Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    midori      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 25. Dezember 2004
Bei Webstories eingestellt: 25. Dezember 2004
Anzahl gesehen: 1999
Seiten: 2

„Tut mir Leid, Herr Maier, aber sie kann Ihnen nicht antworten; sie ist stumm.“



Ich bin stumm, ja das bin ich.

Stumm. S-T-U-M-M. Fünf Buchstaben aneinandergereiht.

Und jetzt sitzen wir, Mama und ich, hier bei diesem Mann und warten. Warten und warten. Wie immer. Nein, eigentlich warte nur ich. Mama sagt etwas, sie kann ja reden. Ich bin es, die nicht reden kann, die nur warten kann. Und zuhören.



„Na, Kleines.“ hat der Mann gesagt, als wir sein Zimmer betreten haben. „Du willst also auf unsere Schule gehen...“ Ich hab genickt, mich an meine Mami geschmiegt und dann durften wir uns setzen. Ich hab mich umgesehen, denn manchmal ist es einfach so langweilig, nur zuzuhören, nichts sagen zu können. Also hab ich das Zimmer betrachtet, all die alten Möbel. Aber da war gar kein Staub. Das hat mich gewundert. Bei uns im Haus ist überall Staub und auch wenn die Angestellten putzen, ist kurz darauf wieder Staub zu sehen. Ich male gerne Gesichter in den Staub – und ich schreibe gerne in ihn hinein. Papa hat mir das Schreiben beigebracht, aber jetzt übt Frau Schmitt das mit mir, Frau Schmitt ist meine Lehrerin zu Hause. Sie lobt mich oft. Und dann gibt sie mir jedes Mal eines ihrer Schokoplätzchen. Die sind gut!



„Tut mir Leid, Herr Maier, aber sie kann Ihnen nicht antworten; sie ist stumm. Ich... ich dachte, das wüssten Sie. Ich... hab es doch in mei.. meinem Brief erwähnt...“ Mama hat oft Angst, wie die Menschen reagieren, wenn sie hören, dass ich stumm bin. Ich weiß nicht, weshalb, weil das doch nichts Schlimmes ist – das sagt zumindest Frau Schmitt - und Papa, und alle, die ich kenne. Nur Mama hat Angst. Ich würde sie gerne fragen, weshalb, aber dann wäre ich wohl kaum stumm, wenn ich das könnte... Der Mann, er hat einen langen, lustigen, nach außen geschwungenen Schnurrbart, langt sich an den Kopf. Er erinnert sich wohl. „Natürlich, Frau Schneider; wie konnte ich das vergessen? Entschuldigen Sie. Aber das ist ja auch kein Problem; wir reden hier ja auch nicht viel; die Musik steht hier bei uns im Vordergrund.“



Dann guckt der Mann mich an, lächelt ein bisschen, aber irgendwie ist das unheimlich und fragt mich, ob ich ihm nicht etwas vorspielen möchte. Ich lächle, nicke und stehe auf, aus dem bequemen Sessel.



„Also.
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.. gehen wir ins Musikzimmer. Es ist auch nicht weit!“ Mama und ich eilen dem Mann hinterher, dabei hab ich meine Hand fest mit der meiner Mami verschränkt und schaue lächelnd zu ihr auf. Sie tätschelt mir beruhigend den Kopf und dabei strahlen ihre Augen so wunderbar warm zu mir hinunter. Sie liebt mich, das weiß ich. Sie sagt es ganz oft. Und dann sagt sie danach immer noch, dass es ihr nichts ausmacht, dass ich stumm bin. Das stimmt nicht, das weiß ich, aber ich lass es mir nicht anmerken und geb ihr einen Kuss auf die Wange. Ich hab dich lieb, Mama, würd ich gerne mal sagen; aber das geht ja nicht. Weil ich stumm bin. Und Stumme können nicht reden.



„So, wir sind da. Am besten, du setzt dich gleich an den Flügel.“ Ich renne hin, will es hinter mich bringen, steig auf den Sessel und lass meine Beine herunterhängen. Der Hocker ist zu hoch für mich, aber das macht nichts. Fragend schau ich zu meiner Mama. Was soll ich spielen?, fragen meine Augen. „Wie wärs mit Bach, Liebes?“ Ich nicke, eigentlich ist es egal, was ich spiele. Ich fange an, spiele. Spiele und spiele. Es ist schön zu spielen, manchmal vergesse ich dann sogar, dass ich stumm bin und fliege ich irgendwohin, am liebsten auf dem Mond. Aber ich kann nicht fliegen und bleibe stumm.



Papa sagt immer, ich sei begabt. Sehr begabt, sagt Mama. Und alle anderen sagen, ich spiele sehr schön. Der Mann sagt auch, dass ich sehr gut spielen könne und bittet mich um etwas Schwereres. Also spiele ich. Und irgendwann muss ich nicht mehr spielen und falle wieder auf die Erde.



„Sehr schön“, sagt der Mann. „Sie ist wirklich sehr begabt und es wäre uns eine Freude, sie in unserer Schule aufzunehmen.“ Mama nimmt mich lachend in den Arm, als ich wieder auf sie zukomme und drückt mich ganz fest. Sie ist glücklich. Und das ist schön, denn dann bin ich auch glücklich.
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Punktestand der Geschichte:   7
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Kommentare zur Story:

  Hallo, mir gefällt es sehr gut. Sehr schön beschrieben und vor allem kommt der Moment sehr schön rüber. Mit Kinderaugen betrachtet. Gruß Sabine  
Sabine Müller  -  11.05.06 00:02

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  Es war und ist nur ein Stückchen, herausgepickt aus einem Leben. Ich will damit nicht sagen (warum muss man immer etwas sagen wollen?), ich wollte einfach nur eine Geschichte erzählen, einem Moment beschreiben.  
midori  -  10.01.06 20:32

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Ich frage mich, was du mit der Geschichte erzählen möchtest. Dass stumme Menschen auch eine Chance verdient haben? Oder holst du sogar soweit aus, uns zu erzählen, dass sie auch menschliche Gefühle und Talente haben? Oder, dass ein fehlender Sinn durch ein anderes Talent ersetzt wird?

Mir e´rging es beim lesen so, dass ich auf eine Handlung wartete, außer Angst (aus der Sicht des Mädchens) und farblos dargestellte "Nebenfiguren" kam aber irgendwie nichts.

Schade, aus dem Thema kann man sicher mehr machen.  
Middel  -  08.01.06 17:44

   Zustimmungen: 2     Zustimmen

  ganz arg toll geschrieben und auch inhaltlich ganz arg toll
5pkt.  
jaana  -  09.03.05 18:12

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

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