Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Izual      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. Juni 2004
Bei Webstories eingestellt: 26. Juni 2004
Anzahl gesehen: 3446
Seiten: 58

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Diese Story beinhaltet eine homoerotische Beziehung.





1.





Straßenlärm umgab mich. Wohin ich auch sah – überall Autos mit dröhnenden Motoren, die ihre stinkenden Abgase in die spätsommerlich schwüle Luft abließen und dahineilende Menschen mit abweisenden Gesichtsausdrücken, die entweder Taschen oder Aktenkoffer in ihren Händen schwenkten. Hin und wieder ertönte ein empörtes Hupen, es wurde gerufen und gelacht. Sonnenlicht spiegelte sich in zahlreichen Windschutzschreiben.

Verwundert und ein wenig geschockt blickte ich mich um. Ich war buchstäblich hineinkatapultiert worden in dieses Großstadtgeschehen, welches fürchterlich fremd und exotisch auf mich wirkte. Zögerlich trat ich einen Schritt weiter aus der kleinen Seitenstraße heraus, in der ich vor ein paar Sekunden buchstäblich wie aus dem Nichts erschienen war. Erst einmal tief Luft holen und sich an die Umgebung gewöhnen, dachte ich mir, also lehnte ich mich zitternd gegen eine Hauswand und versuchte ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, wie es all jene Sterblichen taten, die an mir vorbeirauschten.

Als gefallener Engel, der gerade durch eines der Höllenportale die Erde betreten hatte, kannte man derlei Hektik und Lärm wahrlich nicht. Nein, in meinem Leben hatte bisher Stille und Ruhe regiert. Die Menschen um mich herum würdigten mich keines Blickes; sie sahen mich höchstens giftig an, als erwarteten sie, dass ich sie gleich anpöbeln wolle.

Ich sah natürlich auch nicht aus wie ein gefallener Engel. Nein, ich war quasi „in Zivil“ gekleidet und machte den Eindruck eines ganz normalen, männlichen Teenagers. Ich warf einen nervösen Blick an mir hinab. Für den Besuch auf der Erde hatte ich mir ein paar braune Cordhosen ausgesucht, außerdem ein graues T-Shirt, das mir ungefähr zwei Nummern zu groß war. Meine Füße steckten in normalen Turnschuhen, eine Umhängetasche baumelte von meiner Schulter herab. Diese Kleidung fühlte sich furchtbar ungewohnt an. In meiner Heimat trug man teure Gewänder und Uniformem aus feinen Stoffen.

Zu einem Engel gehörten auch Flügel, doch über meine Flügel brauchte ich mir schon seit Jahrzehnten keine Gedanken mehr zu machen. Sie waren fort.

Das einzigste, was mich wohl von gewöhnlichen Sterblichen unterschied, war mein Gesicht, das ich auch schlecht verändern konnte.
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Mein Gesicht war wie das aller Engel außergewöhnlich schön. Hohe Wangenknochen, feine Gesichtszüge, sehr helle Haut und funkelnde Augen. Die meinen waren von einem sanften silbergrau. Unruhig drückte ich die Schildkappe fester auf den Kopf. Meine schulterlangen schwarzen Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Das Zaudern nützte nichts, ich wusste das. Je schneller ich mit meinem Auftrag in New York fertig war, desto schneller konnte ich auch zurück in meine Heimat. Denn zum Spaß war ich nun wirklich nicht hier. Luzifer persönlich hatte mir den Auftrag erteil, ein altes Schriftstück für ihn zu finden. Angeblich wurde es in einem der New Yorker Museen aufbewahrt; außerdem sollten Abschriften davon in einigen Kirchen und Privatbesitzen von Priestern zu finden sein. Welches davon ich meinem Herren brachte, spielte keine Rolle.



Die Händen in den Hosentaschen vergraben, ging ich möglichst locker die Straße entlang und versuchte den Eindruck zu erwecken, ich würde mich hier pudelwohl fühlen. Natürlich kannte ich mich in New York nicht im Geringsten aus und musste mich zunächst einmal zurechtfinden. Ein Seufzen entkam meinen Lippen, das jedoch sogleich im Straßenlärm unterging.

Ich vermisste meine Heimat, die sogenannte Hölle, jetzt schon. Aber mir stand es nicht zu, mich missmutig über meine Aufträge zu äußern, und eigentlich wollte ich das auch gar nicht. Ich war Luzifer treu ergeben und tat gerne alles für ihn, was er verlangte. Die Erde jedoch, besser gesagt die Menschen, waren mir noch nie sonderlich sympathisch gewesen.

Während ich die überfüllte Straße entlang trotte, wurde ich mehrmals angerempelt, größtenteils von Menschen, die mich deutlich überragten. Jedes Mal bat ich vielmals um Verzeihung, doch die Menschen schimpften und zeterten nur lautstark. Einer zeigte mir sogar den ausgestreckten Mittelfinger. Ich glaubte nicht, dass das eine freundliche Bedeutung hatte.

Der Straßendreck ließ mich die Nase rümpfen und niesen. Verdrossen blieb ich schließlich an einer Kreuzung stehen und blickte mich eingehend um.
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Doch überall sah es gleich aus – graue Häuser dicht an dicht. Nur die Menschen waren merklich weniger geworden. Offenbar war ich in ein Wohngebiet geraten. Nicht gerade behaglich sah es hier aus.

Ich entschied mich für den linken Weg. Als in der Nähe schrilles Sirenengeheule erklang, machte ich einen kleinen erschrockenen Satz. Wie konnten die Menschen nur in solch einem Krach leben? Das war mir schier unbegreiflich. Außerdem hatte ich jetzt wirklich genug vom ziellosen Herumirren. Ich musste nach dem Weg fragen.

In der Ferne sah ich ein paar Halbwüchsige an einem Maschendrahtzaun lehnen. Sie schienen in meinem Alter zu sein, – natürlich nur, wenn man nach dem Äußerlichen ging. Entschlossen setzte ich meinen Weg fort.

Die drei Jungen sahen mir misstrauisch entgegen, doch ich lächelte sie an.

„Verzeiht mir, wenn ich euch störe, aber könntet ihr mir bitte freundlicherweise den Weg zum, ähm, Mu - Museum für Geschichte erklären? Das wäre sehr nett.“

Erwartungsvoll sah ich sie an. Erst reagierten die drei Jungen nicht. Einer von ihnen machte „Häh?“, die anderen beiden grinsten.

„Was bist’n du für ’ne Schwuchtel?“, blaffte ein großer, blonder Junge. Ein wenig erstaunt zuckte ich mit den Augenbrauen, antwortete ihm jedoch nicht.

„Ja genau. Hat das Mamasöhnchen sich verlaufen? Ooooh.“

Sein Freund kicherte hämisch. Die drei lösten sich vom Zaun und kamen auf mich zu. Instinktiv trat ich ein wenig zurück. Menschen waren seltsam.

„Ähm, nun ja, wenn ihr den Weg nicht wisst, macht das auch nichts“, sagte ich leise und wollte einfach an ihnen vorbei gehen. Doch ehe ich reagieren konnte, hatte man meinen Oberarm mit hartem Griff gepackt und mich zurück gezerrt. Ein erschrockenes Keuchen entfloh mir.

„Halt mal, nicht so schnell.“

Der blonde Junge macht seinen beiden Freunden ein Zeichen und begann mich hinter sich her zu zerren. Seine Finger drückten fest zu, sodass ich mich nicht aus seinem Griff befreien konnte.

„Was fällt dir ein!“, protestierte ich, doch damit erntete ich nur wildes Gelächter. Wir erreichten eine der zahlreichen Seitengassen. Eine böse Vorahnung kam in mir auf und ich strampelte heftig, doch wirkungslos herum.
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Der blonde Junge riss mit einem Mal meine beiden Arme nach hinten und hielt sie fest. Schmerz durchfuhr meine Schultern.



„Lasst mich sofort gehen!“, forderte ich sie verzweifelt auf. Ich kannte dieses aggressive Funkeln in den Augen der anderen beiden und wusste, was mir blühte.

Der eine entriss mir die Umhängetasche, der andere versetzt mir mit der Faust einen Schlag in den Magen. Grelle Schmerzen explodierten in meiner Leibesmitte. Meine Knie sackten ein, schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Luft bekam ich fast keine mehr. Der blonde Junge hielt mich oben, und ein zweiter, ebenso harter Schlag folgte. Würgend und schnaufend kämpfte ich erfolglos gegen den festen Griff in meinem Nacken. Von Fern drang Gelächter an mein Ohr.

Ich verfluchte mich selbst.

Wenn Luzifer das nun sehen könnte. Er hatte mich gewarnt. „Sei vorsichtig mit den Menschen, Azrael“, hatte er gesagt, „Man weiß nie, was sie planen.“



Hätte ich nur seinen Rat befolgt. Man schlug mir nun ins Gesicht; es fühlte sich an, als wäre meine Nase zertrümmert. Tränen schossen mir in die Augen und Blut floss klebrig über meinen Mund. Einen Schlag später platzte auch meine Unterlippe auf. In meinem Kopf vermischte sich Gelächter mit Keuchen und schmerzerfülltem Wimmern zu einem bunt betäubenden Wirbel. Nur vage spürte ich, wie ich auf den harten Asphalt prallte. Jeder Knochen in meinem Leib schien zu vibrieren. Ich konnte nicht sagen, wie lange sie noch auf mich eintraten und schlugen. Die Dunkelheit um mich herum wurde immer größer, je heftiger die Schmerzen durch meinen Geist fuhren. Das Letzte, was ich hörte, waren ihre rauen Stimmen, auch wenn die Worte keinen Sinn mehr für mich ergaben. Ein abschließender Tritt in den Magen, und ich verlor endgültig mein Körpergefühl und versank in der Finsternis.



*



Nach einer unmöglich feststellbaren Zeitspanne kam ich wieder zu mir. Stöhnend schlug ich die Augen auf. Alles schmerzte, dennoch fuhr ich sofort hoch, nachdem der Schwindel sich gelegt hatte.

Natürlich waren sie fort. Ich saß alleine in der Gasse. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Als ich den pochenden Kopf in den Nacken legte, sah ich den blaugrauen Himmel schwer wie Blei über der Stadt liegen.
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Noch immer leicht benommen tastete ich nach der Umhängetasche, die in meiner Nähe lag. Sie war tatsächlich noch da. Allerdings war mein gesamtes Menschengeld fort, was ich kurz darauf feststellen musste. Mit zitternden Händen hielt ich die Tasche einige Augenblicke lang in meinem Schoß. Eine Welle der Übelkeit überrollte mich.

Tief atmete ich die merklich abgekühlte Luft ein und aus.

Schließlich erhob ich mich vorsichtig auf die Beine. Überraschenderweise knickten meine Knie nicht sofort wieder ein. Ächzend griff ich meine Mütze vom Boden und drückte sie auf mein zerzaustes schwarzes Haar, das längst nicht mehr der ordentliche Pferdeschwanz war.



Was nun? Das Geld brauchte ich doch, um während meines Aufenthaltes in New York eine Bleibe Zahlen zu können. Und Essen musste ich schließlich auch. Momentan jedoch ließ mich der Gedanke ans essen beinahe würgen, weshalb ich ihn erst einmal bei Seite schob. Prüfend blickte ich an meinem Körper herab. Mein T-Shirt war schmutzig und teilweise zerrissen, außerdem blutbefleckt, meine Hose wies an den Knien Löcher auf. Ein wenig ratlos stand ich da, metallischen Blutgeschmack im Mund.

Alles in mir wollte zurück nach Hause. Diese schreckliche Stadt einfach verlassen und zurück in die Hölle. Aber natürlich konnte ich das nicht einfach tun. Luzifer wäre mehr als enttäuscht. Vermutlich wäre er sehr ungehalten. Ich konnte mich einfach nicht so blamieren.



Mit schmerzverzogenem Gesicht humpelte ich aus der Gasse zurück zur Straße. Während ich ging, kehrte der Schwindel zurück. Irgendetwas schien mit meinen Rippen nicht in Ordnung zu sein, denn jeder Atemzug schmerzte in der Seite.

„Ach herje“, murmelte ich leise und presste die Hand gegen die Stirn. Jetzt sollte ich erst einmal eine halbwegs sichere Bleibe für die Nacht suchen. Weit ab von diesem herunter gekommenen Viertel. Vielleicht in einem Park.



Meine müden Augen hafteten nur auf dem dunklen Asphalt während ich mich vorwärts kämpfte. Wann immer ich eine dunkle Gestalt auf der Straße sah, wechselte ich die Seite. Auf eine weitere Begegnung mit diesen freundlichen Menschen konnte ich äußerst gut verzichten.
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Diese Gegend New Yorks bei Nacht versprühte den Charme einer toten Ratte. Aus der Ferne drang erneut Sirenengeheult, ein Hund kläffte wild. Irgendwo in der Nähe dröhnten Bässe aus einem Zimmer, in dem Musik bis zum Anschlag aufgedreht war.

Wie konnten sich die Menschen hier nur wohlfühlen? Ich erschauerte ein wenig, als vorherbstlich kühle Nachtluft über meine Arme strich.

Schließlich setzte ich dazu an, eine Straße zu überqueren. Mit meinen Gedanken war ich weiterhin weit weg. Erst als ich schließlich mitten auf der Straße stand, vernahmen meine Ohren das Geräusch eines fahrenden Autos. Es klang viel näher, als es durfte. Entsetzt riss ich den Kopf blitzschnell nach links und erhaschte nur noch einen verschwommenen Blick auf den Wagen, der auf mich zukam. Grelles Scheinwerferlicht blendete meine Augen und verwandelte die Welt um mich herum in gleißende Helligkeit.

Das Reifenquietschen durchdrang die Nacht wie das Kreischen einer Frau. Unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, war ich buchstäblich erstarrt. Das Einzigste, was ich noch spürte, war ein dumpfer Aufprall, doch mein Sehvermögen hatte mich schon im Stich gelassen. Wieder umfing mich Stille und Dunkelheit.









2. Cedric





Das zweite Aufwachen gestaltete sich als eben so mühsam wie das Vorige. Als mein Körpergefühl zurückkehrte, wollte ich automatisch aufstöhnen, so scharf durchstachen mich die Schmerzen. Doch meine Kehle war trocken und rau, so dass kein Laut über meine Lippen kam. Das wirkliche, logische Denken setzte erst einige Momente später ein. Ich schlug sofort die Augen auf, sah jedoch noch alles verschwommen und schemenhaft. Um ehrlich zu sein war ich sehr erstaunt, überhaupt noch am Leben zu sein. Wie war das möglich? Das Auto war doch genau auf mich zugerast. Und wo war ich überhaupt?



Die Augen aufgrund der pochenden Kopfschmerzen wieder geschlossen, benutzte ich meine anderen Sinne. Es war definitiv kein harter Beton, auf dem ich lag. Eher im Gegenteil. Meine leicht tauben Finger strichen über weichen Stoff. Auch stankt es nicht nach Abgasen. Stattdessen roch es leicht nach – Weihrauch?

Erneut schlug ich die Augen auf, dieses Mal, um mich näher umzusehen.
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Ganz offensichtlich lag ich in einem Menschenzimmer auf einem Sofa. Eine Wolldecke bedeckte meinen unbekleideten Oberkörper, wie ich kurz darauf feststellte.

Als ich mich vorsichtig aufrichtete, rutschte mir ein schmerzgepeinigtes Aufkeuchen hinaus. Meine gesamte linke Seite schmerzte im Bereich der Rippen. Mit der Hand fuhr ich meine Brust hinab und stutzte, als ich einen Verband berührte, der straff um meinen Oberkörper gewickelt war.

Jemand hatte mich also versorgt. Das war mir nicht geheuer. Ich strampelte die Decke weg und stand auf, ein wenig ärgerlich über meine wackeligen Beine. Meine Augen suchten bereits nach einem Ausweg aus dem Zimmer. Eigentlich wirkte es recht behaglich. Dicker, dunkelroter Teppich bedeckte den Boden, in der Ecke tickte eine hohe Standuhr. Dunkle, dezente Holzmöbel gaben dem Zimmer ein elegantes Erscheinungsbild.

Das alles registrierte ich jedoch nur nebenbei. Irgendwo hier musste doch mein T-Shirt liegen?

„Oh, du bist ja aufgewacht.“

Vor Schreck machte ich einen Satz. Erneut loderte Schmerz in meiner Seite auf. Ich röchelte ein wenig und suchte mit den Augen den Besitzer der Stimme.

„Verzeihung, Verzeihung! Ich wollte dir keinen Schreck einjagen.“

Ein Mann stand in der Türe. In den Händen hielt er eine Kanne, aus der es dampfte.

Ich konnte nichts Anderes tun, als ihn alarmiert anzustarren. Die Hände hatte ich auf meine Seite gepresst.

„Warte, ich helfe dir. Du musst dich wieder hinlegen.“

Er kam auf mich zu und stellte nebenbei die Kanne auf einen Tisch. Seine Hände drückten mich auf das Sofa zurück. Ich wehrte mich nicht dagegen.

„Erfreulich, dass du endlich aufgewacht bist, mein Junge. Langsam habe ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht.“

Er redete mit leiser und erstaunlich sanfter Stimme, ganz anders als die keifenden Menschen, die ich auf der Straße gesehen hatte. Und da er nichts Bedrohliches ausstrahlte, entkrampfte ich meinen Körper langsam. Immer noch stumm starrte ich ihn an. Er war nicht sehr groß. Sein Haar hatte eine schöne hellbraune Farbe und reichte ihm bis zum Kinn. Aus einem ebenmäßigen Gesicht sahen mich warme, dunkelblaue Augen an. Ich schätzte ihn auf etwa 26 Menschenjahre.
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Erst jetzt fiel mir seine Kleidung auf. Ganz untypisch für diese Zeit trug er eine Art Gewand, ganz in Schwarz, mit einem weißen Kragen. Ein kleines goldenes Kreuz baumelte an seinem Hals. Wie ein Blitz durchfuhr mich die Erkenntnis. Er war ein Priester!



Meine Gesichtszüge mussten merklich entgleist sein, denn ich sah den Mann kurz die Stirn runzeln.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Hier passiert dir nichts mehr.“

Er setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Sofa stand. Ich blinzelte irritiert.

„Ehm“, machte ich einfallslos.

„Weißt du überhaupt, was passiert ist?“

Er sah mich mit einem Lächeln an und wartete meine Antwort gar nicht erst ab. Aus meinem Gesichtsausdruck schien er lesen zu können.

„Ich fuhr gestern Abend die Straße entlang, als du plötzlich direkt vor mir auf die Straße gestolpert bist. Ich bin sofort auf die Bremse getreten. Mein Gott, hab ich mich erschrocken! Ich dachte schon, ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig.“

Er machte eine kurze Pause und sein Gesichtsausdruck wurde auf einmal sehr bedrückt und schuldbewusst.

„Nun gut, ich bin gestern einfach zu schnell gefahren. Wollte rasch nach Hause, war mit den Gedanken wohl in den Wolken. Das hätte mir wirklich nicht passieren dürfen.“

Er schüttelte einmal nachdrücklich den Kopf und berührte mit den Fingern rasch das Kreuz, das um seinen Hals hing. Sein Gesicht hellte sich wieder auf.

„Aber es ist noch mal gut gegangen. Das Auto hat dich nur ein wenig angestupst, könnte man sagen. Trotzdem lagst du ohnmächtig auf der Straße, als ich schließlich ausgestiegen bin. Und du warst in keiner guten Verfassung. Aber da ich Erfahrungen in Erster Hilfe habe, beschloss ich, dich zu mir zu nehmen. Außerdem wusste ich nicht, ob es dir überhaupt recht war, wenn ich dich ins Krankenhaus bringe. Ich habe keinerlei Papiere oder einen Ausweis entdeckt.“

Der Blick seiner blauen Augen wurde kurz prüfend, aber auf eine freundliche Art und Weise.

„Ich nehme an, du bist in eine Prügelei geraten, nicht wahr, mein Junge?“



Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht amüsierend gefunden, ständig als Junge bezeichnet zu werden.
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Aber für einen Menschen sah ich nun mal wirklich wie ein Jüngling aus. „Ja, das bin ich“, presste ich schließlich ein wenig mühsam heraus. Mein Hals kratzte.

„Hast du Durst? Warte, ich hab hier ein wenig Wasser.“

Er nahm ein Glas vom Tisch und reichte es mir. Dankbar nahm ich es entgegen. Das Wasser war herrlich kalt. Für einige Sekunden schloss ich die Augen und atmete tief durch. Als ich den Priester wieder ansah, schien er zufrieden.

Er stellte das leere Glas beiseite.

„Das dachte ich mir bereits. Die haben dich ganz schön in die Mangel genommen. Du hast die ganze Nacht und den halben Tag durchgeschlafen. Eine deiner Rippen ist ein wenig angeknackst. Mein Freund ist Arzt, er hat sie versorgt und den Verband angelegt. In ein paar Wochen ist es wieder verheilt, du musst dich nur ruhig verhalten. Die Prellungen und blauen Flecke werden sich auch bald bessern. Aber jetzt habe ich genug geredet. Verrate mir doch deinen Namen. Ich heiße Cedric Parker.“

Ich sah ihn an und mein Herz begann wieder schneller zu klopfen.

„Mein – mein Name ist A ...“

Azrael. Nein, das konnte ich nicht sagen.

„Alexis.“

Es war das erste, was mir in den Sinn gekommen war. Glücklicherweise schien der Priester das kleine Zögern nicht bemerkt zu haben. Wieder erhellte ein Lächeln seine Züge.

„Alexis, also.“

Ich nickte, und nach kurzem Zögern sagte ich fast schüchtern: „Danke. Für alles.“

Es klang ein wenig unbeholfen, und das alles war mir unangenehm. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Luzifer wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mich hatte überfallen lassen und dann auch noch bei einem Priester auf dem Sofa lag. Und was der Priester wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich ein gefallener Engel und Dämon war. Meine Wangen drohten rot anzulaufen.

„Da gibt es nichts zu Danken. Ich konnte dich doch nicht auf der Straße liegen lassen.“

Wieder lächelte er mich warmherzig an. Die sanften Strahlen seiner Aura berührten meine Sinne. Ich war verwundert über so viel Güte in Menschenform.

„Nun Alexis, möchtest du mir sagen, woher du kommst? Haben die Kerle dich bestohlen?“

“Also, ich .
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.. nun ja, ich ... Ja, sie haben mein Geld genommen ... “

Ich schloss den Mund und starrte verdrossen auf die Decke. Es folgte eine kurze Stille, in der der Mann mich eingehend musterte. Jedoch schien er mir meine Wortkargheit nicht übel zu nehmen.

„Du bist sicherlich hungrig. Ich werde dir eine Suppe kochen, die tut deinem Magen gut.“

Er erhob sich und ging aus dem Zimmer. Es war wieder still, abgesehen vom Ticken der Uhr. Meine Gedanken wirbelten unruhig durch meinen Verstand, der zwar wieder etwas klarer, jedoch noch immer nicht vollkommen auf der Höhe war. Ich hob die Wolldecke an und betrachtete ausgiebig die blauen Stellen. Wenn ich sie auch nur mit den Fingerspitzen berührte, schmerzten sie fürchterlich. Mein Gesicht wurde ausdruckslos. Das kannte ich gut. Ich kannte das Gefühl von brennenden Gliedmaßen und schmerzenden Knochen. Ich kannte das Gefühl von Blut auf meiner Haut. Unwillkürlich lief ein kalter Schauer über meinen Rücken. Ich zog die Decke bis fast zum Kinn nach oben und lehnte mich tiefer in die Kissen

Warum war dieser fremde Mensch so nett zu mir? Ich durfte ihm auf jeden Fall nicht trauen.



„Alexis?“

Verwirrt hob ich den Blick. Der Name war ungewohnt. Zudem hatte ich gar nicht bemerkt, wie der Mann zurück ins Zimmer gekommen war. Er hielt einen Teller Suppe in der Hand. Ich musste ziemlich tief in Gedanken gewesen sein. Ich hatte wirklich Hunger und beim Geruch der Suppe zog sich mein Magen zusammen. Mühsam setzte ich mich an den Tisch.

„Danke, Mr. Parker”, sagte ich noch, bevor ich eifrig zu löffeln begann.

„Cedric. Nenn mich Cedric.“

Das Essen tat mir gut. Es war angenehm warm in meinem Bauch und ließ meine Kräfte zurückkehren. Nur wenige Minuten später schob ich den Teller zurück.

„Sehr gut. Und jetzt leg dich wieder hin.“

Ich hätte gerne protestiert, doch eigentlich war es ganz angenehm, wieder zu liegen. So eine zuvorkommende Behandlung hätte ich niemals erwartet. Nicht, wegen den bisschen Schmerzen. Cedric saß weiterhin auf seinem Stuhl und beobachtete mich. Wir schwiegen uns eine Weile an.

„Nun, nimmst du Drogen?“ Es klang, als würde er nach dem Wetter fragen. Meine Augen weiteten sich ein wenig und ich verhaspelte mich.
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„N – Nein! Keine Drogen. Nein, sicher nicht.“ Cedric nickte. Er schien mir zu glauben. „Sehr gut. Alexis, ich würde gern später noch mal in Ruhe mit dir sprechen. Aber wenn du müde bist, dann schlaf jetzt.“

Ich nickte nur und drehte mich auf die andere Seite. Die ganze Situation war unwirklich. Obwohl ich gar nicht müde war, schloss ich die Augen und schlief tatsächlich ein.



*



„Azrael.“ Eine Stimme, kalt wie Eis und zugleich weich und dunkel. Angst kroch mir den Nacken hoch. Augen, so blaugrau und unergründlich wie ein Gewitterhimmel, sahen mich erbarmungslos an. Ich sank unter diesem Blick zusammen, blieb dennoch auf der Stelle stehen und schluckte. Mit einem Mal wurde ich gepackt und zu Boden geschleudert. Ich hörte ein Reißen von Stoff und fühlte, wie mein Gewand meinen Rücken preisgab. Angst wandelte sich zu Panik und ließ mich erstarren. Tränen verschleierten meinen Blick und tropften auf den schwarzen, polierten Marmorboden unter mir. In meinen Ohren dröhnte seine Stimme. Ich verstand nicht, was er sagte. Hart trommelte mir das Herz in der Brust und ich hörte meinen Puls hämmern. „Bitte nicht“, flüsterte ich, „Oh bitte nicht. Lass mich los, lass mich los! Ich flehe dich an-“

Doch natürlich hörte er mich nicht. Ich spürte, wie sich seine Hand um einen meiner Flügel schloss, dicht am Ansatz. Ein Knie nagelte mich flach auf den kalten Boden. Noch bevor es begann, schrie ich.

Und als es begann, wurde mein panikartiger Schrei zu einem entsetzten, gequälten Aufheulen. Ich spürte, wie er mir den Flügel ausriss, spürte und hörte das Reißen und Knirschen. Blut schoss aus der Wunde, seltsam heiß auf meiner kalten Haut. Die Luft blieb mir schließlich weg. Mir wurde schwarz vor Augen. Dennoch fühlte ich, wie er meinen zweiten Flügel mit dem selben groben Griff packte und ihn ausriss. Und den dritten. Und den vierten. Um mich herum sah ich mit verklärtem Blick viele schwarze Federn, blutbefleckt. Mein Rücken war ein einziges, brennendes Inferno der Schmerzen. Und der Pein in meiner Seele, der Verlust, die Enttäuschung, war ebenso schlimm.

„Luzifer“, schluchzte ich haltlos. Das Echo meiner eigenen Stimme hallte in meinem Kopf wieder. Die Umgebung verschwamm und wandelte sich.
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Dann war da ein kaltes Lachen.

Krampfhaft riss ich die Augen auf und blickte genau in ein hämisch verzogenes Gesicht. Eine andere Szene aus meinem Leben.



„Na, Azrael, wollen wir ein wenig spielen?“ Wieder wurde ich gepackt und mein Kopf nach unten gedrückt. Ich blickte in eine mit Wasser gefüllte Wanne. Panisch verdrehte ich die Augen und strampelte, doch der Dämon hielt mich fest. Wissend, was er gleich tun würde, nahm ich einen verzweifelten letzten Atemzug, bevor mein Kopf mit aller Gewalt unter Wasser gedrückt wurde. Seine Finger gruben sich tief in meinen Nacken und hielten mich dort. Die Augen presste ich verzweifelt aufeinander. Lange Sekunden vergingen, in denen mein rasendes Herz das einzigste Geräusch war. Ich wartete, dass er seinen Griff lösen würde, doch das tat er nicht. Meine Lungen begannen zu brennen und zu schmerzen, verlangten nach Sauerstoff. Ich begann mich wie von Sinnen zu wehren und zappelte. Vergebens. Wasser strömte ihn meinen Mund, wieder und wieder. Ich schluckte panisch.

Nach all dem werde ich also so sterben, dachte ich betäubt, als alle Kraft aus meinen Gliedern wich. Ertränkt. Meine Augen wollten zufallen, als ich plötzlich nach oben gerissen und zu Boden gestoßen wurde.

Ich würgte und hustete und sog krampfartig Luft ein, während das Wasser aus meinem Mund strömte. Ich sah auf und entdeckte die Gier in seinem Blick, wie die Augen des rothaarigen Dämonen über meinen entblößten Körper wanderten. Ich war schutzlos und ihm ausgeliefert und er missbrauchte mich auf dem kalten Boden in meinem Badezimmer. Niemand kam, auch wenn ich schrie.









3. Tell Me





Ein beständiges Rütteln an meiner Schulter ließ mich aufschrecken. Mit heftig schlagendem Herzen fuhr ich panisch nach oben und sah mich um. Das Grauen des Traumes hatte mich fest im Griff. In den Ohren hallte mein Schrei noch immer wider – oder hatte ich das auch nur geträumt? Orientierungslos starrte ich in das Gesicht des Mannes und brauchte Sekunden, bis ich Cedric erkannte.

„Ganz ruhig, Alexis. Es war nur ein Traum, du hast geträumt und geschrieen. Alles in Ordnung.“ Langsam nahm er die Hände von meinen Schultern und wich zurück.
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Mit einem erleichterten Stöhnen sank ich schlaff in die Kissen und berührte meine feuchte Stirn. Verlegen blinzelte ich die Tränen weg.

Alpträume verfolgten mich bereits mein halbes Leben lang. Es kam öfter vor, dass ich nachts aus dem Schlaf fuhr und stechenden Phantomschmerz in meinem Rücken

spürte. So wie auch jetzt. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht blindlings nach hinten zu greifen. Dass meine Flügel schon lange nicht mehr existierten, schien mein Körper in solchen Momenten einfach zu vergessen. Fast war es, als wären meine Schwingen wirklich noch da.

Die Narben pochten, ich biss die Zähne aufeinander. Nach einigen Augenblicken hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Nur meine Hände zitterten leicht. Um das zu verbergen, schob ich sie unter die Decke. Wie spät war es eigentlich? Blinzelnd spähte ich auf die Uhr. Sieben Uhr morgens. Also hatte ich wirklich so lange geschlafen.



Cedric sah mich an, doch ich konnte seinen Blick nicht erwidern. Also starrte ich auf meine Knie.

„Möchtest du mir nicht sagen, was du geträumt hast?“, fragte er schließlich leise. Meine Mundwinkel zuckten. Natürlich würde ich das nicht.

„Nein, lieber nicht“, sagte ich trocken.

Trotzdem ... tief in meinem Inneren versetzte mir seine Frage einen Stich. Ich wollte gerne mit irgend jemanden darüber sprechen, einfach um all das loszuwerden, was mir auf der Seele lag. Doch bisher hatte ich niemandem gegenüber auch nur ein einziges Wort erwähnt. Wem auch? Dass ich Freunde hatte, konnte ich von mir nicht gerade behaupten. Nur meinem Tagebuch vertraute ich derlei Dinge an. Schreiben half mir, Erlebnisse zu verkraften und darüber hinwegzukommen, so gut es eben ging. Oft schrieb ich Seitenweise, bis meine rechte Hand völlig verkrampft war.

Mein ... mein Tagebuch! Wo war das überhaupt? Ich hatte es zusammen mit dem Geld in der Umhängetasche aufbewahrt. War es auch gestohlen worden?



Mein Gesichtsausdruck wurde verzweifelt. Ich sah Cedric an.

„Bitte, Entschuldigung! Meine Umhängetasche, war – war da noch etwas drinnen?“

Meine seltsame Frage schien ihn nicht im Mindesten zu verwundern. Stattdessen stand er sofort auf und ging zu einer Kommode.
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Ich starrte gebannt auf seinen Rücken. Als er sich wieder zu mir umdrehte, hielt er ein mir gut bekanntes Buch in den Händen. Vor Erleichterung seufzte ich laut auf. Cedric streckte mir das Buch entgegen und ich entriss es ihm regelrecht. Fest drückte ich es an mich, spürte das Leder des Einbandes an meiner Brust und roch die Tinte und das Papier.

„Sie haben es nicht mitgenommen, weil es nichts Wert ist“, bemerkte Cedric.

Meine Freude wich langsam, als mir ein anderer Gedanke kam. Sofort funkelte ich den Priester misstrauisch an. Was, wenn er es gelesen hatte?

Was, wenn dieser Mann Gottes in meinen tiefsten Geheimnissen und Empfindungen herumgestöbert hatte? Ein Schauer des Unwillens durchfuhr mich. Ich spürte, dass mein Gesicht sich fast feindselig verzogen hatte. Cedric schien gelinde erstaunt.

„Alexis, ich habe es nicht angerührt, ehrlich. Ich ahnte schon, dass es etwas sehr Persönliches ist. Beruhige dich.“

Obwohl er mich nicht direkt tadelnd anblickte, fühlte ich mich mit einem Mal schuldbewusst. Bisweilen litt ich wirklich unter Anfällen heftiger Paranoia. Worte wollten nicht über meine Lippen, doch warf ich Cedric einen entschuldigenden Blick zu.

Er nickte. „Ist schon gut.“



Ich stand vorsichtig auf. Heute fühlte ich mich schon viel besser als am vorigen Tag. Die gröbsten Schmerzen waren verschwunden, und mit dem Rest kam ich zurecht. Dann konnte ich ja jetzt in aller Ruhe meine Sachen packen und zusehen, dass ich meinen Auftrag erfüllte. Zuallererst musste ich in das Museum, um mir das Original anzusehen.

„Fühlst du dich fit genug, um wieder herumzulaufen?“, wollte Cedric wissen, der sich gerade eine Tasse Tee eingeschenkt hatte und nun mit einem silbernen Löffeln darin herumrührte. „Mein Freund wollte dich heute noch mal ansehen.“

„Mir geht es gut, danke.“

Mir fiel erst jetzt wirklich auf, wie wortkarg ich ihn Cedrics Gegenwart war. Kaum mehr als einen zusammenhängenden Satz brachte ich hervor. Aber das war gut so.

„Entschuldigung. Könnte ich vielleicht mein T-Shirt wiederhaben?“

Anstatt ihm ins Gesicht zu sehen musterte ich angestrengt das Kreuz an seiner Kette.

„Natürlich, warte einen Augenblick.“

Er brachte mir mein Oberteil.
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Es war wieder sauber und duftete nach den Mitteln, die die Menschen zum Waschen verwendeten, die wenigen Löcher störten mich nicht. Ich wollte es mir alleine überziehen, doch Cedric griff nach meinem Handgelenk: „Warte, deine Rippe. Ich helf dir.“

Nervenaufreibend langsam zog er mir das T-Shirt über den Kopf. Es war mir unangenehm, seinen Blick auf meiner Haut zu fühlen. Nicht, dass Cedric auch nur im Geringsten Anstalten machte, mich zu bedrohen. Dennoch konnte ich fühlen wie seine blauen Augen über meine zahlreichen Narben strichen. Ich starrte zu Boden und wich sofort einen Schritt zurück, als ich angezogen war.

Der Ausdruck im Gesicht des Priester war schwer zu lesen. Ich setzte meine Schildmütze auf und nahm meine Tasche.

„Ich habe etwas zu erledigen. Ich muss gehen“, stammelte ich unbeholfen. Cedric nickte. Wir sahen uns an. Verflucht sei meine Verstocktheit! Priester hin oder her, dieser Mann hatte mir geholfen, meine Wunden versorgt und war stets freundlich gewesen. Ich war ihm zumindest aufrichtigen Dank schuldig.

Tief durchatmend hob ich den Blick. Gerade hatte ich den Mund geöffnet, da begann Cedric zu sprechen.

„Du hast kein Zuhause, oder? Pass auf, Alexis. Mein Haus ist groß, ich wohne alleine hier. Ich habe ein Gästezimmer. Ich mach dir ein Angebot: Du kannst zum Schlafen und Essen zu mir kommen, wenn du möchtest. Ich würde deine Verletzungen gerne im Auge behalten und noch mal mit dir reden. Was meinst du? Das ganze ist natürlich völlig ohne Verpflichtungen, nicht einmal zum Gottesdienst zwinge ich dich.“

Ein flüchtiges Lächeln erhellte sein Gesicht. Ich starrte ihn perplex an, zu überrascht, um sofort zu antworten.

„Ich - ich überlege es mir.“

„Gut. Wenn sonst etwas ist, klingel einfach. Wenn ich nicht da bin, bin ich wahrscheinlich in der Kirche. Genau neben an.“

Er machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Fenster.

„Vielen Dank Mr. Parker. Cedric.“ Durcheinander wie ich war, verbeugte ich mich tatsächlich vor ihm. Als ich wieder hochkam, glitzerten seine Augen amüsiert. Meine Wangen erwärmten sich vor Verlegenheit. Ich tadelte mich in Gedanken.

Cedric gab mir die Hand und brachte mich schließlich zur Türe. Einen letzten Blick auf seine Gestalt werfend ging ich die Straße entlang, Verwirrung beherrschte meine Gedankengänge.
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Sicher, er war Priester. Doch niemals hätte ich so viel Freundlichkeit von einem Menschen erwartet, für die nicht einmal Gegenleistungen erwartet wurden. Ich kam an der Kirche vorbei. Sie war groß, viel größer als ich angenommen hatte. Ihr Glockenturm ragte ihn den leicht bewölkten Himmel. Doch für eine ausgiebige Inspektion hatte ich keine Zeit.

Der Auftrag musste erfüllt werden. Es war eine knifflige Aufgabe, so ohne Geld und Karte. Zu spät fiel mir ein, dass ich Cedric nach dem Weg hätte fragen können. Ärgerlich, aber nicht allzu tragisch.



Ich ging also die langen Straßen entlang. Mühsam gewöhnte ich mich an die ständig vorbeifahrenden Autos und die Menschen, die hektisch und mit mürrischen Mienen über die zahlreichen Kreuzungen pendelten. Die Sonne blinzelte ab und an zwischen den Wolken hervor. Als ich schließlich schnaufend vor dem Museum stand, war es beinahe Mittag. Ich stieg die steinernen Stufen hinauf und betrat die Eingangshalle. Die Geräuschkulisse des Verkehrs verstummte, sobald ich die Türe hinter mir schloss. Ich sah keine Menschenseele. Auf einem Schild stand, dass der Besuch im Museum Eintritt kostete. Da der Schalter gerade nicht besetzt war, eilte ich einfach schnell vorbei.

Das Museum war relativ groß. Ich ließ mich nicht aufhalten von alten kaputten Vasen oder verrosteten Rüstungsteilen, sondern hastete einfach weiter durch die Gänge. Irgendwann schließlich stand ich vor einer Vitrine. Hinter der Glasscheibe lag das Buch, aufgeschlagen und beleuchtet. Ich sah es mir genau an und las die kleine Informationstafel. Das war es, was ich Luzifer bringen sollte. Irgendwie fragte ich mich jetzt doch, was er überhaupt damit anfangen wollte. Aber über derlei Dinge sprach er nicht mit mir. Ich war sein treuer und loyaler Diener und wurde von ihm dennoch nicht so behandelt, wie ich es gerne hätte. Sein Vertrauen genoss ich nicht, nicht mal im Ansatz. Ob Luzifer denn überhaupt jemandem vertraute?

Von plötzlicher Bitterkeit überrollt, ballten sich meine Hände zu Fäusten. Mit verengten Augen sah ich auf das Buch hinab. Aber es nützte ja alles nicht. Ich atmete einmal tief ein und genoss fast den stechenden Schmerz in meiner Seite, der mich vollkommen aus meiner Gedankenwelt riss.
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Das Buch hatte ich mir gut eingeprägt. Ich wandte mich ab und verließ das Museum.

Wieder draußen auf der Straße machte ich mir meine Gedanken über Cedric. Ich beschloss, das Angebot anzunehmen und bei ihm zu wohnen. Cedric war Priester einer großen Kirche, es war durchaus möglich, dass ich eine Abschrift in seinem Besitzt vorfand. Der Aufenthalt bei ihm konnte sich nur als nützlich erweisen. Viel mit ihm reden musste ich ja nicht.

Mithilfe einer kleinen Stadtkarte auf der Rückseite eines Werbeprospektes fand ich den Weg zu Cedrics Haus. Trotzdem hatte mich das stundenlange Laufen ziemlich ermüdet. Meine Füße taten weh und die blauen Flecken machten sich erneut bemerkbar. Als ich endlich um die letzte Ecke bog und die Kirche in Sicht kam, atmete ich erleichtert auf.



In gotischer Art erbaut stachen besondern die zahlreichen Spitzbögen hervor. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die kunstvolle Fassade. Die tief stehende Sonne beleuchtete den dunklen Stein und verlieh ihm einen zarten Goldton. Ich glaube, ich stand minutenlang vor der Kirche und sah sie nur an. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ich ein Haus Gottes betrachtete – und gleich würde ich es auch noch betreten. Aus einem sonderbaren Gefühl heraus nahm ich die Mütze ab und steckte sie weg. Dann entfernte ich das Band, das meine Haare im Nacken hielt, und holte tief Luft.

Hinter mir fiel die große Holztüre ins Schloss. Stille umgab mich und schien sofort in mein Inneres zu dringen. Es war ein äußerst seltsames Gefühl. Vor so langer Zeit hatte ich mich von Gott und dem Himmel abgewandt. Alte Erinnerungen wurden wach und spukten durch meinen Kopf. Bedächtig ging ich den Mittelgang entlang und meine Schritte erzeugten ein leises Echo. Ich sah Cedric sofort. Er kniete genau vor dem Altar, hielt den Kopf gesenkt und betete. Ansonsten war die Kirche leer.

Unbemerkt ließ ich mich auf einer Bank nieder, faltete die Hände im Schoß und wartete. Meine Seele war aufgewühlt, meine Augen huschten unruhig umher. Es schien mir ein Unrecht zu sein, dass ich, als Gefallener, eine Kirche betrat.

Nach einiger Zeit erhob sich Cedric und strich über sein schwarzes Gewand. Falls er überrascht war, mich zu sehen, ließ er sich nichts anmerken.
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Er kam zu mir, setzte sich neben mich und schenkte mir ein so warmes Lächeln, dass ich mich zurücklächeln fühlte. Trotzdem kam es mir so vor, als läge ein trauriger Schimmer in seinen blauen Augen.

„Schön, dass du hier bist“, sagte er nur. Ich suchte nach einer passenden Antwort, wusste jedoch nichts. Also nickte ich nur und starrte das große Kruzifix an, dass an der Wand hinter dem Altar angebracht war.

„Du hast einen sehr starken Glauben, nicht wahr?“, fragte ich meinen Nebensetzer nach einiger Zeit der Stille. Cedric schmunzelte, doch wieder fiel mir der schmerzliche Zug um seinen Mund auf.

„Ja, allerdings. Mein Glauben hat mir über eine sehr schlimme Zeit hinweg geholfen.“

Ich wartete, ob er auf seine Aussage näher eingehen würde, doch er verfiel in Schweigen. Nachhaken wollte ich nicht. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass man manche schmerzliche Erinnerung einfach ruhen lassen sollte.

„Bist du jetzt bereit, mir einige Frage zu beantworten, Alexis?“

Cedrics Frage klang höflich und dennoch aufrichtig besorgt. Ich überlegte schnell. Wenn ich weiter bei ihm wohnen wollte, wäre es wohl besser, ihm ein wenig Vertrauen entgegen zu bringen. Und ich musste ja nicht die Wahrheit sagen.

„Ja.“

„Gut. Woher stammen deine Narben, Junge? Wer hat dich so misshandelt?“

Meine Augenlider niederschlagend starrte ich zu Boden. „Hör zu, ich weiß, dass es schwer sein muss, darüber zu reden, aber du kannst mir vertrauen“, fügte er hinzu.

„Nein ... nein, es ist schon gut. Ich werde darüber sprechen.“ Ich holte tief Luft.

Damals, vor Jahrtausenden, hatte ich zusammen mit den anderen rebellierenden Engeln unter Luzifers Führung den Himmel verlassen. Mein Leben als Engel hatte mir nichts gegeben, was ich wirklich genießen konnte. Uns war es untersagt worden, zu lieben, und dennoch waren wir eigenständig denkende und fühlende Wesen gewesen. Und Gefühle, egal welcher Art, lassen sich nicht auf Dauer unterdrücken. Unsere Aufgabe war es gewesen, dem Herren zu dienen. Er schenkte uns menschliche Körper, wunderschöne, ewig junge Körper, die wir entsprechend ehren mussten. Jedoch war es untersagt, sich zu berühren oder unsittliche Gedanken zu hegen.
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Die einzigste Liebe sollte die Liebe zu unserem Herrn sein. Und natürlich liebte ich Gott, wie jeder von uns es tat. Aber das war nicht alles. Meine Liebe galt außerdem dem einen, der sich nicht beugen wollte, demjenigen, der seit jeher so stolz und weise war. Damit hatte er meine Seele zum entflammen gebracht, und an dieser Flamme hatte ich mich verbrannt. Er, Luzifer, der Lichtbringer, war der Grund dafür gewesen, dass ich dem Himmel den Rücken gekehrt und freiwillig den harten Weg des Exils betreten hatte.

Meine abwesenden Augen suchten zum ersten Mal bewusst Cedrics Blick, und ich spannte ein unsichtbares Band zwischen uns.

„Meine Eltern waren sehr streng. Ich hatte keine glückliche Kindheit und litt unter ihrem Erwartungsdruck. Ich – äh – habe einen älteren Bruder. Er war alles für mich. Verstehst du? Ich habe ihn unendlich bewundert und er war der einzige Halt in meinem Leben. Eines Tages beschloss mein Bruder, von Zuhause fortzugehen. Meine Eltern waren fürchterlich wütend, es gab einen riesigen Krach. Ich wollte nicht alleine bei meinen Eltern bleiben. Mein Bruder legte keinen Wert auf meine Gegenwart, denn ich bedeutete ihm so gut wie nichts. Trotzdem ... schließlich verließen wir unser Zuhause. Und damit begann der weniger schöne Abschnitt meines Lebens.“

Ich machte eine kurze Pause, Gedanken rasten durch meinen Kopf. Nebenbei spürte ich, wie Cedric mir leicht die Hand auf den Arm legte. Meine eigenen Hände lagen verkrampft im Schoß.

„Mein Bruder ist ein sehr aufbrausender Typ, und sehr stolz. Er – er hat seine Launen oft an mir ausgelassen, wenn er wütend oder frustriert war.“



Das stimmte teilweise. Tatsache war, dass nicht nur Luzifer seine Laune an mir ausgelassen hatte. Größtenteils waren es andere, denen ich meine Narben zu verdanken hatte. In der Hölle war ich praktisch ein Nichts, zwar ein Mitglied des Rates, doch auf meine Meinung gab keiner etwas. Ich erledigte niedere Aufgaben. In der Hölle waren die Gefühle endlich vollkommen frei. Jeder durfte lieben, wen er wollte. Und das geschah in manchen Fällen zum Leidwesen der Schwächeren. Ob man es glaubt oder nicht, doch aus lichterfüllten Engeln können rücksichtslose Wesen voller Fehler werden, wenn sie erst einmal ihren freien Willen bekommen und ihn ungehindert ausleben können.
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Sicherlich werden nicht alle von Gier und Machtgelüsten getrieben. Doch wenn sie dem einmal verfallen waren ... Ich begann zu zittern. Unzählige Male hatte man mich geschlagen. Missbraucht. Sich gegen meinen Willen meines Körpers bemächtigt. Ich hatte nicht einmal Freunde gehabt. Nicht einmal das. Und die ganze Zeit über ging mein Herz an Luzifer. Erhört war ich nicht worden, er hatte mich nie wahrgenommen. Das war mein Leben.

„Mein Bruder hatte Freunde, die mich ebenfalls regelmäßig geschlagen haben. Er war oft mit ihnen zusammen. Ich habe mich nie gewehrt, weil ich stets hoffte, mein Bruder würde ihnen Einhalt gebieten, was er nie tat. Die Misshandlungen zogen sich über ... mehrere Jahre hin.“

Ich verstummte und meine letzten Worte schienen noch sekundenlang in der Luft zu hängen.

Ich hatte es wirklich ausgesprochen. Zwar indirekt, aber das spielte keine große Rolle. Cedric auch nur anzusehen, wagte ich nicht. Er verstärkte langsam den Druck seiner Hand auf meinen Arm. Ich fühlte seinen Blick. Ein Blick voller Mitleid. Das ließ mein Herz noch schwerer werden. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich jemand zum letzten Mal mitfühlend angesehen hatte.

„Das tut mir leid, Alexis. Es war großes Unrecht von deinem Bruder. Er muss äußerst grausam sein.“

„Er hat auch seine guten Seiten“, entgegnete ich hauchend. Dann baute ich mir meine Selbstbeherrschung wieder auf und mein Gesichtsausdruck wurde ausdruckslos. „Vielleicht hat es dir gut getan, einmal darüber zu reden. Du solltest dich von deinem Bruder lösen. So kannst du doch nicht weiter leben, oder?“

Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Schmerzen pochten in meiner Schläfe.

Der Priester schien meine Müdigkeit zu fühlen. Er erhob sich und streckte mir die Hand hin, zog mich ebenfalls auf die Beine.







4. Deep Inside





Wir gingen zusammen zurück zu Cedrics Haus. Die Dämmerung setzt langsam ein. Am Fenster sah ich der Sonne beim Untergehen zu, die Arme vor dem Körper verschränkt. Als ich mich umwandte, stand Cedric im Zimmer und betrachtete mich. Sein helles Haar schimmerte im sanften Licht und fiel ihm in die Stirn.
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Er hatte sein Gewand abgelegt und trug ganz normale Kleidung. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Er stand da und verkörperte alles, was ich gerne gewesen wäre. Selbstsicherheit und Wärme, Güte und dennoch einen starken Willen. Selten war ich mir so schäbig vorgekommen wie in diesem Moment.

Er kochte, wir aßen zusammen. Cedric zeigte mir das Gästezimmer – das er wie selbstverständlich als „mein Zimmer“ bezeichnete. Ich durfte das Badezimmer benutzen und stellte mich für eine geraume Zeit unter die Dusche. Das heiße Wasser strömte meinen schmerzenden Körper hinab. Mein Bauch und Oberkörper sahen noch immer arg mitgenommen aus. Die blauen Flecken hatten eine purpurne Farbe angenommen. Wenigstens die Schrammen im Gesicht waren abgeschwollen.

Cedric strich vorsichtig eine Salbe auf meine linke Seite und legte den Verband wieder an. Ich war wieder in meine knappen Sätze zurückgefallen, wenn ich mit ihm sprach.

Schließlich verabschiedete Cedric sich von mir und ging die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Ich saß auf meinem frisch bezogenen Bett und Stille lastete schwer auf meinen Schultern. Draußen spielte der Wind in den Bäumen. Eine Weile blieb ich sitzen und tat nichts anderes, als vor mich herzustarren. Nach Stunden, so schien es mir, regte ich mich und warf einen Blick auf den Wecker. Er zeigte kurz nach Mitternacht. Cedric schlief bestimmt, also konnte ich jetzt in aller Ruhe aufstehen und sein Arbeitszimmer nach der Abschrift durchsuchen. Im vorübergehen hatte ich zuvor durch die offene Türe spähen können. Das Zimmer quoll nur so über von Büchern. Falls ich es finden sollte, konnte ich die Erde verlassen und sofort durch das Portal in die Hölle zurückkehren. Wenn ich nichts fand, musste ich morgen eben die Kirche durchsuchen. Und wenn dort auch nichts war, gab es schließlich noch zahlreiche andere Kirchen in New York. Jedenfalls sollte ich alles tun, um nicht in dieses Museum einbrechen zu müssen. Das dürfte sich als zu schwieriges Unterfangen für mich erweisen.

Leise öffnete ich die Türe und trat auf den dunklen Flur hinaus. Mein relativ kleiner und schlanker Körper hatte den Vorteil, dass ich mich nahezu lautlos bewegen konnte. Ich bog um die Ecke und drückte die Türklinke zum Arbeitszimmer hinab.
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Einen kurzen Moment fürchtete ich, sie wäre abgeschlossen – doch das war sie zum Glück nicht. Ich ließ die Türe angelehnt und knipste das Licht an. Unverzüglich machte ich mich an das Untersuchen der Bücherregale. Doch dort war nichts zu finden. Bald wandte ich mich seinem Schreibtisch zu, zog alle Schubladen auf und wühlte sie durch, schob stapelweise Papierkram bei Seite und wurde dabei immer hektischer. So dankte ich es Cedric also, dass er mich freundlich behandelte. Ich stöberte in seinen persönlichen Sachen herum.



Frust machte sich in meiner Brust breit. Nervös strich ich mir einige schwarze Haarsträhnen hinter die Ohren. Gerade wollte ich mich mit einem verbitterten Laut abwenden, als mein Blick auf ein gerahmtes Foto fiel, das auf dem Schreibtisch stand. Ich hielt inne und betrachtete es versunken. Es zeigte einen Jungen, der etwa in meinem Alter zu sein schien. Er lachte in die Kamera, sein dunkelbraunes Haar reichte ihm bis auf die Schultern. Leuchtend blaue Augen. Die Ähnlichkeit mit Cedric war überraschend. Es musste sein jüngerer Bruder sein.

Ich wollte mich umdrehen, doch mit der Hand stieß ich ein dickes Buch um, das ebenfalls auf dem Schreibtisch gestanden hatte. Mit entsetzt geweiteten Augen sah ich, wie es mit einem in dieser Stille ohrenbetäubendem, dumpfen Knall auf den Dielenboden fiel. Mein Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Hastig griff ich danach und stellte es zurück. Wenn Cedric das gehört hatte. Ich wollte aus dem Zimmer hinaus, war jedoch noch gezwungen, mit fahrigen Händen einige Schubladen zu schließen. Fast über meine eigenen Füße stolpernd eilte ich aus dem Zimmer und schloss die Türe hinter mir. Aus dem oberen Stockwerk waren tatsächlich Geräusche zu hören. Mein Mund wurde trocken.

Ich rannte so leise ich konnte zurück zu meinem Zimmer und hatte keine Zeit mehr, die Türe zu schließen. Also ließ ich sie angelehnt. Mit einem Hechtsprung warf ich mich ins Bett, während in meiner Seite stechende Schmerzen aufloderten. Ein Keuchen entwich mir. Die Decke bis zum Hals hochgezogen und mit wild jagendem Herzen lauschte ich auf die Schritte auf der Treppe.

Wenige Augenblicke später klopfte es leise an der Türe.

„Alexis?“

„J – Ja?“, rief ich mit leicht schriller Stimme.
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Selbstbeherrschung war noch nie eine meiner größten Stärken gewesen, wenn ich unter Druck stand.

„Darf ich reinkommen?“

„Ja.“ Schon besser. Cedric öffnete die angelehnte Türe und trat hinein. Auf der Nase trug er eine kleine Brille. Wahrscheinlich braucht er die nur zum Lesen, schoss es mir unzusammenhängend durch den Kopf. Unter der Decke zitterten meine Hände.

Da saß ich also, in einem Schlafanzug, den Cedric mir geliehen hatte und der mir zu groß war, und mein schlechtes Gewissen verursachte mit beinahe Magenkrämpfe. Ich sah ihm nicht einmal in die Augen.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Ich hab etwas gehört ... du bist so blass?“

Er kam näher und betrachtete mich prüfend.

„Ich ... ich hatte nur wieder einen Alptraum.“

Er seufzte. „Darf ich mich setzen?“ Mir wäre es am liebsten gewesen, dass er einfach schneller wieder gehen würde, aber das sagte ich natürlich nicht. Stattdessen nickte ich ruckartig mit dem Kopf und fuhr mir einmal über die leicht feuchte Stirn. Cedric setzte sich an die Bettkante. Wieder fühlte ich das Mitleid in seinem Blick. Ich wollte nicht, dass er mich so ansah, ich hatte sein Mitleid nicht verdient. Ich war ein Dämon der log und ausnutzte. Ich war verdammt. Und sein Mitgefühl drohte die Mauer, die mein Herz umgab, zum Einsturz zu bringen.

Meine Kehle schnürte sich gefährlich zu. Plötzlich schien mir alles zu viel zu sein, mein ganzes Leben, meine Gefühle. Nicht zu wissen, wo man hingehört.

Ich saß aufrecht im Bett und drückte die Hand auf meine Stirn.

Und er nahm mich in den Arm, einfach so. Ehe ich mir dessen überhaupt bewusst war, lehnte mein Kopf an seiner Schulter. Er drückte mich sanft. Die Augen vor Schreck geweitet starrte ich an die Wand, mein Körper versteift. Mein Zaudern schien ihm nichts zu machen, seine Hand lag warm auf meinem Rücken. Ich wurde umarmt. Erinnerungen rasten durch meinen Verstand. Es war das erste Mal in meinem langen Leben, dass ich auf diese Art und Weise im Arm gehalten wurde. Um mir Wärme zu geben.

„Du kannst ruhig weinen. Das hilft“, sagte Cedric leise. Aber ich wollte nicht weinen. Heftig biss ich die Zähne aufeinander.
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Meine Augen brannten wie Feuer und wurden feucht. Aber ich gab dem Drang nicht nach. Mühsam würgte ich Tränen herab, während ein Schauer mich durchfuhr. Einen letzten Augenblick genoss ich Cedrics Umarmung und den Halt, bevor ich mich aus seinem sanften Griff befreite.

„Warum tust du das alles?“, fragte ich mich gefährlich bebender und schwacher Stimme. Er sah mich ernst an.

„Weil du jemanden brauchst, Alexis. Du bist einsam, ich sehen es in den Augen. Ich möchte dir einfach nur helfen.“ „Wenn du wüsstest, oh wenn du nur wüsstest.“ Ich flüsterte so leise, dass er es nicht hören konnte. Cedric strich mir bedächtig die Haare aus dem Gesicht. Mühsam konnte ich mich beherrschen, nicht vor seiner Hand zurück zu weichen. Ich ließ mich zurücksinken und sah zur Decke hinauf.

„Übrigens ... du kannst so lange hier wohnen, wie du es möchtest.“

„Danke, Cedric.“ Ich drehte mich zur Seite und wandte ihm den Rücken zu. Er wünschte mir eine gute Nacht und verließ kurz darauf das Zimmer. Ich lang doch lange wach in der Dunkelheit. Die Stelle, an der seine Hand meinen Rücken berührt hatte, schien noch immer zu glühen. Mir kam der Duft seines dezentes Rasierwassers in den Sinn. Seine Finger hatten sanft meine Stirn berührt. Ich umklammerte meinen Oberkörper und kniff die Augen zu. Erst nach Stunden fiel ich schließlich in unruhigen Schlaf.



*



Es vergingen ungefähr drei Wochen. Cedric und ich waren anfangs viel gemeinsam unterwegs. Er kaufte mir sogar Kleidung, so sehr ich mich auch dagegen sträubte, so unangenehm es mir auch war. Ich besuchte regelmäßig seine Gottesdienste. Ich saß immer in der letzten Reihe und fühlte mich unwohl in Gegenwart dieser vielen Menschen, doch ich blieb. Wenn ich seiner gleichmäßigen Stimme lauschte, wenn er von Gott predigte, schienen mir die alten Zeiten immer so nah und greifbar zu sein. Würde ich die Zeit zurückdrehen, wenn ich könnte? Damals hatte ich Träume gehabt, die sich als Illusionen erwiesen hatten. Ich hätte die Träume gerne wieder, die mir andere gestohlen hatten. Nur die Erinnerung blieb mir noch. Nach der Messe kam Cedric stets zu mir und ich wusste, dass er sich freute, wenn ich da war. Diese Tage an seiner Seite waren so unbeschwert wie keine in meinem Leben.
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Jeden Abend nahm ich mir vor, am nächsten Morgen nach der Abschrift zu suchen, und jedes Mal fand ich einen anderen Grund, es doch nicht zu tun. Hätte ich Cedric gleich am zweiten oder dritten Tag verlassen, wäre alles anders gekommen. Doch so änderte sich alles, mit jeder Stunde, die ich in seiner Nähe verbrachte. Tag für Tag wurden meine Gefühle tiefer, und ich bemerkte es erst, als es zu spät war. Ich merkte es daran, wie mein Herz klopfte, wenn der Blick seiner lebhaften Augen mich streifte oder wenn ich mich ertappte, wie ich in diesem dunklen, reinen Blau versank. Cedrics Augen waren dunkelblau, aber ohne die grauen Flecken, die Luzifers Augen diese steinerne Härte verliehen. Ich merkte es daran, wenn ich bei einer harmlosen Berührung seiner Hand erzitterte und wie ich es genoss, wenn er meinen Verband wechselte. Er war so anders als alles, was ich bisher kennen gelernt hatte. Wenn ich sprach, hörte Cedric mir zu. Er unterbrach mich nicht oder machte abfällige Bemerkungen. Ja, er fragte mich sogar nach meiner Meinung.

Je besser wir uns verstanden, desto schlimmer wurden meine Gewissensbisse. Als Dämon sollte man solche Empfindungen längst nicht mehr spüren, trotzdem lag ich nachts stundenlang wach, hin- und hergerissen zwischen meinen Gedanken an Cedric und der Tatsache, dass ich ihn gnadenlos belog. Und ich dachte auch oft an Luzifer. Sein Bild hatte ich noch genau vor Augen. Doch schien es mir, als wäre es in letzter Zeit verblasst. Jahrzehntelang war er für mich die Versinnbildlichung des perfekten Wesen gewesen, und ich hatte ihn angebetet. Doch dieses Bild geriet nun ins Wanken – wegen einen ganz normalen, sterblichen Priesters. Cedric war meines Erachtens nach zu gut für einen Menschen. Ich glaube, er hätte den perfekten Engel abgegeben. Und in meinen Augen war er wunderschön, körperlich ebenso wie geistig. Ich mochte seine schlanke Gestalt, seine schönen Hände. Ich mochte einfach alles an ihm.

Und diese simple Erkenntnis, dass ich mein Herz an ihn verloren hatte, dass ich für ihn fühlte, was ich bisher nur für Luzifer empfunden hatte, ließ mich verzweifeln. Ich wollte weg von Cedric und dennoch zog es mich bereits nach einiger Stunden Trennung wieder zu ihm. Ich wollte abweisend zu ihm sein und doch strahlte ich ihn jedes verdammte Mal an, wenn er lächelte.
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Ich war entzwei gerissen wie niemals zuvor. Jeden Abend schrieb ich mit verbissenem Gesicht Tagebuch, füllte Seite um Seite mit unseren Gesprächen oder meinen Gefühlen. Natürlich machte ich mir keinerlei Illusionen – dieses Mal nicht.

Meine Gefühle würden erneut nicht erwidert werden. Cedric war ein Mann. Ein Priester, ein Diener Gottes. Ich war ein Junge. Äußerlich. Und innerlich war ich ein gefallener Engel, ein Dämon. Objektiv betrachtete waren wir Feinde. Ich würde seine Liebe, so wie ich sie mir wünschte, niemals bekommen. Und diese Tatsache traf mich härter, als all die Schläge der vergangenen Jahren. Mir machte es nichts aus, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte. Als gefallener Engel stand man über diesen irdischen Denkweisen.

Ach, und wie schwer mir das Lügen nun viel. Schuldgefühle überrollten mich immer wie eine Welle, wenn ich daran dachte. Ich nutzte Cedrics Sorge um mich gnadenlos aus. Er umarmte mich oft. Ganz offensichtlich wollte er mir Wärme schenken. Mein klopfendes Herz schien er nicht zu spüren, auch nicht das Begehren in meinem Blick. Als es immer schlimmer wurde, begann ich mich von Cedric abzukapseln. Ich besuchte seine Messen nicht mehr sondern stromerte stattdessen in der Stadt herum, schlug die Zeit dort tot, und kehrte erst abends zurück. Einmal blieb ich sogar über Nacht fort und verbrachte die Stunden in der Dunkelheit auf einer Parkbank sitzend, während ich in den Himmel starrte. Sterne waren keine zu sehen, die Lichter New Yorks waren zu hell. Am nächsten Morgen kehrte ich zurück, und Cedric musterte mich besorgt, doch er fragte mich nicht, wo ich gewesen war. Ein wenig hatte ich gehofft, er würde verärgert und wütend sein, doch dass war er nicht. Und meine selbst auferlegten Stunden der Einsamkeit brachten mir ebenfalls keine Rat.

Ich befasste mich ernsthaft mit dem Gedanken, irgendwo auf der Erde ein Einsiedlerleben zu führen. Luzifer würde meine Abwesenheit vielleicht irgendwann einmal bemerken. Aber ob er einen weiteren Gedanken daran verschwenden würde? Ich glaubte es nicht. Irgendwie schien sich alles in mir zu sträuben, in die Hölle zurückzukehren. Zu den anderen Dämonen, die mich immer weiter missbrauchen würden. Ich wollte endlich ein eigenes Leben haben. Hatte ich das denn wirklich nicht verdient?





5.
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Falling Down



Eines Abends kehrte ich schweren Herzens aus dem Park zurück, in dem ich die letzten Stunden verbracht hatte. In meinem Inneren hatte sich ein Entscheidung breitgemacht. Ich würde Cedric alles sagen. Und ihn verlassen. Einfach so gehen, das brachte ich nicht fertig. Außerdem hatte er nach allem ein Recht auf die Wahrheit. Auch wenn es ihm das Herz brechen würde. Manchmal war die Wahrheit einfach vonnöten, um klar zu sehen.

Die Kirche war leergefegt, als ich sie betrat. Nicht einmal Cedric war hier. Meine Schritte hallten bedeutungsschwer in der Stille wider. Seufzend setzte ich mich in die erste Reihe. Minutenlang saß ich ungerührt da und wartete. Und plötzlich begann ich zu singen, einfach so. Ich war selbst überrascht, meine Stimme zu hören, klar und deutlich und rein wie die Stimme aller Engel, gleich ob gefallen oder nicht. Ich schloss die Augen und sangt längst vergessene Zeilen. Tränen bildeten sich hinter meinen Augenlidern.



"Suscipe quaeso Domine, vocem confitentis. Scelera mea non defendo; peccavi. Deus miserere mei; peccavi, dele culpas meas gratia tua.

Si enim iniquitates recordaberis quis sustineat? Quis enim justus qui se dicere audeat sine peccato esse? Nullus est enim mundus in conspectu tuo..."



Erhöre, O Herr, die Stimme des Beichtenden. Meine Sünden verteidige ich nicht; ich habe gesündigt. O Herr, erbarme dich meiner; ich habe gesündigt, wasche mich von meinen Sünden rein durch deine Gnade.

Denn wenn du Missetaten nicht vergisst, wer könnte es ertragen? Wer ist so gerecht, dass er zu sagen wagte, er sei ohne Sünde? Denn es gibt niemanden, der vor

deinen Augen rein ist...



Schließlich verstummte ich, die letzten Töne verklangen. Und ich schlug die Augen auf. Cedric stand vor mir, die Augen geweitet, den Mund vor Erstaunen leicht geöffnet. Verwirrung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Ich erwiderte seinen Blick leicht erschrocken. „Ich ... ich habe dich gar nicht gehört“, stammelte ich schockiert und verlegen zugleich. „Alexis, du sprichst Latein? Und wie du singst! Das ist einfach ...“

Er brach ab und schüttelte den Kopf. Seine Augen musterten mich mit ungewohnter Schärfe.
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„Cedric, ich muss mit dir reden“, entgegnete ich steif, ohne auf ein einzugehen. Er sah noch verwirrter drein. „Ich möchte, dass du mir die Beichte abnimmst. Jetzt gleich.“

Ohne Umschweife erhob ich mich und ging hinüber zum Beichtstuhl. Er folgte mir. „Was ist denn-“, begann er, doch unterbrach ich ihn mit einer Handbewegung. Zum letzten Mal sah ich ihm in die Augen. Ein trauriges Lächeln huschte über meine Lippen. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie; ihn zu umarmen, wagte ich nicht. Dann betrat ich die Kabine und zog den Vorhang zu.



Nun saß ich also hier. Die Luft schien viel stickiger zu sein. Wieder schloss ich die Augen, lehnte mich zurück.

„Nun.“ Es war Cedrics Stimme von der anderen Seite. Und ich begann.

„Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt. Ich möchte, dass du mich bis ganz zum Ende anhörst. Dann ... dann kannst du urteilen. Alles was ich nun sagen werde, entspricht der vollen Wahrheit. Meine Vergehen wiegen schwer. Sie beginnen mit der Lüge. Ich habe gelogen, so viel, so oft. Doch nicht aus egoistischen Gründen, sondern um dich zu bewahren. Mein richtiger Name ist nicht Alexis. Mein Name ist Azrael. Meine Familiengeschichte ist erfunden. Ich habe keinen großen Bruder. Ich bin in New York wegen eines speziellen Auftrages, in dem auch du gewissermaßen eine Rolle spielst. Denn ich soll ein ganz spezielles Buch finden, dass du wahrscheinlich in deinem Besitz hast. Dieses Buch soll ich meinem ... meinem Herren bringen. Ich bin kein menschliches Wesen, mein Körper trügt.“

Ein tiefer Atemzug.

„Ich bin ein Engel. Ich bin ein gefallener Engel. Heute ein Dämon. Damals, vor Tausenden von Jahren, hatte ich einen festen Platz im Himmel. Ich war ein Cherub und hatte vier Flügel. Als Luzifer sich nicht beugen wollte und der Krieg des Himmels begann, verließ ich zusammen mit den vielen anderen Engeln meinen Platz und folgte ihm. Ich ... ich habe Luzifer bewundert. Eher gesagt, ich habe ihn geliebt und verehrt. So kam es, dass die Hölle entstand und dort lebe ich seither. Ich bin Mitglied im Dämonenrat. Meine ... meine Narben auf dem Rücken, sie sehen nicht ohne Grund so seltsam aus. Vielleicht kannst du es dir schon denken, vielleicht aber auch nicht. Ich habe keine Flügel mehr, da Luzifer sie mir herausgerissen hat.
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In der Hölle gehöre ich zwar sozusagen dem Adel an, aber das hindert die anderen nicht daran, mich zu verprügeln und mich zu vergewaltigen. Es sind immer die selben, die es tun, und ich kann mich nicht dagegen wehren.“

Ein Strom warmer Tränen floss meine Wangen hinab. Ich hielt die Augen weiterhin geschlossen und würgte ein Schluchzen hinab, um meinen Redeschwall sofort weiterzuführen. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten weinte ich.

„Ich – ich empfand die ganze Zeit über diese starke Liebe zu Luzifer, doch ihn kümmerte das nicht. Für ihn war ich nur eine Art Diener. Und weißt du was? Seit ich auf der Erde bin, sehe ich ihn mit anderen Augen. Ich glaube, es war gar keine Liebe, die ich für ihn empfand, sondern einfach nur Abhängigkeit. Er ließ zu, dass sie das alles mit mir taten und rührte keinen Finger. Natürlich schätze ich ihn noch immer sehr für seine Weisheit und seine Stärke. Aber – aber ...“

Ich erschauerte. Meine Beichte hatte sich in das Erzählen meiner Lebensgeschichte verwandelt. Das sollte so nicht sein.

„Ich wollte dich niemals belügen. Je länger ich bei dir war, desto schwerer wurde alles. Du bist so gütig zu mir. Wärme. Etwas, dass ich bisher nicht kannte. Und ich fand sie in deinen Armen, in deiner Stimme, in deinen Augen. Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie sehr du mich verändert hast? Wohl kaum. Ich kann dank dir endlich wieder an mich selbst glauben. Ich sage dir hier und jetzt die Wahrheit, um die Lügen zu beenden. Und dazu gehört die ganze, grausame Wahrheit.

Cedric ... du bist mir sehr wichtig. Mehr als wichtig. Meine Gefühle für dich sind sehr tief. Ich habe eine starke Zuneigung für dich entwickelt.“

Es ging nicht. Ich konnte es einfach nicht direkt aussprechen. Die drei Wörter wollten einfach nicht über meine Lippen. Resignierend ballten sich meine Hände zu Fäusten. Viel mehr konnte ich auch nicht sagen.

„Ich möchte dir für jede Minute danken, die ich in deiner Nähe verbringen durfte. Ich weiß nicht, ob du mir jemals vergeben kannst ... . Spero nos familiares mansuros.” *

Nun herrschte Stille. Ich sah auf und starrte die Holzwand an. Wie viele Sünden waren hier drinnen schon gebeichtet worden? Meine jedoch waren gewiss die abscheulichsten.
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Noch immer liefen Tränen über meine Wange. Ich wischte sie zaghaft mit dem Ärmel meiner Uniform fort. Während meiner Beichte hatte ich an meine Uniform gedacht, die ich in der Hölle oft trug. Es war keine wirkliche Magie, aber ich hatte sie heraufbeschworen. Ich warf einen verklärten Blick an mir hinab. Schwarze Stiefel ragten hinauf bis zu meinen Knien, auf Hochglanz poliert. Mein eng geschnittener Hosenanzug war von schiefergrauer Farbe mit schwarzen Absetzungen und Knöpfen. Um meine Hüfte lag ein breiter Ledergürtel. Und auf meinen Schultern der leichte schwarze Umhang. Niemals hatte ich diesen Anblick so sehr gehasst.

Ich lauschte. Cedric sagte nichts. Gar nichts. Entweder, er würde mir nun glauben, oder mich für verrückt erklären. Da hörte ich, wie er den Beichtstuhl verließ. Mit zitternden Knien tat ich es ihm gleich. Ich warf einen einzigen Blick in sein Gesicht und fuhr zurück. Er tat es ebenfalls. Er war furchtbar blass geworden. Sah ich Furcht in seinen Augen aufleuchtend, während er mich musterte? Furcht und Abscheu. Cedric öffnete den Mund „ Du ... du ...“ Er glaubte mir. Tränenblind starrte ich ihn an. Alles in mir war vollkommen leer. Cedric stolperte langsam rückwärts und sein Gesicht verzerrte sich. Wie hatte ich auch annehmen können, er würde mich verstehen. „Du bist ein Dämon. Aus der Hölle.“ Seine Stimme klang hasserfüllt, obwohl er nur flüsterte. Ich ging langsam hinter ihm her, während er weiter zurückwich. Meine Stiefelabsätze klackten dumpf auf dem Marmorboden, ein mir vertrautes Geräusch. Wenn ich doch nur aufhören könnte, zu weinen. Geh, dachte ich verzweifelt, geh einfach. Doch meine Beine schienen nicht zu gehorchen.

„Du hast meine Kirche betreten! Du hast mein Vertauen missbraucht! Wie kannst du es wagen! Ich verabscheue dich!“ Cedric hatte die Stimme erhoben und schrie beinahe. Ich zuckte zusammen. Blieb stehen. Ein Zittern durchlief den Körper des Mannes und seine Augen blitzten.

Neben ihm stand ein Becken gefüllt mit Weihwasser. Als ich einen Schritt weiter auf ihn zukommen wollte, streckte Cedric blitzschnell die Hand aus. Er bespritzte mich mit Weihwasser. Auf der Brust meiner Uniform breitete sich ein dunkler Fleck aus, einzelne kühle Tropfen liefen über mein Gesicht und mischten sich mit meinen Tränen.
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„Bleib weg von mir.“ Sein Flüstern machte mir mehr Angst als sein Schreien. „Nein, geh. Raus hier! Geh mir aus den Augen.“

Seine Worte waren wie ein Dolchstoß ins Herz. Ich wandte mich mit versteinerter Miene von ihm ab. Der Weg zur Türe schien mir ewig lang zu sein. Ich hätte mich gerne umgedreht, doch das wagte ich nicht. Mit einem dumpfen Knall schlug die

Türe hinter mir zu. Und mein Herz schmerzte.



* Ich hoffe, wir bleiben weiter Freunde.



*



Ich saß auf einer Parkbank. Mein zielloses Umherirren hatte hier sein Ende gefunden. Regen fiel in einem sanften Schauer vom grauen Himmel. Meine Uniform war vollkommen durchnässt und schwer, meine Haare klebten im Gesicht. Mit der Dunkelheit war die Kälte gekommen. Hin und wieder durchlief mich ein Zittern. Warum. Warum saß ich hier seit Stunden und rührte mich nicht mehr. Ich könnte nach Hause gehen. Mit leeren Händen wie ein geprügelter Hund heimkehren. Ja, ich könnte es. Aber das würde ich nicht tun. Also saß ich einfach weiter hier. Wo gehörte ich eigentlich noch hin? Weder in den Himmel, noch auf die Erde. Und in die Hölle? Bisher hatte ich sie als mein Zuhause angesehen, aber mittlerweile war ich da ins Grübeln gekommen. Für mich war ein Zuhause kein Zuhause, wenn man sich nicht wohl fühlte. Warum sollte ich dorthin zurückkehren. Niemand brauchte mich wirklich, es sei denn, sie wollten sich an irgend jemandem abreagieren. Da war meine Wenigkeit stets äußerst gefragt. Nein, in die Hölle wollte ich wirklich nicht. Mit stumpfen Blick starrte ich in den leeren Park. Cedrics Gesicht wollte nicht von meinem inneren Auge weichen. Ich war abfällige Blicke gewöhnt und für gewöhnlich machten sie mir nichts mehr aus. Nur bei Luzifer war das anders. Und bei Cedric. Bei ihnen tat es weh. Aber ich hatte wirklich nichts anderes erwarten können. Und zumindest hatte er mich nicht geschlagen. Ein schiefes Grinsen überkam mich. Ich zog die Beine an und umklammerte sie mit den Armen. Die Stirn drückte ich gegen die Knie. Wieder liefen Tränen aus meinen Augenwinkeln. Ich hasste es, zu weinen. Deshalb hatte ich versucht, es mir abzugewöhnen. Und in den meisten Fällen konnte ich mich wirklich beherrschen.
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Jetzt schien ein Damm in meiner Seele zu brechen. Schluchzer drangen aus meiner Kehle, ließen sich nicht mehr unterdrücken. Meine Tränen sickerten in den Stoff meiner Hose.

Wie spät war es? Wie lange saß ich schon hier? Zeit spielte keine Rolle mehr. Es war stockfinster geworden und von der spätsommerlichen Wärme nichts mehr übrig. Nein, der Herbst war gekommen. Um mich herum roch es nach nassen Blättern.

Ich hörte Stimmengewirr und hob den Kopf. Ein paar junge Sterbliche spazierten lauthals lachend mit Regenschirmen durch den Park. Anscheinend hatten sie ein paar Gläser zu viel gehabt. Sie kamen näher. Einer entfernt stehenden Straßenlaterne beleuchtete mich in einem düsteres Zwielicht. Als sie näher kamen, starrten sie mich an einige Sekunden an und lachten dann noch lauter.

„Seht euch den Freak an“, gackerte ein Mädchen und zeigte mit dem Finger auf mich. „Diese Klamotten!“, höhnte ihr Freund. „He, bist du vom Zirkus oder was?“

Alle lachten, sie kamen noch näher heran. Ich presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ein Schatten fiel über mein Gesicht. Noch immer wurde ich begafft doch ihre Kommentare prallten an mir ab. Das waren nur dumme sterbliche Kinder. Einer der Jungen führte einen albernen Affentanz vor mir auf. Unglaubliche Wut stieg in mir hoch. Mir einer einzigen Bewegung sprang ich auf die Füße und baute mich vor ihnen auf. Sie wichen erschrocken zurück. Ich packte den Jungen am Kragen und zog ihn heran.

„Na, was ist? Bin ich plötzlich nicht mehr so lustig?“, spuckte ich ihm beinahe ins Gesicht. Er starrte mich ängstlich an und versuchte sich zu befreien. Ich behielt ihn im Griff. „Los, lach doch, du kleine Mistkröte!“ Ich schüttelte ihn. Menschen waren wirklich dumm. Und ich lebte nicht seit so vielen Jahrhunderten, um mich von ein paar Kindern verspotten zu lassen. Ein wenig Ehre besaß selbst ich noch.

Mit einem heftigen Ruck stieß ich den Jungen von mir und er landete auf dem Hintern im Matsch. Sofort wich er zurück. „Macht, dass ihr fort kommt! Aber schnell! Sonst bringe ich euch Respekt vor Älteren persönlich bei!“, brüllte ich sie an. Ich muss sagen, dass es mir ein wenig Genugtuung verschaffte, sie davoneilen zu sehen.
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„Menschen“, knurrte ich, als sie schließlich um eine Ecke gebogen waren. Ich wandte mich um. Und prallte beinahe gegen einen Mann. Erschrocken wich ich zurück und meine Gesichtszüge entgleisten völlig, als ich in Cedrics Gesicht blickte. Er stand einfach da, unter einem weißen Regenschirm, und sah mich an. Sekundenlang herrschte Stille und nur das Trommeln der Tropfen auf den Schirm war zu hören. Das Herz pochte mir hart gegen den Brustkorb. Natürlich, dachte ich verbittert, natürlich musste er genau in dem Augenblick auftauchen, in dem ich arme, hilflose Menschenkinder bedrohte.

Die Wut verkühlte eben so schnell, wie sie erschienen war. Meine Schultern sackten nach unten und ich wandte den Blick ab. Wieso war Cedric gekommen? Wollte er mich noch weiter beschimpfen? Ich drehte ihm erneut den Rücken zu.

„Was ist? An deiner Stelle würde ich weglaufen, bevor der Dämon auch noch über dich herfällt.“ Eigentlich hatte ich abweisend und kalt klingen wollten, doch die Worte flossen mir eingehüllt in Trauer aus der Kehle.

Er sagte nichts. Ich konnte diese Stille nicht mehr aushalten. Plötzlich spürte ich die Regentropfen nicht mehr auf mich niederprasseln. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Sofort versteifte ich mich. „Cedric“, sagte ich schwach, „lass mich lieber los.“ Langsam drehte ich mich um, damit ich ihn ansehen konnte. Ich hatte Angst, wieder diese Abscheu in seinen Augen zu erblicken. Aber er sah nur ernst aus, sehr ernst. Und ein wenig niedergeschlagen. Als er seine Hand sinken ließ, sah ich, dass sie zitterte.

Meine Gefühle wollten mich überwältigen. Wie konnte er so dicht vor mir stehen und doch so weit entfernt sein?

Er holte tief Luft, um etwas zu sagen, und es schien ihn große Überwindung zu kosten. „Alexis ... Azrael. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrieen habe. Bitte komm mit mir zurück. Ich möchte ... mit dir sprechen.“

Cedrics Stimme klang steif und die Wärme war aus ihr gewichen. Er sah wie durch mich hindurch. „Sag mir eines. Hasst du mich, Cedric?“, fragte ich leise. Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geohrfeigt und verzog kurz das Gesicht. Es war, als müsste er darüber erst nachdenken. Die Sekunden zogen sich dahin und ich starrte auf seine Brust.
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„Nein“, sagte er dann erstaunlich sanft. „Nein, ich denke nicht, dass ich dich hasse.“







6. In The Arms Of The Angel







Eingewickelt in einer Decke saß ich auf Cedrics Sofa. Meine nassen Klamotten hatte ich durch trockene ersetzt. Cedric saß neben mir und hielt eine Tasse Tee in den Händen. Ich wartete nur darauf, dass er endlich das Gespräch beginnen würde, um dass er mich gebeten hatte. Doch Cedric schien ein wenig nervös, als wisse er nicht, wie er beginnen solle. Ich schwieg und verhielt mich ruhig, nur ab und zu warf ich ihm einen Seitenblick zu. Als er sich schließlich räusperte, zuckte ich zusammen.

„Vermutlich hätte ich nicht so überreagieren dürfen. Aber ich war so, so geschockt, das musst du verstehen. Weißt du, irgendwie war mir von vorne herein klar, dass du anders bist. Dein ganzes Verhalten und Aussehen, deine Redensweise. Und deine Augen.“

Er sah mich an, genau in meine Augen, und schien sie zu studieren. Wärme legte sich auf meine Wangen.

„Ich kann noch immer nicht wirklich glauben, dass ich hier so einfach mit dir sitze. Immerhin bist du ... bist du ...“ „Ein Dämon“, half ich ihm aus. Er nickte. „Ja, ein Dämon. Aber wie kann ein Dämon so sein wie du? Du wirkst nicht wie ein Dämon, sondern wie ein Engel.“ „Alte Gewohnheiten wird man nicht so schnell los“, spöttelte ich, um ja die Ruhe zu bewahren. Cedric redete weiter und mit einem Mal schien sich sein Blick in der Ferne zu verlieren.

„Weißt du, Azrael, du erinnerst mich an einen ganz besonderen Menschen. Der Ausdruck in deinem Gesicht, wenn du lächelst, beispielsweise. Oder aber deine verletzten Augen. Sag mir, ich bitte dich. Was ... was passiert nach dem Tod? Weißt du das? Oder was ist der Sinn des Leben?“

Mit einem Ausdruck gespannter Erwartung blickte er mich an. Ich war mehr als verdutzt und blinzelte.

„Das kann ich dir nicht sagen, Cedric“, antwortete ich schlicht. Enttäuschung keimte in mir auf. Hatte er mich etwa nur zurückgeholt, um mir solche Fragen zu stellen? Und nicht, weil ihm etwas an mir lag? „Selbst wenn ich das alles wüsste, würde ich dir diese Fragen nicht beantworten. Tut mir leid.“

Er seufzte einmal.
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„Aber eines kannst du mir doch gewiss beantworten. Wie ... wie ist es in der Hölle? Bitte, es ist mir sehr wichtig.“

Seine Stimme hatte plötzlich einen tieftraurigen und verzweifelten Unterton. Cedric griff sogar nach meiner Hand und drückte sie. „Sag mir zuerst, warum du das wissen möchtest. Sag mir, was dich so belastet. Ich habe dir auch meine tiefsten Geheimnisse anvertraut. Nun bist du an der Reihe.“ Er zauderte und kämpfte mit sich selbst, ich sah es ihm an. Doch schließlich schien er sich zu überwinden. Seine Worte klangen brüchig.

„Ich hatte einen Bruder. Er war drei Jahre jünger als ich. Sein Name war John. Wir haben viel zusammen unternommen und waren wie Pech und Schwefel. Hin und wieder rangelten wir, doch jeder Streit endete damit, dass einer von uns beiden lachen musste. Er war ein sensibler Junge, nahezu verschlossen, aber nicht in meiner Gegenwart. Wir waren nicht nur Brüder, wir waren die besten Freunde. Ich habe ihn sehr geliebt.“

Cedric musste eine kurze Pause einlegen und atmete tief ein. Ich ahnte, in welche Richtung die Geschichte verlaufen würde, weshalb ich nun meinerseits die Hand auf seinen Arm legte und leicht zudrückte.

„Mein Vater war ein Säufer. Abends war er regelmäßig dicht, und dann schlug er uns manchmal. Es war schlimmer, aber nicht so schlimm, so lange wir einander hatten. Wir schlossen uns einfach immer in unsrem Zimmer ein, wenn er besoffen war. Meine Mutter stritt oft mir ihm. Es war alles eigentlich soweit in Ordnung, bis ... bis ich fortging. Ich ging fort, auf ein Internat, eine sehr gute Schule, um dort zu studieren. Man hatte mir ein Stipendium angeboten. Zuerst wollte ich natürlich nicht annehmen. Wie konnte ich John auch alleine in dieser Familie lassen ... Doch er überredete mich. Wir hatten vor zu sparen, um dann zusammenzuziehen. Also ging ich fort. Und das war der größte Fehler meines Lebens.“

Ich hörte die nahenden Tränen in Cedrics Stimme und schluckte. Trotzdem ließ ich ihn einfach weiterreden.

„Er war einfach zu sensibel. Mein Vater machte ihm das Leben zur Hölle. In der Schule wurde er regelmäßig geschlagen und ausgeschlossen. Zu Hause das selbe. Er schrieb mir Briefe, erwähnte jedoch kein Wort von alldem. Er war zu stolz auf mich und wollte mir keine Sorgen bereiten.
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Und irgendwann hat er das alles nicht mehr ausgehalten. Ich weiß nicht, was an jenem Tag passiert ist, aber man hat seine Leiche in seinem abgeschlossenen Zimmer gefunden. John hatte sich mit der Pistole meines Vater in den Kopf geschossen.“

Cedric liefen Tränen über die Wange. „Es ist meine Schuld, verstehst du? Selbstmord ist eine Todsünde. Dafür kommt man in die Hölle. Deshalb ... deshalb möchte ich wissen, wie es dort ist. Kennst du ihn denn vielleicht? Bist du ihm schon begegnet?“

Voller Hoffnung sah er mich aus seinen blauen Augen hinaus an. Und wieder musste ich ihn enttäuschen. Ich wusste nicht, wie ich es ihm sagen sollte. Doch mein Schweigen reichte auch in diesem Fall aus. „Ich verstehe.“ Cedric lächelte schief. Ich rutschte zu ihm und wischte ihm die Tränen von der Wange. „Mach dir keine Vorwürfe. Und sorge dich nicht länger um John. Es geht ihm ganz sicher gut.“



„Aber ... aber die Hölle“, würgte Cedric heraus, „das Fegefeuer! Muss er leiden? Wird er gequält?“ Verzweifelt sah er mich an. Ein mildes, belustigtes Lächeln erschien auf meinen Lippen. „Ach, Cedric. Du solltest nicht all die dummen Geschichten glauben, die die Menschen erfinden, um sich gegenseitig Angst zu machen. Es ist längst nicht alles so, wie es erzählt wird. Die Hölle ist ganz anders. Luzifer hat keine Hörner auf dem Kopf, er ist auch nicht rot oder geht auf Ziegenbeinen. Alles Märchen. Im Himmel fliegen ja auch nicht alle umher, sitzen auf Wolken und spielen Harfe.“

Meine Worte schienen ihn irgendwie zu beruhigen. Er atmete einmal tief ein und hatte sich langsam wieder unter Kontrolle. Ich lächelte ihn an, während er mich musterte. Etwas in seinem Blick hatte sich verändert, wenn er mich ansah. Ich konnte es nicht richtig deuten. „Wie weise musst du sein“, flüsterte er auf einmal. „Welches Wissen muss sich in dir Verbergen. Du warst ein Engel Gottes und bist gefallen.“ Fast ehrfürchtig betrachtete er mich. Mein Lächeln verblasste langsam. Ich wurde wieder ernst. „Und ich habe dich die ganze Zeit Junge genannt und als solcher behandelt. Wie konnte ich das tun. Gott, vergib mir.“ Er berührte sein goldenes Kreuz. Ich war gelinde erstaunt, doch antwortet dann. „Da gibt es nichts zu Vergeben. Du sahst einen Jungen vor dir und du warst gut zu mir.
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Und selbst jetzt noch trittst du mir freundlich gegenüber, obwohl du mein Geheimnis kennst. Dein Herz ist offen, Cedric, und das ist gut.“ Mein Kompliment schien ihn nicht sehr glücklich zu machen. Wir saßen jetzt so dicht nebeneinander, dass ich seine Körperwärme spürte. Mühsam unterdrückte ich ein leichtes Beben. Oh, diese Augen, so tiefblau wie der Ozean ...

„Azrael, sag mir, hast du Gott je gesehen? Wie fühlt es sich an, in seiner Nähe zu sein?“ Wieder sah er mich voller Erwartung an, hungrig nach Antworten, nach denen er seit langem suchte. „Das ... das kann man schlecht beschreiben“, flüsterte ich. Rutschte etwas näher. Er schien es nicht zu bemerken. „Man muss es selbst fühlen.“

Ich nahm vorsichtig seine Hand in die meine und legte sie auf meine Wange. Cedric wirkte erstaunt, tat jedoch nichts. „In mir steckt der göttliche Funke, Cedric. Ich bin von Gott gemacht. Es ist sein göttlicher Körper, den er mir gab. Schließ die Augen. Schließ die Augen.“ Ich sah seine Lider flackern, doch dann gehorchte er. Warm lag seine Hand auf meiner Wange. Flüsternd fuhr ich fort. „Wenn du mich berührst, berührst du einen Teil Gottes. Dass ich gefallen bin, spielt keine Rolle. In mir steckt der göttliche Funke.“ Mir war warm und mein Puls raste. Cedric hielt die Augen geschlossen, seine Lippen bewegten sich leicht, als flüsterte er stumme Worte. Aus eigenem Antrieb heraus strich er leicht meine Wange entlang. „Gott ist in mir“, hauchte ich, und dann beugte ich mich vor und küsste ihn. Leicht wie eine Feder berührten meine Lippen die seinen. Es schien, als würden elektrische Blitze mich durchfahren, gefolgt von dem süßesten Gefühl seit langem. Auch er zuckte zusammen, als empfände er das selbe. Und vielleicht war es auch wirklich so.



Ein Engel küsste einen Priester. Seine Lippen waren weich und warm. Und in diesem Augenblick wusste ich einfach, dass wir zusammen gehörten. Ich gehörte einfach zu ihm, in welcher Weise auch immer. Noch wenige Sekunden hielt dieses wundervolle Gefühl an, dieser Austausch von besonderen Schwingungen, die mir Schauer über den Rücken jagten. Dann wich ich langsam zurück, das Gesicht noch immer dicht vor Cedrics. Von meinen Gefühlen fast überwältigt starrte ich ihn an.
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Und er tat nichts anderes. Noch immer ruhte seine Hand auf meiner Wange. Ich liebte dieses Gefühl.

„Hast ... hast du es gespürt?“, wollte ich leise wissen. In Cedrics Augen schimmerte Unglauben. Er schien erst jetzt zu registrieren, dass ich ihn geküsst hatte. Faszination mischte sich mit Schock und er zuckte zusammen. „Azrael, du -“

„Du hast es gespürt.“ Ich lächelte ihn an. Seine Lippen waren nur ein kleines Stück von mir entfernt. Ich berührte sie erneut mit sanftem Druck. „Das darfst du nicht tun“, flüsterte Cedric rau. „Und wieso nicht? Wieso?“ Ich legte die Hand um seinen Nacken und presste meine Stirn gegen seine. Strähnen meines dünnen schwarzen Haares lagen zwischen uns. „Weil es Sünde ist.“ Cedrics Wangen hatten einen leichten Rotschimmer angenommen. Ich gab einen amüsierten Laut von mir. „Nein, nein. Das ist keine Sünde. Das sind Gefühle, Gefühle, die Gott uns zu fühlen ermöglichte. Es ist keine Sünde. Es ist Liebe.“ Tief sah ich in seine Augen und fühlte ihn dicht bei mir leicht zittern. Zärtlich fuhr ich über sein Gesicht. Seine Nähe war das schönste Gefühl überhaupt. An meiner Brust fühlte ich Cedrics Herz jagen. Er war so unruhig. Wieder drückte ich ihm die Lippen auf und nach wenigen Augenblicken wurde sein Mund weicher, weniger verkrampft. Mit den Fingerspitzen fuhr ich seinen Hals entlang, auf und ab. Unser Kuss wurde tiefer. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht der Schock war, der ihn lähmte. Ich wollte, dass es in seinem Inneren das selbe Gefühl auslöste wie in meiner Seele. Und meine Seele sang vor Glück, ich hätte weinen können. Ich blieb sanft und einfühlsam, obwohl mich das Verlangen beinahe überwältigt hätte. Nebenbei spürte ich, wie Cedrics Finger ihren Weg in meine Haare fanden. Mit einem heiseren Keuchen lehnte ich mich schließlich zurück, denn ich hatte seine wachsende Unruhe gefühlt. Und überstürzen oder ihn noch mehr erschrecken wollte ich ihn nicht. Sein heißer Atem strich über meine Wange wie die Flammen eines Feuers. Ich konnte nicht anders, ich lächelte vor Glück und Zufriedenheit. Cedric schien sich erst sammeln zu müssen. Seine Augen wurden wieder klarer und verloren ihren glasigen Schimmer.
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„Du bist ein Junge, Azrael, ein Junge. Das ... das ...“

Seine Stimme verlor sich. „Liebe kommt aus dem Herzen, Cedric, aus deiner Seele. Das weiß selbst Gott. Spielt es denn eine Rolle, in welchem Körper ich stecke?“

Er gab keine Antwort. Ich konnte nur im Ansatz nachvollziehen, wie er sich wohl fühlen musste. Innerhalb weniger Stunden hatte ich seinen gesamten Glauben auf eine harte Probe gestellt und überfiel ihn stets weiter. Die Hitze in meinem Körper wich einem sanften Pochen. Dicht an ihn gepresst kam ich zur Ruhe, die Arme noch immer um seinen Hals geschlungen. „Du bist wunderschön“, murmelte ich nur. Flüchtig zog ich die Decke zu uns beiden. Müdigkeit schlich sich in meine Glieder. Ich wusste nicht, wie es mit uns weiter gehen sollte. Meine Sinne nahmen Cedrics Verlegenheit, seine bittere Scham deutlich war. Er murmelte unablässig leise Worte vor sich her. Er brauchte Zeit, um das alles zu verarbeiten. Vielleicht würde er morgen klarer sehen. Eigentlich wollte ich von ihm fortrutschen, doch mein Kopf ruhte auf seiner Brust und das sanfte Wiegen seines Atems lullte mich ein. Meine Augenlider wurden sehr schwer. Seine Stimme in meinen Ohren ließ mich schließlich in tiefen, traumlosen Schlaf sinken.



*



Ich erwachte mit einem unbestimmten Gefühl der Unruhe. Blinzelnd versuchte ich, die Müdigkeit aus meinem Körper zu treiben. Etwas schien nicht ganz richtig zu sein. Ein wenig verwirrt hob ich den Kopf und versuchte festzustellen, wo überhaupt ich mich befand. Noch immer auf dem Sofa. Und fast unter mir lag Cedric, schlafend. Ich konnte den Blick kaum von seinem ruhigen Gesicht abwenden. Ein Seufzen entwich mir. Vorsichtig setzte ich mich vollständig auf, die Wolldecke rutschte von meinen Schultern. Ein Frösteln überkam mich. Mit zunehmend wacheren Sinnen nahm meine seltsame Unruhe wieder zu. Mit der linken Hand rieb ich mir flüchtig die Augen und ließ den Blick langsam durch das Zimmer schweifen. Und als ich den Grund meines leichten Unwohlseins erblickte, schien etwas in mir heftig zu zucken. Äußerlich jedoch blieb ich nahezu gelassen sitzen, nur meine Augen weiteten sich und ich krallte die Hände in die Decke. Unwillkürlich hielt ich die Luft an.

Er stand am Fenster und sah nach draußen, wandte mir so das Profil zu.
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Die Morgensonne beschien durch die Glasscheibe sein Gesicht in zartem Gold, malte sanfte Schatten auf Stirn und Wange. Seine Augen blickten ein wenig in die Ferne und ein Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. Der lange schwarze Mantel den er trug, floss an seiner großen Gestalt herab und reichte ihm bis zu den Fersen, jedoch ohne den Boden zu berühren. Die Hände hatte er am Fensterbrett abgestützt. Mir blieb schlicht und einfach die Stimme weg vor Schreck. Doch er schien zu spüren, dass ich ihn anblickte, und drehte mir langsam das Gesicht zu, ließ vom Fensterbrett ab. Oh, sein schönes Gesicht. Selbst aus der Entfernung sah ich seine Augen unter den dunklen Wimpern funkeln und blitzten wie Saphire. Das angedeutete Lächeln auf seinen Lippen schien breiter zu werden, als er mich genau ansah. Ein krächzender Laut kam aus meiner Kehle und ich konnte nichts anderes tun, als still sitzen zu bleiben. Was wahrscheinlich auch das Klügste war.



„Ah, Azrael! Schön, dass du aufgewacht bist. Nun, war dein Schlaf erholsam?“

Seine dunkle, vergnügte Stimme ließ mir eisige Schauer über den Rücken laufen. Fast erwartungsvoll strahlte er mich an, sein langes Haar glänzte tief dunkelblau im jungen Licht des Morgens. Ich öffnete den Mund. Vergebens. Mein Herz schlug Purzelbäume. „Was ist das doch für ein wunderschöner Tag, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern ...“ Er verließ seinen Platz am Fester und kam mit bedächtigen Schritten auf mich zu.

Es war nicht gerecht. Es war einfach nicht gerecht. Jahrelang, Jahrhunderte lang hatte er mich nicht wahrgenommen, ich war ihm so gleichgültig gewesen wie nur irgendeiner sonst. Und nun, da ich mir zum ersten Mal etwas Abstand verschafft und mir etwas aufgebaut hatte, was nur mir zu gehören schien, da war er auf einmal da. Mein Hals wurde trocken. Ich wusste natürlich, was all das zu bedeuten hatte. Sein vorgetäuschtes, freundliches Lächeln war so kühlt und vergänglich wie Raureif auf einer Wiese. Er war gekommen, um mich zu bestrafen. Pure Angst gemischt mit Adrenalin jagte durch meinen Körper. Und er kam weiter auf mich zu, der dicke Teppich schluckte seine Schritte. Mein Gesichtsausdruck schien ihn zu amüsieren.

„Was denn? So überrascht mich zu sehen? Na, du musst mir doch vor Freude nicht gleich um den Hals fallen.
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“ Er lachte ein wenig. Mir war zum Heulen zumute. Dicht vor mir blieb er stehen. Mit Gänsehaut auf den Armen blickte ich zu ihm auf.

„Azrael, ich glaube, wir müssen uns ein wenig unterhalten.“

Er setzte sich auf den Tisch, der vor dem Sofa stand, und schlug die langen Beine übereinander. Auf dem Tisch stand auch ein Kruzifix. Ich sah, wie er es interessiert musterte und es in die Hand nahm. Während er das Kruzifix eingehend und noch immer lächelnd betrachtete, warf ich einen raschen Blick auf Cedric. Er schlief seelenruhig und tief. Sorge mischte sich blitzschnell in meine Angst. Ein Poltern ließ meine Augen zurückzucken. Das Kruzifix lang auf dem Boden. „Wirklich hübsch, wenn auch ein wenig zu kitschig für meinen Geschmack“, sagte er. Und nun war sein Gesicht ernst.

„Luzifer“, zwang ich mich endlich zu sagen, und neigte den Kopf. „Um ehrlich zu sein, bin ich sehr enttäuscht von dir, Azrael“, meinte Luzifer nun schlicht und sachlich. „Du warst sehr lange weg. Und? Hast du das Buch? Bist du überhaupt in seine Nähe gekommen?“ Fest die Lippen aufeinander gepresst zwang ich mich, den Blickkontakt zu halten. „Nein, natürlich nicht“, fuhr Luzifer fort. „Ich verließ die Hölle, um hier mal nach dem Rechten zu sehen. Nicht, dass dir noch etwas zugestoßen ist.“ Er lächelte, doch dieses Mal wirkte es fast boshaft. „Und was finde ich vor? Du liegst schlafend auf einem Sofa. Dicht an einen Priester geschmiegt. Wie niedlich. Ich denke nicht, dass ich dir sagen muss, was das bedeutet, oder?“

Angst. Da war dieses vertraute Gefühl ja wieder. Blitzschnell ließ es alle Selbstbeherrschung dahinschmelzen wie Eis in der Sonne. Am ganzen Körper begann ich zu zittern. Luzifers Arm schnellte vor und packte mich am Kragen. Im selben Augenblick war er auf den Beinen. Seine Hand umklammerte meinen Hals und nur meine Fußspitzen berührten noch den Boden. Ein krampfhaftes Röcheln drang aus meiner Kehle. Luzifer schnürte mir fast vollständig die Luft ab. In seinen blaugrauen Augen schien es zu blitzen. „Du hast dich mit einem Priester eingelassen! Mit einem Priester! Du hast ihm dein Geheimnis anvertraut! Deine verdammten Pflichten vergessen! Du elender Narr!“

Schwarze Flecke tanzten in meinem Sichtfeld. Ob er mich erwürgen würde oder nicht, war mir eigentlich egal.
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Meine Sorge galt nur Cedric. Was würde Luzifer mit Cedric tun. Schließlich, als ich kurz davor war ohnmächtig zu werden, versetzte er mir noch einen Schlag in den Magen und ließ mich los. Schwer atmend fiel ich zu Boden und konnte ein Jaulen nicht unterdrücken, als meine erst genesene, linke Seite hart aufschlug. Schmerz trieb mir Tränen in die Augen, doch zumindest konnte ich wieder Luft holen. Luzifer stand da und sah mich ruhig an. Torkelnd kam ich auf die Beine. Und sah mit Entsetzten, wie Cedric aus dem Schlaf fuhr und sich aufsetzte. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, er sah zwischen Luzifer und mir hin und her.

„Azrael, ist alles in Ordnung? Wer ist das? Wie kommen Sie hier herein?“ Cedric stand auf und verengte misstrauisch die Augen. Luzifer betrachtete ihn neugierig mit leicht schief gelegtem Kopf. „Was glauben Sie denn, wer ich bin?“, fragte er den Priester. Cedric musterte ihn von oben bis unten. Ich sah deutlich, dass er von Luzifers ungewöhnlicher Schönheit und seiner Ausstrahlung, seinen wissenden Augen, beeindruckt war. Sein Blick pendelte hinüber zu mir, offenbar erkannte er einige Parallelen. ‚Engel’ formten seine Lippen stumm. Ich wagte es nicht, den Mund aufzumachen. Noch immer schmerzte meine Kehle und die Seite. Cedric zog es offenbar vor, nicht zu antworten. Er blieb auf der Hut. Luzifer schien das nicht zu stören. Er deutete eine kleine Verbeugung an. „Nun denn, Mann Gottes. Ich bin der Leibhaftige, der Satan, der Teufel, wie auch immer man es nennen möchte. Dennoch ziehe ich den Namen Luzifer allen anderen vor.“ Er funkelte Cedric an, dessen Gesicht vollkommen weiß geworden war. Er starrte ihn an. Nach meiner Beichte war er ja schon schockiert gewesen, doch das war nichts hiergegen. Einen Augenblick glaubte ich sogar, Cedric würde ohnmächtig werden vor lauter Schock. Dann griff er sich blitzschnell das am Boden liegende Kruzifix, hob es hoch und streckte es Luzifer entgegen. Die Zähne hatte er zusammengebissen. Cedric sah elend aus.

Luzifer hob erstaunt die Augenbrauen und betrachtete das Kreuz. „Dämon!“, stieß Cedric hervor, „Teufel! Verschwinde hier!“

Luzifer begann zu lachen. Seine weiche, dunkle Stimme ließ mich erneut erzittern. Er lachte so sehr, dass er sogar den Kopf in den Nacken legte.
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Cedric wusste nicht, was ihm geschah. „Ach, ach“, keuchte Luzifer dann. „Priester, nimm das Kreuz runter.“ Mir reichte es, ich konnte den Ausdruck in Cedrics Augen nicht länger ertragen. Ich wollte zu ihm eilen, doch Luzifer streckte so plötzlich den Arm aus, dass ich dagegen prallte und zurück auf den Hintern fiel. „Und du bleibst da wo du bist, Azrael. Es tut mir furchtbar leid, aber es wird Zeit, dass ich diese Misere hier beende.“ Seine dunklen Augen wurden entschlossen und hart. Er sah Cedric an.



„Du wirst sterben. Es ist nicht deine Schuld, sondern Azraels, aber trotzdem wirst du sterben müssen. Tut mir äußerst leid. Ich kann das hier nicht dulden.“ Cedrics Augen weiteten sich, das Kruzifix fiel aus seinen Händen. Er sank auf die Knie. Panik lähmte meinen Körper. Nein, das durfte er nicht tun. Er durfte Cedric nicht anrühren.

Dieses Mal stellte ich mich geschickter an. Mit einem Satz sprang ich auf und an Luzifer vorbei. Vor Cedric blieb ich stehen.

„Nein“, sagte ich. Meine Stimme schwankte und drohte einzubrechen, doch mein Körper zitterte nicht länger. Eiserne Entschlossenheit musste sich in meinen Augen spiegeln, zumindest hoffe ich das. Ich widersetzte mich Luzifer. Zum ersten Mal überhaupt wagte ich es, zu widersprechen. Und ich würde nicht weichen.

„Azrael, geh zur Seite.“

Luzifer sah mich an, die Hände in die Seiten gestemmt. Sein Haar schimmerte jetzt schwarz wie die tiefsten Schatten der Nacht. In seinem Gesicht konnte ich keine besondere Regung erkennen, weder Ärger, noch Bosheit oder Hohn. Es war einfach ruhig wie die Oberfläche eines Sees. Ich schüttelte den Kopf.

„Luzifer, du weißt, dass ich dir immer gehorcht habe. Aber ich werde nicht zulassen, dass du Cedric auch nur ein Haar krümmst.“ Es fühlte sich so gut an, endlich das zu sagen, was ich dachte und zu dem zu stehen, was ich wollte. Ich sah ihn seufzen. Aus irgendeinem Grund berührte Cedric hinter mir meine Hand, während er noch immer auf dem Boden kniete. Und seine Berührung ließ mich in meinem Vorhaben noch sicherer werden.

„Aus dem Weg Azrael, oder ich töte dich auch.“ Seine Stimme war eiskalt.

„Dann tu es, Luzifer. Töte mich.“ Ein trauriges Lächeln erschien auf meinem Gesicht.
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Ich wollte mich nicht dagegen wehren, wenn er mein Schicksal besiegeln sollte. Seinetwegen hatte ich den Himmel verlassen und wenn es sein Wunsch war, dann würde ich durch seine Hand sterben. Die Hauptsache war nur, dass Cedric überlebte. Ich würde nicht tatenlos zusehen, wie Luzifer ihn tötete. Ich würde ihn mit meinem Leben verteidigen. Luzifer kniff die schönen Augen leicht zusammen.

„Verdammt, Azrael! Du scheinst zu vergessen, auf welche Seite du gehörst.“

„Genau hier gehöre ich hin. Zwischen dich und ihn.“ Ich warf aus den Augenwinkeln einen Blick über die Schulter. „Lauf, Ced“, zischte ich ihn an. Unter seinem Pony sah er mich mit merkwürdigen Ausdruck an. Er kam auf die Beine. Doch er lief nicht weg. „Azrael“, begann er. Ich ließ ihn nicht ausreden. „Jetzt lauf schon!“, brüllte ich. Und er ging, nachdem er mir einen Blick zuwarf, der mir fast das Herz zerriss. Es war Dankbarkeit gemischt mit Trauer und Schmerz. Eilig stolperte er aus dem Zimmer. Ich ließ Luzifer nichts aus den Augen, auf dessen Gesicht ein bedrohlicher Schatten erschienen war. Er runzelte die Stirn und sah Cedric nach. Ich wusste eigentlich schon, wohin Cedric laufen würde. In seine blöde Kirche. Doch dort würde er auch nicht sicher sein. Verzweifelt biss ich mir auf die Lippe. Luzifer setzte sich ungerührt in Bewegung, um hinter Cedric herzugehen. Ich stellte mich vor die Türe und breitete die Arme aus.

„Tu das nicht“, sagte ich leise. Luzifer lachte. „Du willst mir drohen? Hüte besser deine Zunge, Azrael. Sonst ... reiße ich sie dir hinaus.“ Er grinste dämonisch und kam näher. Ich stürzte mich ihm entgegen. Natürlich hatte ich gegen Luzifer nicht einmal den Hauch einer Chance. Er überragte mich um fast zwei Köpfe und war auch sonst viel stärker. Aber vielleicht konnte ich ihn ein wenig aufhalten. Luzifer packte mich sichtlich unbeeindruckt am Kragen und schleuderte mich beiseite. Ich stolperte unglücklich und knallte mit der Stirn gegen die Tischkante. Stöhnend wälzte ich mich am Boden. Als ich mir zwischen die Augen fasste, spürte ich klebriges Blut meine Stirn hinunterlaufen. Kopfschmerzen betäubten mich für einen Augenblick. Aber ich musste aufstehen und Luzifer hinterher. Also kämpfte ich mich hoch und stürzte aus dem Haus hinaus. Ich sah ihn eben mit langen, ausgreifenden Schritten den Platz zwischen Haus und Kirche überqueren.
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Sein langer schwarzer Mantel wehte hinter ihm her, ebenso sein Haar. Die Hand gegen den Kopf gedrückte rannte ich schwankend hinterdrein.

Luzifer öffnete die Seitentüre zur Kirche und verschwand im Inneren. Keuchend zwang ich meine Beine schneller zu laufen. Die Benommenheit in meinem Kopf wollte nicht weichen, alles drehte sich um mich. Ich blinzelte, damit mir das Blut aus der Platzwunde nicht in die Augen lief. Schließlich trat auch ich durch die offene Türe. Wo waren sie? Fast panisch schweifte mein Blick durch die Kirche. Ich entdeckte Cedric vor dem Altar stehend, er wandte Luzifer den Rücken zu und betete ganz offensichtlich, ich konnte seine Stimme hören. Luzifer selbst stand wenige Meter von ihm entfernt. Verbissen ging ich weiter.

„Das Beten wird dir nichts nützen, Priester. Gott schickt dir keinen Engel, um dich zu retten.“ Spott war deutlich aus seiner Stimme zu vernehmen. Cedric fuhr herum. Wieder war er geschockt. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass Luzifer seine Kirche betreten konnte.

„Warum sollte er das nicht tun?“, fragte er mit zitternder, bebender Stimme, dennoch mit wütendem Funkeln in den Augen. Luzifer lachte wieder amüsiert. „Weil ihn dein Schicksal nicht interessiert, Priester. Selbst wenn du ihm dienst. Wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich doch an Azrael.“

Luzifer blickte feixend nach hinten, wo ich zwischen den Bänken nach vorne wankte. Cedric sah mir in die Augen und ganz offensichtliche Besorgnis mischte sich in seinen Blick. Er drückte sich gegen den Altar.

„Luzifer ... Luzifer, lass ihn zufrieden.“ Meine Stimme klang brüchig und nicht sehr laut.

„Nein, Azrael. Ich werde dich an deine Pflichten erinnern. Du gehörst in die Hölle.“

Er sprach zu mir, ohne den Blick von Cedric zu nehmen, den er wie eine Raubkatze belauerte. „Lass Cedric da raus! Lass ihn!“. Dieses Mal brüllte ich so sehr, das mein Hals schmerzte und meine linke Seite zu brennen begann. Die Kopfschmerzen machten mich beinahe wahnsinnig.

Hoffnungslosigkeit strömte plötzlich kalt wie Eiswasser in meinen Verstand. Ich begriff, dass ich Luzifer nichts entgegensetzen konnte. Rein gar nichts. Auch mein Widerstand würde Cedric nicht retten können.
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Und das alles nur, weil ich ihn nicht hatte verlassen wollen. Meine Knie gaben nach und ich sank zu Boden, wenige Meter von Luzifer entfernt. Tränen der Verzweiflungen liefen aus meinen Augenwinkeln und tropften auf den Marmorboden unter mir. Warum. Luzifer wollte mir das Einzigste nehmen, was in meinem Leben überhaupt Bedeutung hatte. Hätte er mich getötet, es wäre mir egal gewesen. Aber anstatt meiner wollte er Cedric umbringen, der es doch am wenigsten verdient hatte. Es schmerzte. Mein Schluchzen hallte in der leeren Kirche wider. Mit toten, leblosen Augen sah die Statue der Maria auf mich herab. Auch Luzifer sah mich an, sein Blick brannte beinahe schmerzhaft auf meiner Haut. Sollte er mich ansehen. Sollte er meine Schwäche, meine Tränen sehen. Ich schämte mich ihrer nicht länger.

„Der Teufel ist grausamer, als die Menschen es sich erzählen“, raunte Cedric vom Altar aus. „Noch viel, viel grausamer. Du bist eine Schande für alle Engel.“

Obwohl seine Stimme vor Angst bebte, sprach er klar und deutlich. Ich konnte ihn nicht ansehen. Halb erwartete ich, Luzifer wieder lachen zu hören, doch er blieb stumm. Ich nahm die Hände von meinem Gesicht. Sie waren bedeckt von meinem Blut und meinen Tränen.

„Du stirbst jetzt, Priester. Freu dich doch, dann bist du endlich bei deinem Gott.“ Luzifer spuckte das Wort beinahe aus. Cedric schien aufzugeben. Seine Schultern sanken nach unten und seine blauen Augen wurden glasig. Doch bevor Luzifer weiter auf ihn zugehen konnte, stürzte ich vor ihm auf die Knie und verkrallte die Hände in seinen langen Mantel. Er war gezwungen, stehen zu bleiben.



„Hör mich an, Luzifer“, hauchte ich mit tränenerstickter Stimme. Über meine zitternden Lippen kamen Worte, über die ich nicht nachdachte. Ich ließ sie einfach heraus. „Höre mich nur dieses eine Mal an. Ich stand immer auf deiner Seite, immer. Ich diente dir mit Leib und Seele und habe nie ein schlechtes Wort über dich verloren, so wie die anderes es taten. Ich erledigte alles, was du von mir verlangtest. Und ich liebte dich. Ich liebte dich so sehr, wie mein Herz dazu in der Lage war. All die langen Jahre. Niemals habe ich dich um einen Gefallen gebeten oder dich gar angefleht. Aber jetzt flehe ich. Lass Cedric leben. Gewähre ihm Gnade. Das ist mein einzigster Wunsch.
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Ich flehe dich an.“

Meine Tränen benetzten seinen Mantel.

„Warum ... warum sollte ich das tun, Azrael. Nenne mir einen Grund.“ Ich holte tief Luft und sah nach oben, direkt in seine graublauen Augen.

„Weil ich ihn liebe! Ich liebe ihn!“ Ich schrie es hinaus. Dann brach meine Stimme ein, meine Hände rutschten von seinem Mantel ab. Nachdem das Echo verklungen war, kehrte vollkommene Stille in die Kirche ein. Nur meine eigenen, keuchenden Atemzüge konnte ich hören. Cedric auch nur anzusehen, wagte ich nicht. Obwohl ich ihn in diesem Augenblick gerne in die Arme geschlossen hätte. Mein Tränenfluss versiegte.

„Steh auf“, befahl Luzifer mir, und ich tat sofort, was er sagte, aus reinem Reflex heraus. In seinem Gesicht konnte ich nicht lesen, ich wusste nicht, was er dachte oder vorhatte. Luzifer war wie immer undurchsichtig.

„Ich mache euch jetzt ein Angebot, und überlegt es euch gut. Wenn der Priester seinem Glauben entsagt und mir das Buch übergibt, dann darf er mit dir zusammen in die Hölle zurückkehren. Und wenn er es nicht tut, dann werde ich ihn einfach so töten, denn Azrael, ich weiß ganz genau, dass du ihn ohnehin nicht vergessen kannst, wenn er einfach weiter lebt.“

Ich starrte Luzifer an, als würde er plötzlich in einer mir unbekannten Fremdsprache sprechen. Was ... ? Seine Worte gaben doch keinen Sinn. Doch ein Blick in seine Augen verriet mir, dass er sich mehr als nur sicher war. Warum um alles in der Welt sollte Cedric in die Hölle wollen? Natürlich, alleine der Gedanke daran, dass er mit mir gehen würde, bereitete mir schwache Knie vor Glück. Aber ...

Ich hörte Cedric ein schnaubendes Lachen von sich geben. „Warum sollte ich bitte freiwillig in der Hölle leben wollen?“

Es tat überraschend weh. Mein Herz verkrampfte sich in der Brust. Unwillkürlich sah ich ihn an. Cedric schien zu bemerken, was dieser Satz mir bedeutete, und sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Scham und Unsicherheit. Auch Luzifers Augen pendelten zu mir hinüber. Ich versuchte mit mäßigen Erfolg möglichst ungerührt zu erscheinen. „Azrael ... ich meine -“, wollte Cedric weitersprechen, doch Luzifer ließ ihn nicht.

„Nun ja. Vermisst du deinen Bruder nicht? Wie lange habt ihr euch nun nicht mehr gesehen? Sechs Jahre, nicht wahr? Ist eine ganz schön lange Zeit für ein Menschenleben.
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“ Cedrics Mund klappte auf. Auf der Stelle wirkte er unheimlich verletzte. „Was ... wieso ...?“

„Selbstmord. Todsünde. Er ist jetzt in der guten Hölle zuhause.“ Luzifer war wieder in seinen seltsamen, trügerischen Plauderton verfallen. „Azrael schreibt bei uns für Gewöhnlich die Namen derjenigen, die bei uns landen, fein säuberlich auf. Irgendwo steht auch der Name deines Bruders John. Du könntest ihn wiedersehen. Du könntest ihn wieder bei dir haben. Und Azrael obendrein. Na, wie klingt das? Fast wie ein Packt.“ Er lachte äußerst amüsiert auf. „Dein Glauben für mich, und du hast deinen Bruder wieder. Deine Seele kannst du sogar behalten, keine Angst. Ist das nicht äußerst großzügig von mir?“ Mir verschlug es schlicht den Atem, und Cedric schien es nicht anders zu ergehen. Und auf einmal schien der Mann sich seiner Sache nicht mehr so sicher zu sein. Die Zweifel und seine Entzweigerissenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es war ein elender Anblick, der mir einen weiteren Stich versetzte. Und gleichzeitig, gleichzeitig empfand ich eine so tiefe Dankbarkeit gegenüber Luzifer, dass ich ihm mehrere Sekunden ins Gesicht starrte und Worte zu finden versuchte. Luzifer nahm es ungerührt hin. „Eine Entscheidung sollte nicht überstürzt getroffen werden, deshalb gewähre ich dir einen Tag Bedenkzeit, Priester. Morgen komme ich zurück.“

Luzifer drehte sich um und ging. Kurz bevor er die Türe erreichte hatte, blieb er nochmals stehen und sah über die Schulter.

„Übrigens, falls du dich für die Hölle entscheiden solltest: Es ist notwenig, zumindest eine Sünde begangen zu haben. Wähle die, die dir am nächsten liegt.“ Seine Augen streiften mich für wenige Sekunden. „Wir nehmen schließlich auch nicht jeden.“ Dann ging er und die Türe schlug hinter ihm zu.

Ich schluckte hart. Einen Tag Zeit für die bedeutendste Entscheidung seines Lebens. Es klang wenig, doch ich war überzeugt, dass auch ein Monat Bedenkzeit nichts an der Schwerer dieser Entscheidung ändern würde. Nun lag es alleine bei Cedric, was er tun wollte. Alles in mir schrie danach, ihn anzuflehen, mit mir zu gehen. Doch das würde ich niemals tun.
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Kein einzigstes Wort, was seine Entscheidung betraf, würde ich sprechen.

Meine Ohren vernahmen Schritte hinter mir. Noch immer wandte ich Cedric den Rücken zu und betrachtete die entfernt liegende Holztüre.

Arme legten sich von hinten über meine Schultern und kreuzten sich über meiner Brust. Sofort sanken meine Augenlider halb hinab. Ich konnte Cedrics warmen Körper dicht an meinem Rücken spüren, seinen Atem in meinem Nacken. Ich hob den Arm und berührte zärtlich seine zitternde Hand. War es Verzweiflung, die ihn dazu antrieb, mich zu umarmen? Suchte er Trost? Nähe? Egal was es war, ich wollte es ihm geben. Oh, wie ich ihn liebte. Langsam lehnte ich mich nach hinten und vertraute ihm ein wenig meines Gewichtes an. Sein Schluchzen hallte durch die Kirche und berührte mein schmerzendes Herz.





7. My Prayer





Wenn in meinem Inneren nicht so eine beißende Unruhe geherrscht hätte, dann wäre ich sicher vom monotonen Ticken der Standuhr eingelullt worden. Ein Gähnen konnte ich mir trotz allem nicht verkneifen, auch wenn ich danach schuldbewusst die Hand auf den Mund drückte. Wie lange saß ich schon hier? Fünf Stunden? Sechs Stunden? Vielleicht sogar länger. Meine normalerweise recht ausgeprägt Geduld schwand mit jeder Minute mehr. Der Tag zog sich zäh dahin. Die Tatsache, dass ich rein gar nichts an all dem würde ändern können, war das Schlimmste an der ganze Sache. Ich war dazu verdammt, die Hände in den Schoß zu legen. Meinen Teil hatte ich schon in der Kirche erledigt, indem ich Luzifer entgegen getreten war.

Die Stille des Zimmer machte mich beinahe wahnsinnig. Nachdenklich tasteten meine Finger über das Pflaster auf meiner Stirn. Die Wunde tat noch immer etwas weh. Nachdem Cedric sie versorgt hatte, war er gegangen und hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Und seither hatte ich ihn weder gesehen, noch einen Ton von ihm gehört. Natürlich hatte ich Verständnis dafür, schließlich wollte er noch einmal in aller Ruhe nachdenken. Dennoch. Ich wog zum tausendsten Male ab, ob ich Cedric nicht noch mehr von der Hölle erzählen sollte, um ihm die Angst zu nehmen. Aber dann hätte ich ihn beeinflusst und es sollte ganz allein sein Wille sein, der über sein weiteres Schicksal bestimme.
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Und wenn er sich nun gegen John und mich entschied? Wenn ihm sein Glauben wichtiger war? Erneut betroffen über diesen Gedanken senkte ich den Blick. Wie würde ich nach der Zeit mit ihm weiterleben können? Meine Finger verließen das Pflaster auf meiner Stirn und legten sich stattdessen auf meine Lippen. Zögerlich erhob ich mich und stand noch einige Sekunden unschlüssig im Zimmer. Als ich mich in Bewegung setzte, redete ich mir ein, nur einmal nachzusehen, ob mit Cedric alles in Ordnung war. Je näher ich der Tür zu seinem Arbeitszimmer kam, desto schneller wurde mein Gang. Schließlich stand ich vor ihr. Zaghaft klopfte ich mit den Fingerknöcheln gegen das Holz und wartete. Nichts. Ich lauschte mit schiefgelegtem Kopf. Klopfte dann zum zweiten Mal. „Cedric?“

„Ja?“ Wie aus weiter Ferne und gedämpft drang seine Stimme schließlich an meine Ohren. „Ich komme jetzt herein.“ Ohne auf eine weitere Antworte zu warten, drückte ich die Klinke hinab. Glücklicherweise hatte er nicht abgeschlossen. Ohne Umschweife trat ich in das Arbeitszimmer und schaute den Braunhaarigen prüfend an.

Cedric sah mich mit dem verhangenen Blick eines Schlafwandlers an. Auf seiner Nase saß die kleine, randlose Lesebrille. Er blinzelte mich verwundert an und schien erst jetzt zu bemerken, dass ich wirklich im Zimmer stand. Ich kam langsam näher. Vor Cedric auf dem Schreibtisch lag aufgeschlagen ein dickes Buch. Ich hob die Augenbrauen.

„Was ist?“, fragte er. Ich räusperte mich „Du warst so lange hier drinnen. Ich habe mir Sorgen gemacht. Was liest du denn da?“

Die Tatsache, dass er anscheinend die ganze Zeit über in einem Buch gelesen hatte, befremdete mich ein wenig. In einem Buch standen die Antworten, die er suchte, sicherlich nicht. Cedric sollte auf sein Herz hören. Ich trat hinter ihn und überflog ein paar Zeilen. Mein Gesichtsausdruck wurde starr und meine Augen verengten sich unwillkürlich. Ich griff an Cedric vorbei und schlug das Buch mit einem lauten Knall zu.

„Was soll denn das?“, fragte er überrascht und ein wenig ungehalten.

„Du liest die Bibel? Wieso um alles in der Welt ließt du jetzt die Bibel? Bist du irgendwie nicht ganz bei dir?“ Mein Tonfall klang überraschend scharf, ohne, dass ich dagegen etwas unternehmen konnte.
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Cedric Gesicht nahm einen Hauch von Wut an. „Wieso sollte ich nicht?“, entgegnete er mir. „Weil da drin größtenteils nur Schund geschrieben steht!“ Ich funkelte ihn an. Er wirkte verblüfft, fing sich jedoch sofort wieder. Seine Hände verkrampften sich um die Stuhllehnen. Ein Funkeln trat in seine sonst so ruhigen Augen.

„Das ist mein Ernst, Cedric. Die Bibel ist Schwachsinn in meinen Augen. Sie wird dir bei der Entscheidung kein bisschen helfen. Du solltest sie gleich in den Müll werfen.“

Jetzt war er wirklich wütend, ich sah es ihm an. Mein Gesicht verfinsterte sich weiter. Cedric wollte etwas sagen, doch ich lies ihn gar nicht erst anfangen.



„Eigentlich wollte ich mich zurückhalten, was diese Dinge angeht, aber jetzt wird es wohl Zeit, dass ich den Mund aufmache. Gott ist kein bisschen so, wie du denkst. Die Engel ebenso wenig. Hast du es nicht bemerkt? Als du in der Kirche gebetet hast, hat Gott dir da Hilfe geschickt? Hat er auch nur im Ansatz etwas unternommen, um dich vor dem Teufel zu schützen?“ Meine Hände hatten sich zu Fäusten geballt.

„Du kennst die Antwort doch, Cedric! Wach endlich auf und lass von diesem Irrglauben ab! Es war nur eine Illusion! Gott ist ebenso hart und unbarmherzig wie Luzifer, auch wenn du das nicht hören willst! Nicht ist so, wie du es glaubst!“

Ich schlug mit der Rechten einmal heftig auf den Schreibtisch. Mein Atem ging keuchend. „Azrael, bist du übergeschnappt? Was soll das?“, fuhr er mich zornfunkelnd an. Ich grinste nur. Cedric musste nun den Tatsachen ins Auge blicken, auch wenn er sich mit Händen und Füßen wehrte. „Ich kann wenigstens klar sehen. Denkst du etwa, im Himmel damals ging es mir sonderlich besser? Die Umstände mögen anders gewesen sein, waren von Glück und Zufriedenheit jedoch meilenwert entfernt! In der Hölle kann ich meinen freien Willen wenigstens nutzen! Und du könntest das auch!“ Immer weiter steigerte ich mich in unser Gespräch hinein und meine Stimme wurde entsprechend energischer. Manchmal konnte ich wirklich ein echtes Ekel sein. „Luzifer ist uns ein guter Anführer! Er verdient seine Anhänger! Er verdient Treue und Loyalität! Ich bereue kein einziges Jahr, dass ich in seinem Dienste verbrachte! Und soll ich dir einmal etwas über Raphael und Michael erzählen?“

Ich starrte ihn an, wie er in seinem schwarzen Priestergewand dasaß, das goldene Kreuz um den Hals und aus seinen Augen leuchtete eine Unschuld, die ich niemals besessen hatte.
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Es tat mir leid, dass ich sie ihm nehmen musste, doch ich sah es als meine Pflicht an, gerade weil er mir so viel bedeutete.

„Raphael und Michael statten Luzifer bisweilen Besuche ab. Gerade Michael legt Wert auf diese Besuche. Er hatte immer eine ganz besondere Beziehung zu Luzifer. Na, wie klingt das? Der heilige Michael besucht Luzifer freiwillig. Und sie bringen sich ganz und gar nicht gegenseitig um!“ Ich brach ab und musste einmal tief einatmen. Wut loderte noch immer in meinem Magen, nicht nur auf Cedric, sondern einfach wegen der allgemeinen Situation. Und irgendwie schämte ich mich tief in meinem Inneren dafür.

„Mir reicht es!“, rief Cedric und erhob sich, der Stuhl rutschte kratzend über den Dielenboden nach hinten. „Erzähl doch weiter deine Lügen!“ Heftig schob er mich beiseite und eilte an mir vorbei aus dem Zimmer. Lügen! Mit heftig pochendem Herzen sah ich ihm nach und biss die Zähne aufeinander. Warum war er so stur? Und warum wollte ich ihm das alles unbedingt erzählen? Ich ging Cedric nach und sah ihn die Treppe hinauflaufen. „Bleib doch stehen!“, rief ich laut. Er ignorierte mich ganz offensichtlich. Ich nahm zwei Stufe auf einmal und fiel dabei kurz auf die Knie, als ich stolperte. Die Haare hingen mir vor den Augen. Eilig sprang ich auf. Cedric machte Anstalten, in seinem Zimmer zu verschwinden. Bevor er seine Türe allerdings vollständig hinter sich schließen konnte, drückte ich mit der Schulter dagegen. „Azrael! Los, verschwinde!“, raunzte er mich durch den Türspalt an. Ich blinzelte und drückte nur noch fester dagegen.

„Nein! Lass mich rein! Wir werden das Gespräch beenden!“ „Das Gespräch ist bereits beendet“, meinte er starrsinnig und versuchte weiterhin, die Türe zu schließen. Er wollte es einfach nicht wahrhaben. Wahrscheinlich war es zu schmerzhaft für ihn, zu erkennen, dass sich sein Glauben als Illusion entpuppte. Und ich alleine war daran Schuld. Ich war an allem Schuld. Während ich gegen die Türe drückte, fühlte ich mich erneut tieftraurig. Als Cedric ganz plötzlich losließ, fiel ich buchstäblich ins Zimmer hinein.
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Gerade noch rechtzeitig fand ich mein Gleichgewicht wieder. Cedric setzte sich mit dem Rücken zu mir auf sein Bett. Ich starrte ihn an und schnaubte. „Benimm dich doch nicht so kindisch, ich bitte dich! Warum willst du die Wahrheit leugnen? Wie kannst du mir unterstellen, ich würde lügen? Was hätte ich davon? Ich möchte nur, dass du weißt, was die Wirklichkeit ist, Cedric.“ Ich wartete, ob er antworten würde, doch er blieb stumm und schien wie ein Kind zu schmollen. Ein hartes Lachen drang aus meinem Mund. Ich setzte mich ebenfalls auf das Bett und beugte mich zu ihm hinüber. „Sieh mich wenigstens an, wenn ich mit dir spreche“, verlangte ich und berührte seinen Arm. Er entzog sich meiner Berührung mit einem Schulterzucken. Das schmerzte mich. Verzagt ließ ich die Hand sinken. „Dann tu doch was du willst! Glaube weiter an den unfehlbaren, gütigen Gott und lass dich morgen von Luzifer töten! Lass John und mich einfach im Stich!“ Wut und Enttäuschung machten meine Stimme seltsam rau. Cedric drehte sich zu mir um. Seine tiefblauen Augen schlugen mir entgegen. Was ich für Trotz gehalten hatte, stellte sich als Verzweiflung heraus. Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln. Sofort war aller Ärger aus mir verschwunden. Ehe ich mir dessen wirklich bewusst war, hatte ich eine Hand auf seine Wange gelegt und meine Lippen auf seine gedrückt. Und er erwiderte. Wie ein Ertrinkender krallte er sich an meiner Schulter fest. Sofort legte ich einen Arm um seinen Nacken.



Es war anders, als bei unserem ersten Kuss. Gleich mehrere Gefühle durchströmtem mich dieses Mal: Überraschung, Glück, Leidenschaft, aber auch Angst. Angst vor allem, was kommen würde. Aber da dieser Kuss auch von Cedric ausging, herrschten meine weichen Knie und mein rasender Puls vor. Sanft drang ich mit der Zunge in seinen Mund vor. Hitze legte sich auf meine Wangen. Es war wunderschön, trotz oder gerade wegen der Umstände. Unser dummer Streit war wie fortgewischt. Ich fühlte Cedrics Finger durch meine Haare streichen. Seine freie Hand lag auf meiner Hüfte. Es kam mir vor wie ein Traum. Nach Stunden, so schien es mir, lösten wir uns voneinander. Ich keuchte und fühlte meinerseits Cedrics Atem wie eine warme Brise auf meinen Lippen. Ich wollte ihn nicht loslassen, dieses Mal nicht. Cedric schien wieder eine leichte Unsicherheit zu überkommen, als er meinen Gesichtsausdruck studierte.
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Ich konnte mir schon denken, dass sich meine Augen vor Verlangen verdunkelt hatten. Aber auch er wich nicht zurück. Dieses Mal nicht. In mich hineinlächelnd sah ich die Röte in seinem Gesicht. Tief in mir spürte ich, dass er heute Nacht bei mir bleiben würde, wenn ich es wollte. Es erschien mir völlig logisch. Vorsichtig nahm ich ihm die Brille von der Nase, legte sie achtlos auf den Nachttisch. Wir küssten uns wieder. Länger, intensiver, weniger zurückhaltend. Ich berührte seine weichen, hellen Haare, strich sie ihm hinter die Ohren. Innerhalb weniger Augenblicke strömte die Wärme in meinen gesamten Körper und füllte mich aus. Meine Atemzüge wurden leicht unkontrolliert. Eine tiefe Freunde erfasste mich, als ich Cedric einen leisen Laut des Wohlgefallens in meinen Mund keuchen hörte. Noch schien er es zu genießen. Als wir uns erneut kurzzeitig von einander lösten, kam er freiwillig näher zu mir heran. Fest zog er mich in seine Arme und drückte mich. Auch seine Atmung war nicht gleichmäßig. So dicht an ihn gepresst erfassten mich sanfter Schwindel. Er drückte den Mund an mein Ohr. „Du bist rein“, hauchte er. „Du bist mein Engel. An dir ist nichts Verdorbenes.“

Seine Worte ließen mich erschauern und ich erwiderte seine Umarmung bebend, die Augen geschlossenen. Sprechen konnte ich nicht. Mit sanfter Gewalt drückte ich ihn in die weichen Kissen seines Bettes hinein und beugte mich zu ihm herab. Zum ersten Male berührte ich ihn, ließ die Hand vom Hals abwärts mit leichten Druck über Brust und Bauch fahren. Er trug noch immer sein leichtes Gewand, aber das machte mir in diesem Augenblick nichts aus. Unter dem Stoff fühlte ich seinen Körper. Cedric Blick folgte mir bei jeder Bewegung, die ich tat, auch wenn seine Augen halb geschlossen waren. Ein sanftes Lächeln spielte um meine Mundwinkel, und ich sah den Priester es erwidern. Ich senkte den Kopf um erneut von der Weichheit seiner Lippen betört zu werden. Dabei ließ ich mich behutsam auf ihn sinken und stützt mich auf die Ellenbogen. Ich würde nichts überstürzten. Wir hatte Zeit – zumindest heute Nacht hatten wir alle Zeit der Welt und das würde ich auskosten, von der ersten Sekunde an bis zu letzten.



*



Langsam trottete ich den Hausflur entlang und betrat die Küche.
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Mein Verstand dämmerte noch im Halbschlaf vor sich her. Mit den Händen versuchte ich, mir die Müdigkeit aus den Augen zu reiben und hatte dabei nur mäßigen Erfolg. Ein flüchtiger Blick aus dem Küchenfenster zeigte mir die noch recht düsteren Farben der Morgendämmerung. Ich gähnte. Frühes Aufstehen gehörte seit jeher zu meinem Leben, was nicht bedeuten sollte, dass ich es gerne tat. Mit den Finger strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und band es nachlässig zusammen. Meine Laune war recht getrübt und meine Nerven lagen schon jetzt fast blank. Ich schluckte. Wie jeden Morgen griff ich nach der Schachtel, die auf Cedrics Küchenablage stand. Die Menschen nannten so etwas „Korn-Fleyks“. Ich hatte ziemlichen Gefallen daran gefunden, das musste ich zugeben. Ich schüttete etwas davon mit Milch in eine Schüssel und fragte mich im selben Augenblick, ob ich es denn überhaupt fertig bringen würde, zu essen. Nachdenklich starrte ich nach unten und entschied mich dafür. Nachher sollte ich Cedric wecken gehen. Schließlich hatten wir beide keine Ahnung, wann Luzifer hier auftauchen würde. Beim Gedanken an Cedrics bevorstehende Entscheidung krampfte sich mit Magen erneut zusammen. Zögerlich schob ich mir einen Löffel in den Mund. Hinter mir ertönte ich dezentes Räuspern. Noch immer verschlafen drehte ich mich langsam um. Anscheinend war Cedric schon aufgewacht.

„Guten Morgen“, nuschelte ich liebevoll und erstickte kurz darauf fast an meinen Korn-Fleyks. Meine Augen wurden groß, ich hustete krampfhaft. Luzifer stand in der Türe und feixte mich an. Jetzt erst erkannte ich ihn wirklich und prallte daraufhin erschrocken nach hinten gegen die Küchentheke. Er lehnte sich lässig an den Türrahmen und wirkte gelinde interessiert. „Dir auch einen guten Morgen, mein Lieber“, schnurrte er mit seiner dunklen Stimme.

„Luzifer?! So – so früh? Ich meine –“

Hilflos brach ich ab und hustete noch einmal. Meine Wangen erhitzten sich vor Verlegenheit und Schreck. „Nun, Morgenstund hat Gold im Mund, und außerdem sagte ich doch einen Tag, und nicht etwa anderthalb, oder?“ Er zog fragend die Augenbrauen nach oben und verlieh seinem Gesicht so eine strenge Würde.
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Ich nickte fahrig. „Natürlich“, murmelte ich nur. Eine kurze Stille trat ein und ich fühlte mich unwohl unter seinem Blick, obwohl dieser lediglich abwartend und ruhig war. „Nun?“

Ich sah Luzifer wieder an. Er machte eine kurze Geste mit der Hand.

„Ich werde Cedric holen.“ Er antwortete mir lediglich mit einem Nicken. Als ich dicht an ihm vorbei ging, hielt er mich plötzlich am Handgelenk fest. Ich sah leicht widerwillig nach oben. Was hätte ich früher alles dafür gegeben, um einmal so dicht bei ihm stehen zu können? Und selbst jetzt noch beschleunigte sich mein Herzschlag.

„Ach, und Azrael, zieh deine Uniform an. Diese Menschenkleidung steht dir nicht sonderlich.“ Seine Stimme klang erschreckend normal und fast gänzlich ohne Spott. Trotzdem war ich mir nicht ganz sicher, ob er mich nun auf den Arm nahm, oder nicht. Er ließ mein Handgelenk los und ich stieg wortlos die Treppe hinauf. Seltsamerweise war ich äußerlich ganz ruhig, obwohl ich mich innerlich hundeelend fühlte. Cedric wirkte extrem abwesend, als ich ihn schließlich geweckt hatte. Ein paar Minuten später liefen wir zusammen die Treppe herab. Ich trug meine Uniform.

Luzifer saß mittlerweile in einem Sessel im Wohnzimmer. Den Kopf auf den Arm gestützt und die Beine übereinander geschlagen sah er mir und Cedric entgegen. Seine Augen funkelten und ein seltsames, dünnes Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Da ist ja unser Priester.“ Er erhob sich gemächlich und sein schwarzer Mantel fiel an ihm herab. Seidig glänzende, blau-schwarze Haarsträhnen lagen auf seinen Schultern. Cedrics Augen nahmen erneut einen zutiefst misstrauischen Ausdruck an. „Dieses Mal aber bitte keine Kruzifixe oder spontane Gebetseinlagen, ja? Meine Zeit ist knapp bemessen.“ Er lächelte ein wenig süffisant und trat zu uns.



Cedric sah aus, als wollte er sofort zwei Schritte zurückweichen, doch er blieb starr auf der Stelle stehen. Mein Blick pendelte zwischen ihnen hin und her. Aufregung und Unruhe konnte ich nicht länger verbergen. Fahrig verschränkte ich die Arme vor der Brust. Es war wohl einer der wichtigsten Augenblicke in meinem Leben, der sich hier gerade abspielte, und ich fühlte mich hilflos. Wieder war ich nur Zuschauer und konnte nichts tun, außer zu warten.
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Sie standen sich gegenüber und blickten sich lange an. Ich war überrascht, wie lange Cedric Luzifers Blick standhalten konnte, bevor er schließlich zu Boden sah. Ich selbst stand an Cedrics Seite, um anzudeuten, dass sich meine Meinung nicht geändert hatte. Doch wäre ich am liebsten erneut zwischen sie gesprungen. Oder hätte zumindest gerne Körperkontakt mit Cedric gehabt. Aber ich rührte mich nicht. Versuchte die Kälte und die leise Furcht, die sich in mir eingenistet hatte, zu verdrängen.

„Also, Cedric, was ist nun?“, fragte Luzifer gedehnt und sprach damit zum ersten Mal den Namen des Priesters aus.

„Die Zeit des Nachdenkens ist endgültig vorbei. Entscheide dich nun für die eine, oder die andere Möglichkeit.“ Wieder glitt dieses dämonische Lächeln über seine Lippen. Er wirkte, als wäre er sich seiner Sache sehr sicher. Plötzlich drehte Cedric den Kopf und sah mich an. Ich zuckte ein wenig zusammen, suchte jedoch sofort den Blickkontakt. Der ungestüme Drang, ihn zu umarmen, ließ sich nur mühsam unterdrücken. Ich wollte lächeln, doch da ich spürte, wie falsch und aufgesetzt es wirkte, ließ ich es wieder sein. Meine Lippen zitterten. Cedric legte die Hand auf meine Wange. Diese federleichte, zarte Berührung ließ mich erschaudern.

„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich tue, aber ich werde mitkommen. Ich werde in die Hölle gehen, weil ich es John schuldig bin. Und Azrael auch. Er hat mich so verändert, wie niemand sonst auf dieser Welt. Ich ... ich brauche ihn und John. Deshalb entsage ich hiermit meinem Glauben.“

Ich wollte auf der Stelle sterben für Glück und Seligkeit. Cedric ließ von mir ab und sah Luzifer erneut in die Augen. Heftig drückte ich mir den Handrücken auf den Mund, um nicht in Tränen auszubrechen. Konnte es etwas Schöneres geben, als die Liebe und Wärme, die mich wie heiße Wellen durchfuhren? Luzifers Lächeln wurde breiter. Er gluckste kurz, wurde dann wieder ernst.

„Gut. Und wo ist das Buch?“

„Buch?“ Cedric warf mir einen verwirrten, hilflosen Blick zu und wurde leicht nervös. Ich half ihm aus, indem ich ihm hastig eine Beschreibung von Inhalt und Aussehen lieferte. Der Priester dachte kurz angestrengt nach. Dann nahm sein Gesicht einen erleichterteren Ausdruck an.
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„Ah, das Buch ist hier im Schrank.“ Cedric deutete mit der Hand nach links. Seine Finger bebten dabei. „Ich werde es holen-“

„Ah, nein, nicht nötig, ich mache das nachher selbst. Beenden wir erst unsere Abmachung.“

Luzifer streckte Cedric auffordernd die linke Hand hinüber. Der Mann betrachtete sie einige Sekunden reglos und misstrauisch, bevor er sie zaghaft ergriff.

Mit einem einzigen Ruck zog Luzifer Cedric heftig zu sich heran. Meine Augen weiteten sich sofort und ich gab ein Keuchen von mir. Wie gelähmt beobachtete ich die folgenden Szenen. Luzifer packte Cedrics Kopf mit beiden Händen und er brach ihm mit einer einzigen, pfeilschnellen Bewegung das Genick. Das Knacken hallte in meinem benebelten Verstand ohrenbetäubend laut wieder, eben so das dumpfe Geräusch, mit dem Cedrics Körper zu Boden fiel. Ich begann zu schreien. Hysterisch rannte ich auf Luzifer zu und sank neben Cedric auf die Knie. Er war tot. Seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren und blickten starr durch mich hindurch. Während ich seinen Oberkörper in meinen Schoss zog und ihn umklammert hielt, wurde mein Schreien zu einem entsetzten Stöhnen. Warme Tränen liefen über meine Wangen. Ich konnte nicht mehr richtig atmen und schwarze Flecken tanzten in meinem Blickfeld.

„Luzifer! Was habt Ihr getan? Was habt Ihr getan? Warum? Ihr habt ihn einfach so umgebracht!“

Meine schrille Stimme brach ein und ich schluchzte krampfhaft. Ich konnte es einfach nicht nachvollziehen. Eben noch hatte Cedric mich angesehen, seine Augen waren voller Licht gewesen und seine Worte voller Wärme. Und nun lag er vor mir, nur noch eine leere Hülle. Mein Herz verkrampfte sich. Voller Zorn und Schmerz sah Luzifer an, der über mir stand und ungerührt auf uns hinab sah. Er zog die feinen Augenbrauen zusammen und reagierte nahezu genervt auf meine Worte und Tränen. Langsam schüttelte er den Kopf.

„Azrael! Die Liebe hat anscheinen auch dein letztes bisschen Intelligenz vertrieben. Hör auf zu heulen! Sofort!“

Die eisige Kälte in seiner Stimme ließ mich langsam verstummen. Ich starrte in Cedrics Gesicht.

„Kein lebender Mensch kann die Hölle betreten, das solltest du doch wissen. Er musste davor sterben.“

Der Schock klang langsam ab.
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Ich musste tief durchatmen. Dennoch bebte mein gesamter Körper noch immer. „Aber Luzifer! Was ist, wenn er jetzt in den Himmel kommt? Dann habe ich ihn für immer verloren!“ Ich drückte Cedrics schlaffen Kopf an meine Brust. Strich sachte durch seine Haare. Diese Vorstellung war einfach grauenhaft. Ich hörte Luzifer lachen. Dieser Laut sorgte dafür, dass mein Blick verwirrt von Cedrics Leiche zu ihm glitt. Fragend, mit tränenfeuchten Wangen, sah ich Luzifer an, der die behandschuhten Hände in die Taille gestemmt hatte.

„Azrael, Azrael. Er kommt nicht in den Himmel. Ihr habt es doch getrieben.“

Völlig Schamlos sprach er diese Worte aus und ließ ein Grinsen folgen. Ich erstarrte. Sofort erhitzten sich meine Wangen und vor Verlegenheit brachte ich keinen einzigsten Ton hinaus. Ja, ich hatte in der vergangenen Nacht mit Cedric geschlafen. Flüchtige Bilder dieses Erlebnisses wehten durch meinen Verstand. So wundervoll. Es war so wundervoll gewesen. Schluckend befreite ich mich aus dem Netz meiner Erinnerung. „Woher ... wisst Ihr?“

Vollkommen unbewusst sprach ich Luzifer wieder so respektvoll an, wie ich es in der Hölle stets getan hatte. Es fühlte sich richtiger an. Im nachhinein fragte ich mich auch, wie ich mich zuvor hatte erdreisten können, ihn einfach „Du“ zu nennen. Wahrscheinlich war meine Aufregung daran Schuld gewesen.

Luzifer zog amüsiert die Augenbrauen nach oben. „Wenn du wüsstest, was ich alles weiß ... “ Er zuckte die Schultern. Doch seine Worte hatten mir endlich Beruhigung geschenkt. Ich weinte nicht länger. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, Cedrics Körper auf den Teppich zu legen. Immer noch hielt ich ihn fest.

Es würde gut werden. Es würde tatsächlich alles gut werden. Wie unwirklich das ganze war. Cedric würde bei mir sein.

„Esto Perpetua*. Das ist alles, was ich will. Dafür bete ich“, wisperte ich leise.

„Ich habe alles veranlasst. Cedric wird in den Palast gebracht werden und dort auf dich warten. Seinen Bruder könnt ihr dann gemeinsam suchen.“



Oh Luzifer, Luzifer. Wäre ich nicht so überwältigt von alldem hier gewesen, dann wäre ich nun sicherlich vor ihm niedergekniet, um ihm zu danken. Stattdessen drückte ich Cedric einen Kuss auf die Stirn.
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„Jetzt lass ihn endlich los, verdammt noch mal.“ Luzifers Stimme klang weniger kalt, sondern einfach nur amüsiert und verständnislos. Ich tat, was er wollte und erhob mich mit heftig zitternden Knien. Starrte in Luzifers schönes Gesicht. Und ich begriff, dass ich ihn wirklich niemals umsonst angebetet oder geliebt hatte. Er mochte streng und manchmal sogar kalt und grausam sein, aber er verdiente

wahrlich seine Anhänger. Mein Herz gehörte nun einem anderen, doch immer würde

____

*Lass es für immer sein



er meine Bewunderung und Treue besitzen. Ich wurde seltsam wehmütig, als ich ihn so ansah. Schließlich neigte ich tief den Kopf.

„Ich möchte Euch danken, Luzifer, mein Herr. Ich möchte Euch aus tiefstem Herzen danken.“ Ich legte die rechte Hand auf meine Brust. Als ich wieder aufsah, hatte er mir den Rücken zugewandt und sich das Buch aus dem Schrank geholt. Er sah über die Schulter. „Nun, lass es gut sein. So ist wieder einer der Verblendeten aus der Christensekte errettet wurden“, meinte er nur ungerührt und leicht ironisch. Ich seufzte, nickte dann und konnte doch meinen dankbaren Blick nicht von ihm abwenden. Luzifer begann stumm in dem Buch herumzublättern. Es herrschte Stille.

„In einen Priester verliebt ... und das als Dämon. Unglaublich“, murmelte Luzifer plötzlich leicht kopfschüttelnd, während er einige Zeilen lass. Seine Mundwinkel kräuselten sich. Gegen meinen Willen musste ich lächeln. Woher ich den Mut nahm, einfach so zu sprechen, wusste ich nicht.

„Was ist denn abwegiger? Einen Menschen zu lieben, oder den Fürsten der Hölle selbst?“



Luzifer sah mich plötzlich an. Sein Blick war durchdringend und sein Gesicht unbeweglich. Trotzdem wirkte er nicht sauer oder entnervt. Ich lächelte ihn noch immer an. „Nun ja ... das ist allerdings eine berechtige Frage“, sagte er schließlich.

Er klappte das Buch mit einem dumpfen Knall zu. Einen Augenblick meinte ich sogar, den Schatten eines Lächelns über sein sonst so ruhiges Gesicht huschen zu sehen. Es könnte jedoch auch meine Einbildung gewesen sein. Es erstaunte mich, wie ... seltsam normal er heute mit mir sprach, ganz ohne Kälte, Abfälligkeit oder Spott.
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Doch das würde sicherlich nicht immer so bleiben. Die jetzige Stimmung war vergänglich wie eine Blume im Schnee. Dennoch genoss ich es.

„Nun, Azrael, gehen wir. Zuhause erwartet dich einiges an Arbeit. Du hast viel versäumt.“

Nicht nur Arbeit würde mich in der Hölle erwarten, sondern ein völlig neues Leben. Mein Herz schlug schneller. Ich warf Cedrics leblosem Körper einen allerletzten Blick zu und verließ mit der Gewissheit, endlich ein Stück meines Seelenfriedens wiedergefunden zu haben, an Luzifers Seite die Welt der Menschen.
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Kommentare zur Story:

  Eine wundervolle Geschichte, noch dazu sehr professionell geschrieben. Ich bin total beeindruckt! Und ich hoffe, dass ich bald noch mehr von dir lesen kann.  
ISA  -  04.02.05 00:14

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  ich weiß gar nicht was ich sagen soll, also dass mich mal eine schwule geschichte so mitnehmen könnte... ._. T-T; *tempos such*

gibts auch ne fortsetzung? o_o;
*total berüht is und wissen will, wie es weitergeht*  
razi  -  02.07.04 00:08

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