn nicht gesagt? Dann hättest du doch etwas anderes kochen können“, sagte sie und klang enttäuscht.

„Normalerweise hätte ich es. Aber ich hab es nicht fertig gebracht, als du mir gesagt hast, dass du es dir wünscht. Du hast es so lieb und voller Begeisterung ausgesprochen, ich konnte einfach nicht nein sagen“, erklärte ich ihr. Sie lächelte.

„Oh, das ist so lieb.“

„Ich liebe dich“, sagte ich.

„Ich dich auch“, erwiderte sie. Wir küssten uns.



Ich schloss als erstes den Anrufbeantworter an.

„Hallo, hier ist der Anrufbeantworter von Martin Thal. Nachrichten bitte nach dem Signalton“, sprach ich als Ansagetext. Ich fragte mich, wie Sebastian wohl reagieren würde, wenn er plötzlich die Ansage hören würde.

Ich rief meine Oma an, um mich zurückzumelden. Sie sagte, sie habe schon den ganzen Morgen versucht anzurufen und sich Sorgen gemacht, dass etwas passiert sei, weil sie dachte, ich wäre schon eher zurückgekommen. Ich sagte ihr, dass man doch nie auf die Uhrzeit genau sagen könne, wann man zurückkommt, man müsse doch immer mit Staus und Ähnlichem rechnen. Sie machte sich immer zuviel Sorgen. Manchmal fragte ich mich, ob sie überhaupt wusste, dass ich schon 25 war. Aber so war sie halt. Sie fragte mich, was ich in London alles gemacht hatte. Ich erzählte ihr, dass ich mir die Sehenswürdigkeiten angesehen hatte. Von Kathy erzählte ich ihr nichts und schon gar nicht, dass ich im Gefängnis war. Ich tat so, als sei alles in bester Ordnung. Ich wollte nicht, dass sie sich zu viel Sorgen um mich machte.

So saß ich wieder allein in meiner Wohnung. Alles war wieder beim Alten. Nur kam es mir noch eine weitere Stufe schlimmer vor.

Ich saß da und ließ Bilder aus schönen Zeiten meines Lebens durch meinen Kopf laufen. Es war als spielte sich alles wie ein Film vor mir ab. Ich sah Pia, wie sie das erste Mal in unser Geschäft kam. Ich sah sie, wie wir uns küssten, nachdem ich ihr das Geständnis gemacht hatte, dass ich mich in sie verliebt hatte. Immer wieder sah ich sie mit ihrem Lächeln.
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Ich sah Melanie, wie sie sich freute, als ich ihr das Zeugnis gefälscht hatte. Auch Bianca sah ich. Zuletzt sah ich Kathy, wie sie mich angesprochen hatte, ob ich eine Zigarette hatte und unseren Abschied.

Ich hatte seit dem Abschied von Kathy noch kein Bedürfnis gehabt zu weinen, obwohl ich traurig war. Aber ich war froh darüber, ich wollte nicht weinen. Ich hatte schon, bevor ich Pia kannte, viel einstecken müssen, aber nach ihrem Tod war ich zum Weichei geworden. Ich wollte nicht, dass es so blieb. Ich redete mir ein, dass ich Kathy, wenn sie sich auch nie melden würde, trotzdem wieder sehen könnte, wenn ich es wollte, ich brauchte nur wieder nach London zu fahren. Aber was würde es mir schon bringen? Ich wollte einfach, dass sich endlich dauerhaft etwas in meinem Leben veränderte und nicht nur kurzfristig. Ich fragte mich, wie mein Leben wäre, wenn ich Pia nie begegnet wäre. Wahrscheinlich wäre ich unzufrieden, aber ich hätte nichts verloren. Am besten wäre es, ich wäre nie geboren worden. Konnte es mich nicht einfach nicht geben?

Ich las Pias Abschiedsbrief. Anfangs hatte ich ihn jeden Tag gelesen und ihn immer bei mir gehabt. Aber irgendwann hab ich ihn bei mir zu Hause aufbewahrt, ich hätte mir nie verziehen, wenn ich ihn mal verloren hätte. Ich las ihn noch immer regelmäßig, wenn auch nicht mehr jeden Tag.



Lieber Martin,



wenn du diesen Brief liest, bin ich schon tot. Ich weiß, dass ich dir damit sehr wehtu, aber ich muss einfach gehen. Ich habe einfach zu viele Probleme zu Hause, ich kann es nicht mehr ertragen, es wird einfach immer schlimmer. Bitte mach dir keine Vorwürfe, du warst wunderbar, es war eine schöne Zeit mit dir, aber mir kann einfach niemand mehr helfen, ich komm da nicht mehr raus. Ich hätte mit dir darüber reden können, aber ich wollte einfach nicht, dass du dich um mich sorgst. Bitte denk nicht, dass ich kein Vertrauen zu dir hatte, und ich bin froh, dass du so ein Vertrauen zu mir hattest. Du hast nun schon so viel erreicht im Leben, ich glaube, du bist nun so weit und kannst alleine klar kommen. Ich danke dir für die schöne Zeit, die ich mit dir hatte, danke auch für den letzten Ausflug, er war sehr schön. Versuch bitte nicht so traurig zu sein. Du wirst bestimmt bald jemand anderes kennen lernen und mich vergessen, aber bitte vergiss mich nicht ganz, auch ich werde dich nie vergessen.
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Deine Freundin Pia



„Nein, ich habe dich nie vergessen und werde dich nie vergessen“, sagte ich laut vor mir her.

Es gab eine Möglichkeit wieder bei ihr zu sein, und zwar, wenn es wirklich ein Leben nach dem Tod geben sollte. Ich wusste nicht, ob ich daran glaubte. Ich glaubte zwar an Gott, aber ich konnte nicht sagen, ob ich daran glaubte, dass ich nach dem Tod in irgendeinem Paradies leben würde. Zwar glaubte ich manchmal, dass Pia zu mir herabsehen würde, aber ich hatte nie wirklich nachgedacht, wie es wäre, wenn ich tot wäre. Möglicherweise traf gar nichts zu, was man glaubte. Aber ich musste das Risiko eingehen. Selbst, wenn ich gar nichts mehr mitbekommen würde, was hatte ich in meinem Leben schon zu verlieren. Ich hatte keine Freunde, die mir das Leben wert machten, und ich hatte auch sonst nichts. Bei mir war doch jeder Tag der gleiche, morgens aufstehen, arbeiten, abends einsam vor dem Fernseher sitzen. Ich hatte eine panische Angst davor, dass es bis an mein Lebensende so weitergehen würde. Ich fuhr zum Friedhof zu Pias Grab.

Wie immer erzählte ich ihr, was ich so gemacht hatte. Ich erzählte ihr diesmal von meiner Londonreise, auch dass ich mit zwei Frauen Sex hatte. Ich sagte ihr, dass ich sie trotzdem nie vergessen hab und sie immer noch liebe und bald bei ihr sein werde.

Dann fuhr ich zum Friedhof, auf dem meine Mutter beerdigt war. Ich traf dort Herrn Wächter.

„Gut, dass ich sie hier treffe“, sagte ich zu ihm, nachdem wir uns gegenseitig gegrüßt hatten.

„Darf ich Sie etwas fragen?“, fuhr ich fort.

„Selbstverständlich“, antwortete er.

„Glauben Sie eigentlich an das Leben nach dem Tod? Glauben Sie, dass man, wenn man jemanden verloren hat, ihn wieder trifft, wenn man selbst tot ist?“, fragte ich.

„Da bin ich mir absolut sicher. Wieso fragst du?“, sprach er.

„Ach, ich hab da nur so dran gedacht“, antwortete ich ihm und verabschiedete mich auch schon wieder.

Ich besorgte mir eine Flasche Whisky. In einer Apotheke fragte ich nach Schlaftabletten. Mit beidem fuhr ich zum Fluss, zu der Stelle, wo Pia sich das Leben genommen hatte. Ich trank ein paar Schlücke Whiskey.
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Es schmeckte abscheulich. Aber ich trank ihn ja nicht wegen des Geschmacks. Ich hielt mir die Nase zu beim Trinken, so merkte ich den Geschmack nicht. Nach etwa einer drittel Flasche ließ ich es erst einmal wirken. Es wirkte schnell. Ich schluckte erst einmal zwei von den Schlaftabletten. Trank ein paar Schlücke hinterher. Ich hatte vor, wenn es richtig wirkte ins Wasser zu gehen, um zu ertrinken. Ich brauchte ziemlich lange, um die Flasche zu leeren, aber irgendwann hatte ich es geschafft. Ich war richtig benebelt. Ich wollte noch eine Weile am Ufer bleiben und dann ins Wasser gehen. Ich kam allerdings nicht mehr dazu, da ich vorher schon einschlief.

Als ich zu mir kam, befand ich mich auf einer Wiese. Es war eine schöne Wiese. Und um mich herum war nichts als Wiese und ein paar Bäumen zwischendurch. Es war wie in den idyllischen Gefilden, die man aus der griechischen Sage kannte. Ich wusste nicht, wo ich war, und da ich auch keine Erklärung hatte, wie ich dort hingekommen war, war ich mir sicher, dass ich tot war. Es gab also wirklich das Leben nach dem Tod.

„Hallo Martin“, hörte ich plötzlich eine Frau hinter mir. Ich drehte mich um und sah meine Mutter. Ich war völlig überrascht und außer mir vor Freude, sie zu sehen. Ich fiel ihr in die Arme. Sie strahlte auch. Sie sah noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte.

„Endlich sehen wir uns wieder“, freute ich mich. „Es gibt tatsächlich ein Paradies“, sagte ich. „Ich bin doch tot, oder?“, fragte ich nach.

„Hier leben wir nach dem Tod“, antwortete Mutter.

„Und konntest du mich von hier oben sehen?“, fragte ich.

„Aber natürlich, ich habe dich die ganzen Jahre beobachtet, wie du aufgewachsen bist“, antwortete sie.

„Dann kennst du auch Pia?“, fragte ich aufgeregt. „Wo ist sie? Ich kann sie doch auch jetzt wieder sehen?“, fragte ich weiter.

„Es geht ihr gut, aber du bist noch nicht so weit, hier zu bleiben“, sprach Mutter. „Du musst wieder zurück auf die Erde.“

„Aber ich bin doch tot.“

„Du warst auf dem Weg dorthin, aber dein Leben ist noch nicht zu Ende. Dein Platz ist auf der Erde“, sagte sie.

„Aber ich will dort nicht zurück“, meinte ich traurig.

„Du musst, du darfst nicht so einfach aufgeben“, antwortete sie.
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„Kann ich sie denn wenigstens noch sehen“, fragte ich.

„Das geht leider nicht.“

„Aber warum denn nicht?“

„Glaub mir, es hat alles seinen Grund.“

„Aber wenn alles seinen Grund hat, wie es gelaufen ist, warum tut es dann so weh? Warum fehlt sie mir so? Warum gelingt es mir einfach nicht, sie zu vergessen?“, fragte ich.

„Vertrau mir“, sagte sie. „Du musst jetzt zurück.“

Ich sah noch, wie sie langsam verblasste und schließlich verschwand.

„Martin“, rief plötzlich jemand anders. „Martin!“

Plötzlich befand ich mich wieder am Flussufer und Herr Wächter rüttelte an mir. War das nur ein Traum?

„Was wolltest du dir antun? Bist du nicht mehr bei Sinnen?“, fragte er. „Wolltest du dich umbringen?“

„Nein“, sagte ich.

„Und wozu die Schlaftabletten?“ Ich sagte nichts.

„Du kannst froh sein, dass diese Tabletten ungefährlich sind und man sich damit nicht so einfach umbringen kann.“

„Ist es wegen deiner Freundin“, fragte er dann.

„Woher wissen Sie…?“, fragte ich verblüfft.

„Ich bekomme vieles mit. Ich weiß, dass es deine Freundin war, die sich vor zwei Jahren hier das Leben genommen hat.“ Er wusste anscheinend alles.

„Du solltest trotzdem vorsichtshalber zu einem Arzt gehen. Und falls du mit dem Auto gefahren bist, lass es bloß stehen“, wies er mich noch hin.

Plötzlich musste ich mich übergeben.

„Entschuldigung“, sagte ich. Da sah ich, dass er inzwischen wieder weg war. Ich konnte zwar verstehen, dass er mir dabei nicht zusehen wollte, aber er hätte ja wenigstens sagen können, dass er ging. Er war wirklich seltsam. Ich wunderte mich, was er dort gemacht hatte. Wenn ich ihn auch für seltsam hielt, war es mir doch ziemlich unangenehm, dass er mitbekommen hatte, dass ich mich hatte umbringen wollen. Es war wirklich ein Zufall, dass er genau zu dieser Zeit dort war.

Ich war zwar wieder nüchtern im Kopf, aber spürte einen ziemlichen Kater. Und das Laufen strengte mich an. Ich hätte mir eigentlich denken können, dass die einfachen Schlaftabletten, die man ohne Rezept bekommt, nichts taugen. Und davon abgesehen hatte ich sowieso nur zwei Stück genommen, betrunken wie ich war, kam ich gar nicht mehr dazu, die ganze Schachtel zu schlucken.
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Aber es war besser, dass es nicht geklappt hatte, ich hatte ja nicht mal einen Abschiedsbrief geschrieben. Wie ein Penner kam ich mir vor, als ich da so herlief mit Alkoholfahne.



Ich hatte mich die Tage vor der Beerdigung „zu Hause“ schon betrunken, weil ich den Schmerz nicht ertragen konnte. Ich begann mich innerhalb von ein paar Tagen zum Säufer zu entwickeln. Zur Beerdigung war ich nüchtern erschienen, Pia hätte nicht gewollt, dass ich betrunken gewesen wäre.

Nach der Beerdigung ging ich nicht mehr mit zur Trauerfeier, sondern ging in das nächste Geschäft und kaufte mir zwei Flaschen Whisky. Ich zog es diesmal nicht einmal vor, mich in meiner Wohnung zu betrinken, sondern ging in den Park. Ich fand es primitiv, in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken, aber inzwischen war mir alles egal, es interessierte mich nicht, was andere Leute dachten. Ich setzte mich auf eine Bank und trank. Ich trank ziemlich hastig, damit es schnell wirkte. Zwischendurch kamen ein paar Leute vorbei, guckten mich angewidert an, aber es interessierte mich einfach nicht. Einige Leute guckten auch mitleidig, wahrscheinlich konnten die sich denken, was mit mir los war. Ich saß schließlich im schwarzen Anzug mit verheulten Augen da.

Ich trank und trank. Obwohl der Alkohol immer mehr wirkte, fühlte ich mich nicht viel besser, ich war genauso verzweifelt wie vorher. Als die Flasche leer war, machte ich die zweite auf. Ich beschloss mich auf den Weg „nach Hause“ zu machen und unterwegs weiter zu trinken. Ich war gar nicht mehr richtig da, ich nahm um mich herum alles gar nicht mehr wahr, ich spürte nur immer noch diese Verzweiflung und merkte, dass ich am taumeln war. Und so taumelte ich verzweifelt mitten in der Öffentlichkeit an der Hauptstraße, wo mich jeder sehen konnte, mit der Flasche Whisky in der Hand und nahm immer einen Schluck zwischendurch.

Ich bekam noch irgendwie mit, dass irgendwann Bianca mit dem Auto vorbei kam, anhielt und ausstieg. Sie sprach ziemlich hektisch auf mich ein, aber ich bekam nicht richtig mit, was sie sagte und realisierte es auch nicht wirklich. Dann setzte sie mich ins Auto und brachte mich „nach Hause“ in meine Wohnung, die total unordentlich war. Sie hielt dort meinen Kopf unter die Dusche mit kaltem Wasser bis ich wieder einigermaßen klar wurde.
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„Was machst du denn?“, fragte sie, als sie merkte, dass ich wieder bei Verstand war. „Das ist doch keine Lösung.“

„Das weiß ich doch auch“, erwiderte ich energisch. „Aber was soll ich denn machen?“

„Auf keinen Fall so weitermachen. Wie viel hast du getrunken?“

„Etwa ein Viertel der Flasche“, log ich.

„Jetzt erzähl mir doch nichts. Kein Mensch ist davon so voll. Du hättest dich selbst sehen sollen, wie du da her gegangen bist. Du hast mich ja kaum wahrgenommen.“ Ich war nicht überrascht, dass sie mir nicht glaubte.

„Jetzt sag mir, was du wirklich alles getrunken hast“, sagte sie teils besorgt und teils sehr bestimmt.

„Ich hab davor eine ganze Flasche getrunken“, gab ich schließlich zu.

„Wie bitte?“, schrie sie. „Tickst du eigentlich noch ganz sauber? Wäre ich nicht zufällig vorbei gekommen hättest du die zweite Flasche auch noch getrunken und dir eine Alkoholvergiftung eingefangen und wärst dabei draufgegangen.“ „Wäre auch besser so“, meinte ich leise.

„Jetzt hör auf damit“, schrie sie lauter. „Du machst mich wütend und traurig zugleich.“ Ich sagte nichts.

„Und guck dir doch mal an, wie es hier aussieht, du lässt dich ja total gehen“, fuhr sie weiter fort. Natürlich hatte sie Recht damit. Dann setzte sie sich zu mir. „Ich weiß, wie schwer es für dich ist, wie du dich fühlst“, sprach sie jetzt sanft. „Aber du kannst dich nicht so gehen lassen, das bringt doch auch nichts. Deshalb bin ich so aufbrausend. Ich weiß, dass es am Anfang besonders schlimm für dich sein wird, aber du darfst nicht so weiter machen. Es wird dir irgendwann wieder besser gehen.“



Es war inzwischen abends, als ich „nach Hause“ kam. Zum Arzt war ich nicht gegangen. Ich wollte einfach nur ein heißes Bad nehmen. Ich kam gerade die Tür rein, da klingelte mein Telefon. Ich ließ den Anrufbeantworter laufen. Es wurde aber sofort aufgelegt. Ich konnte mir schon denken, wer es war. Mein Anrufbeantworter zeigte an, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hatte. „Hallo Martin, hier ist Sebastian. Ich hab die ganzen Tage schon versucht, dich zu erreichen. Meld dich doch mal.
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“ Hatte ich es doch gewusst. Und genau er hatte garantiert auch angerufen, als ich herein gekommen war. Ich hatte nicht vor ihn zurückzurufen. Ich wollte mit ihm einfach nichts zu tun haben und beschloss den Kontakt zu ihm abzubrechen, und zwar wortlos. Ich konnte es zwar nicht ausstehen, wenn Leute einfach so wortlos den Kontakt abbrachen, aber auf normale Art konnte man ja den Kontakt zu ihm nicht abbrechen. Bei ihm ging es nur auf die harte Tour. Und außerdem waren mir gegenüber immer die wenigsten Leute fair gewesen, warum sollte ich es dann immer sein. Ich ließ es mir, während ich in der Badewanne lag noch einmal genau durch den Kopf gehen und kam nach wie vor zu dem Ergebnis, dass ich endgültig nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Er war rechthaberisch, aufdringlich, egoistisch und manchmal sogar unverschämt.

Wenn er bei mir war, bediente er sich ständig selbst, ging an meine Anlage, verstellte irgendetwas. Jedes Mal surfte er stundenlang im Internet auf meine Kosten, obwohl er sagte, er wolle nur seine E-Mails abchecken. Einmal waren, nachdem er an meinem PC war, einige Dateien von mir verschwunden. Aber er hatte natürlich abgestritten, dass er daran etwas gemacht hatte. Dann einmal hatte er aus meinem Kühlschrank heimlich einen Schokoriegel herausgenommen und eingesteckt. Der hatte zwar nur ein paar Pfennig gekostet, aber es ging ums Prinzip. Wie kam er dazu, einfach ohne zu fragen an meinen Kühlschrank zu gehen. Auch wenn das schon ein paar Jahre her war, aber wenn ständig irgendwas kommt, läuft das Fass irgendwann über. Und das waren nur einige Sachen, mit denen er mich zur Weißglut brachte. Ich hatte einfach die Schnauze voll von ihm. Ich lag noch in der Badewanne, da klingelte das Telefon schon wieder, seitdem letzten Mal war vielleicht eine halbe Stunde vergangen. Wieder sagte niemand etwas, als der Anrufbeantworter anging. Das war er schon wieder. Das bestätigte meine Entscheidung nur umso mehr.

Ich fühlte mich nach dem heißen Bad schon besser. Ich duschte anschließend kurz eiskalt. Nachdem ich gegessen hatte, fühlte ich mich wieder gut – körperlich.

Ich beschloss Kirsten anzurufen, das würde mich ein wenig ablenken. Wenn Sebastian allerdings im selben Moment mich anrufen würde und bei mir besetzt war, würde er sofort wissen, dass ich zu Hause war und dann möglicherweise auf die Idee kommen bei mir vorbei zu kommen.
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So etwas hatte er auch schon gemacht. Aber ich würde dann einfach nicht aufmachen, vielleicht würde er dann ja merken, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Also rief ich Kirsten an. Sie freute sich über meinen Anruf. Ich erzählte ihr, dass ich aus London zurückgekommen sei. Sie fragte, wie es dort gewesen sei. Ich erzählte ihr, was ich mir alles angesehen hatte.

„Ja, und dann war ich noch im Gefängnis“, fügte ich anschließend hinzu. „Wieso im Gefängnis?“, fragte sie verwirrt. Da überkam es mich und ich fing an loszulachen. Auf einmal kam es mir so lächerlich vor. Da erzählte ich ihr die Story, ließ aber ein paar gewisse Einzelheiten weg, insbesondere, was das Mädchen betraf. Sie musste auch ein wenig lachen, obwohl sie meinte, dass es doch schlimm sein müsse in einem fremden Land in einem Gefängnis zu sein.

Sie fragte, ob ich nicht Lust hätte, mich am kommenden Samstag mit ihr auf einen Kaffee zu treffen. Ich fand den Vorschlag gut, ich hätte ihr das früher oder später auch vorgeschlagen. Ich brauchte einfach mal wieder neue Kontakte. Wir verabredeten uns in Düsseldorf. Sie hatte zwar vorgeschlagen, dass wir uns auf halbem Weg treffen könnten, z. B. in Oberhausen oder in Essen, aber ich sagte, es sei kein Problem für mich nach Düsseldorf zu kommen.

Kurz nachdem wir uns verabschiedet hatten, klingelte es bei mir. Ich öffnete nicht. Es klingelte wieder. Dann ein drittes Mal. Dann war es, wie ich vermutet hatte, tatsächlich Sebastian. Aber da er ja wusste, dass ich da sein musste, wenn bei mir besetzt war, als er anrief, würde er, so wie ich ihn kannte, nach dem dritten Klingeln nicht schon aufgeben. Etwa 20 Sekunden später folgte auch schon das vierte Klingeln, allerdings war es kein einfaches Klingeln, sondern er schellte Sturm. Trotzdem reagierte ich nicht. Ebenso wenig wie ich reagierte gab er auf und schellte weiter Sturm, wie ein Verrückter drückte er auf die Klingel, ein paar Mal direkt hintereinander ganz kurz, dann sofort im Anschluss etwa zehn Sekunden lang, dann wieder ein paar Mal kurz hintereinander. Ihm war einfach nicht mehr zu helfen. Kurz darauf rief er von unten meinen Namen. Das wurde langsam peinlich, ich hoffte, dass das niemand mitbekam. Nachdem er etwa zwei Minuten lang meinen Namen gerufen hatte, ging der Klingelterror weiter.
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Diesmal drückte er etwa eine Minute lang auf die Schelle. So aufdringlich wie er konnte kein normaler Mensch sein, das war schon nicht mehr aufdringlich, das war schon krankhaft. Nachdem er die Schelle losgelassen hatte, drückte er, wenn ich richtig mitgezählt hatte, 47 Mal wieder ganz schnell hintereinander auf den Klingelknopf, danach ließ er den Knopf wieder etwa eine Minute lang nicht los. Auch wenn er genau wusste, dass ich zu Hause war, müsste er doch begreifen, dass ich keine Lust hatte aufzumachen und endlich aufgeben. Aber er schellte weiter. Obwohl es mehr als lächerlich war, was er machte, konnte ich nicht darüber lachen. Stattdessen hatte ich richtig Lust ihn zu erschlagen. Als es nach einer halben Stunde plötzlich aufgehört hatte, dachte ich, er wäre endlich weg. Aber da lag ich leider falsch. Denn kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, klopfte er an meiner Wohnungstür. Welcher Idiot hatte ihn nur unten hereingelassen. Aber auch jetzt dachte ich nicht daran zu öffnen.

„Martin! Hallo! Ich bin ´s, Sebastian“, rief er und klopfte weiter. „Man, ich weiß doch, dass du da bist, jetzt mach auf da!“, rief er weiter. Mit Sicherheit bekamen es die Nachbarn mit. Jetzt fing er wieder an zu klingeln im Sturmtakt und zu klopfen gleichzeitig.

„Martin“, rief er wieder. „Weißt du was, du kannst mich am Arsch lecken, unsere Freundschaft ist gekündigt“, schrie er dann. Na endlich, dachte ich. Aber er haute immer noch nicht ab.

„Ich find es so was von scheiße, dass du nicht auf machst“, schrie er weiter. Der Typ machte nicht nur sich selbst lächerlich, sondern auch mich. Schließlich hörte ich, wie meine Nachbarin ihre Tür öffnete.

„Sagen Sie mal, was fällt Ihnen ein, hier so herum zu schreien?“, fragte sie. „Wenn jetzt nicht langsam Ruhe ist, ruf ich die Polizei“, drohte sie im Anschluss. Sie war meine Rettung. Wenn die ganze Sache nicht so peinlich wäre, hätte ich darüber gelacht.

„Ja, ist ja gut, ich geh ja schon“, hörte ich ihn sagen. Dann schien er wohl endlich abzuhauen. Ich hörte, wie die Nachbarin die Tür wieder zu machte. Endlich Ruhe. Obwohl er gesagt hatte, dass die Freundschaft gekündigt sei, war ich sicher, dass ich nicht das letzte Mal von ihm gehört hatte.
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Aber wenigstens für heute hatte ich endlich Ruhe. Und nach diesem Tag konnte ich Ruhe ziemlich gut gebrauchen.

Ich dachte noch lange über den Tag nach, vor allem über die Begegnung mit meiner Mutter. Es schien alles so real, als wäre ich wirklich für kurze Zeit im Jenseits gewesen, aber das konnte ja nicht sein. Denn dann wäre ich ja nicht von alleine wach geworden, sondern hätte wieder belebt werden müssen. Es war wohl nur ein Traum, aber ein verdammt echt wirkender Traum.
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Kommentare zur Story:

  Wieder eine gelungene Fortsetzung. Freut mich, dass du den Text nun reinsetzt. Lg Sabine  
Sabine Müller  -  12.01.07 02:17

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