Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise

Von:    Harald Wittig      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 18. Juli 2004
Bei Webstories eingestellt: 18. Juli 2004
Anzahl gesehen: 3003
Seiten: 3

Fahren Sie gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Nein? Sie hassen es? Weil Züge ständig überfüllt sind - genauso wie die in den Abteilen befindlichen Müllbehälter? Weil Sie die intellektuell höchst anspruchsvollen Gespräche der eingeborenen Heranwachsenden, zumeist in fließendem Kanakisch geführt, für anstrengend, wenn nicht gar enervierend erachten. Weil Sie es „uncool“ finden?

Dann sollten Sie Ihre Einstellung ändern! Denn nicht nur bei einem bekannten Autohersteller heißt es: "F***, die tun was!!" Auch die Bahn tut einiges, um das Bahnreisen zu einem echten Abenteuer für den Reisenden zu gestalten. In Zeiten der knappen Haushaltskassen ein fürwahr feiner Zug. Abenteuerurlaub in den heimischen Gefilden, anregend - prickelnd, für ganz, ganz wenig Geld.

Warum sich durch den Amazonas - Dschungel kämpfen, vor Riesenschlangen, dem bissigen Jaguar und Curare - Pfeilen fliehen? Das Gute liegt so nah! Zum Beispiel auf der Bahnstrecke Hennef - Köln.

Mit seiner Nettofahrzeit von 32 Minuten, analog mit Zeigeruhr gemessen, wäre es an und für sich nur eine langweilige Bahnstrecke; sieht man ab vom üblichen Standardrepertoire (s. h. oben!). Doch das spezielle Gewürz, das die Bahn als kostenlosen Bonus für Dauerfahrer bereithält, nennt sich "Betriebsstörung".

Mit kompetenter Meisterschaft, wie es im übertragenen Sinne nur einem echten Fünfeinhalb - Sterne - Koch zueigen ist, vergibt die Bahn selbiges in fein abgestuften Dosen, so dass schließlich ein schmackhaft - feuriges Gericht entsteht. Dieses zeichnet sich dann durch besonderen Nährwert in bestimmten Wettersituationen und Jahreszeiten aus, als da sind: Winter/klirrende Kälte, Sommer/brütende Hitze und das zeitenunabhängige Gewitter mit orkanartigen Windböen.

Als echte Eventmanagarin versteht es die Bahn bestens, zunächst langsam Spannung aufzubauen: Der erwartete Zug wird "wegen einer Betriebsstörung" voraussichtlich "fünf bis zehn Minuten später eintreffen". Der Nachsatz "Wir bitten um Verständnis!!!" heißt in die Umgangssprache übersetzt: "Wir erwarten Verständnis - und wehe nicht!!!"

Dass der Zug faktisch ca. 17 Minuten später eintrifft, ist nicht etwa ein bloßer, dummer Zufall, sondern genau berechnetes Kalkül: Der Bahnreisende ist nun schon auf das Kommende vorbereitet und in einigermaßen erwartungsfroher Stimmung; nebenbei hat er bereits Sozialkontakte zu einigen Mitreisenden geknüpft und Erfahrungsberichte sammeln dürfen, wie z.
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B.: "Ich fahre seit 23 Jahren diese Strecke! Der *...* Zug war noch nie (!!!!) pünktlich! Und was machen Sie eigentlich beruflich?" Auch zur Erhaltung der menschlichen Rasse leistet die Bahn auf diese Weise einiges. Denn so wurde doch schon manch zarte Bande zwischen Reisender und Reisendem gewebt, die über den Zwischenbahnhof "Hafen der Ehe" auch schon mal in Nachwuchs gipfelten. Dass die Verbindung zwischen Menschen des gleichen Geschlechts nicht weniger häufig vorkommt und zumeist keinen echten Beitrag unter der Rubrik "Fortpflanzung" leistet, wäre höchstens in früheren Zeiten in kleiner Schönheitsfehler gewesen...

Sitzt man/frau dann schließlich doch im Abteil, so verzögert sich die Weiterfahrt nur noch um fünf weitere Minuten. Selbstverständlich kann weder das Zugbegleitpersonal noch die mitreisende Hellseherin den Grund hierfür nennen! Dabei wäre es so einfach! Die Menschheit liebt es geradeaus und schnörkellos - daher rechen sich Verspätungen von rund 25 Minuten viel leichter als solche von 18 1/2!

Hat man dann seine Lektüre herausgekramt, das Ritual "Fahrkartenkontrolle" mehr oder weniger unbeschadet überstanden, sich zurückgelehnt, Fahrtwind und Kölschfahne des Gegenübers geschnuppert...dann bleibt der Zug spätestens nach der zweiten Station stehen. Natürlich irgendwo im Niemandsland. Erst nach ungefähr einer Viertelstunde beginnt ein erfahrener Reisender Anzeichen eines nervösen Tiks zu zeigen und blickt von seinem Buch bzw. der barbusigen Schönheit auf Seite Drei auf. Erste Gesprächsfetzen informieren darüber, dass wohl "irgendetwas nicht stimmt!" Die Bahn beweist auch hier perfektes Timing: Erst nachdem sich eine gemütliche Atmosphäre der Verbrüderung/-schwesterung aufgebaut hat, die längst auch die stillen, schüchternen Zeitgenossen erfasst hat, knackt der Lautsprecher! "Wegen einer Betriebsstörung verzögert sich die Weiterfahrt bis auf weiteres – höchstens jedoch um 20 Minuten. Wir bitten.
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..etc."

Den sprichwörtlichen "Goldenen Topf am Ende des Regenbogens" hat man gefunden, wenn zeitgleich ein bedeutender Sportevent stattfinden soll, beispielsweise die erste Heimniederlage des Bundesligaabsteigers 1. FC Köln. Denn der echte Fan teilt gerne aus! Nicht nur Lebensweisheiten und mal eine kleine Ohrfeige, sondern auch Flaschen aus dem mitgeführten Biercontainer. Und nach und nach kommt der Zug in die rechte Stimmung und beginnt gemütlich zu schwanken...äh...schunkeln, während heisere Frauen- und Männerstimmen unvergessliche Evergreens aus dem reichen Fundus des Kölschrock anstimmen. Und während die Stimmung weiter steigt und ihrem Höhepunkt entgegenrauscht, stillere Mitmenschen heimlich an Suizid denken...geht die Fahrt weiter.

Und sie geht langsam weiter, im Schritttempo. Eine Gruppe von possierlichen Hoppelhäschen hoppelt neben dem Zug her, romantische Mitreisende pflücken einige Blümlein am Gleisesrand und überreichen den Strauß zur Intensivierung der Kontaktaufnahme der neugefundenen Dame oder dem Herrn des Herzens, Flaschen klirren und zerspellen auf dem Boden, lachen, singen, manch einer/eine beginnt seinen "Letzten Willen" vorzuformulieren...und die Fahrt findet ihr Ende.

Natürlich nicht am Zielbahnhof, sondern in der Wallachai, "Spich" genannt.

"Sehr geehrte Fahrgäste!! Wegen eines Lokschadens endet unsere Fahrt hier!!! Wir bitten Sie auszusteigen und den nächstmöglichen Anschlusszug zu nehmen!!!! Dieser trifft wegen einer Betriebstörung voraussichtlich nicht vor dem Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten ein. Genießen Sie den Aufenthalt in..."Spich". Der Wetterdienst meldet für den Nachmittag heftige Gewitter. Wir würden uns freuen, Sie auch im nächsten Leben wieder als Fahrgäste begrüßen zu dürfen. Achten Sie auf Ihre Wertsachen. Die Deutsche Bahn AG wünscht allen Reisenden noch einen schönen Tag!!!!!"
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Kommentare zur Story:

  Spich ist die Wallachei ? Das sagt einer der ( anscheinend ) in Hennef wohnt !  
Marco  -  03.09.04 17:13

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  "kanakisch" hin oder her...

Ich habe mich königlich amüsiert. Und das passiert verdammt selten bei Geschichten aus der Rubrik "Satire".

Flott runtergeschrieben, schöne Formulierungen, plastische Sprache, ja, ich habe mitgelitten.

So soll das sein.

Ärgerlich, daß mir das nicht eingefallen ist :D

Volle Punktzahl.  
ThiloS  -  21.07.04 01:20

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  Hallo Ingo,

da danke ich mal sehr für Deine Kommentare!
Die Geschichte ist eigentlich nicht so alt (aus dem letzten Jahr), die Handys hatte ich schon mal mit einer Glosse bedacht - deswegen ließ ich sie hier aus.
"Kanakisch" klingt in der Tat ein wenig fragwürdig - allerdings gibt es mittlerweile Wörterbücher "Deutsch - Kanakisch" für all jene, die gerne "cool", "hip" und oberkrass" drauf sein wollen - Maxijeans, Kopfsocken und Gangsta - Rap inklusive...

Gruß!  
Harald  -  20.07.04 09:43

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  Das ist mal wieder analytisch und sarkastisch überspitzt!
Entweder ist dies schon eine ältere Geschichte, oder Du hast bewusst etwas zeittypisch-nervendes ausgelassen: Die Handy-Benutzung! Ob im stehenden oder fahrenden Zug, irgendwer plappert immer irgendeinen Scheiss, den der Nachbar gar nicht hören will, in sein tragbares Telefon!
Ansonsten weiss ich nicht so recht, ob der Ausdruck "Kanakisch" nicht ein wenig rassistisch ist...

Gruss  
Ingo Gärtner  -  20.07.04 07:15

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Hallo, sehr berührend. Gefällt mir gut, auch wenn es sehr traurig ist. Gruß Sabine

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