Die Freiheit - (oder für Sanne)   34

Trauriges · Kurzgeschichten

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Erstveröffentlichung: 13. Juni 2004
Bei Webstories eingestellt: 13. Juni 2004
Anzahl gesehen: 1518
Seiten: 5

„220 – siehste das??“ Gleich hab ich 220, ich wusste es!! Mein Auto ist halt schneller wie deins!“ sagte ich mit einem triumphierendem Lächeln im Gesicht.

„Mir wird schlecht – halt an“, ängstlich klammerte sich Sanne an den Amaturen vor ihr fest.

„Hallo?? Das hier ist eine Autobahn, der Sinn und Zweck einer Autobahn.....“

„120 – Stand da vorn“

„Ach Schwachsinn“

„Halt an, mir ist übel“



Ich zog den Wagen von der linken Spur rüber auf die Rechte, und ging in die Eisen. Es war mitten in der Nacht – die A1 war so gut wie leer.

„Was tust du, bist du bescheuert??“ fragte Sanne ängstlich.

„Du hast gesagt, ich soll anhalten und dann tu ich das halt mal!“

Der Wagen kam nur langsam zum stehen, die Bremsen gaben alles, aber viel war das nicht mehr, denn ohne Bremsbelag entsteht so ein wunderbar klackerndes Geräusch.

„Die Bremsen werden irgendwie auch nicht wirklich besser“ grübelte ich vor mich hin. Seltsam, immerhin hatten wir in den vergangenen Monaten erst schlappe 30.000 Kilometer gefahren. Quer durch Deutschland – jedes Wochenende. Wir hatten Lieblingsraststätten, Städte und Orte die uns völligst faszinierten und die uns immer wieder beeindruckten. Völlig in Gedanken, an das Erlebte brachte ich den Wagen schließlich auf dem Standstreifen zum stehen.

„Steig mal aus“

„Hä?? Geht’s noch? Ich latsch doch nicht nachts um 3 Uhr auf ner Autobahn rum??“

„Steig bitte mal aus – das ist ja wohl nur geil“, sagte ich und stand schon draußen auf einer riesigen Autobahnbrücke. Die Nacht war angenehm warm und ich fühlte mich wohl, ich griff nach der Schachtel mit den Zigaretten und nahm 2 heraus.

„Das musst du gesehen haben“

Langsam quälte sich Sanne aus dem Auto und blickte in die Nacht. „Cool“ entfuhr es ihr.

Ich zündete uns beide Zigaretten an und drückte Sanne eine in die Hand.

Tief atmeten wir den warmen Qualm ein. Sie schmeckten verdammt gut heute, oder bildete ich mir das nur ein?

„Wo sind wir überhaupt, was ist das da??“ Sanne schaute mich fragend an.

„Ach Blondi“, begann ich einen kleinen ausführlichen Vortrag. „In Anbetracht dessen, dass wir vorhin irgendwie Dortmund, Schalke, Köln und Bonn hinter uns gelassen haben, dürfte es sich nach Adam Riese hierbei um Mannheim handeln“

„Sag nicht immer Blondi zu mir – außerdem seh ich nachts eh kaum was, kann ja net alles wissen – du fährst!“ sagte Sanne leicht beleidigt.
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Wir starrten auf die Lichter vor uns, wie ein riesiges Lichter-Meer erstrahlte Mannheim im Dunkeln der Nacht. Es gab beeindruckend große Gebäude, die alle in den verschiedensten „gelb-orange“ Abstufungen vor uns funkelten. Und der Himmel über uns – voll mit Millionen von Sternen.

„Wie geht es dir?“ fragte Sanne mich.

„Wie es mir geht?? Scheisse?? Verdammt gut?? Ich weis es selbst nicht mehr, ist alles dumm gelaufen – mein Leben!“

„Unser Leben ist irgendwie zu schnell für uns geworden, oder?“ traurig fragte es Sanne in die Nacht hinein.

„Was hast du vor?“, fragte ich sie. Sie grübelte einen Moment, ehe ich eine Antwort bekam. Die Antwort, die ich erwartet habe. Traurig schaute sie mich an und fragte: „Und du?“

Ich lachte müde und erwiderte, dass ich es noch nicht wisse, ich diesen Weg zu Ende gehen werde, egal wohin er mich führt.

„Ich wünsch dir viel Glück“, sagte sie und wir grinsten uns dümmlich an und ließen noch einmal die letzten Monate Revue passieren. Zuviel war Geschehen und irgendwie war uns unser Leben völlig aus den Händen geglitten. Es war einfach zu schnell für uns geworden. Ein Auto konnte uns niemals zu schnell werden, da hatten wir immer alles unter Kontrolle, aber unser Leben? Ich weis heute nicht mehr, wieviele Jahre und Monate wir unser Leben gemeinsam bestritten haben. Wir sahen uns morgens auf der Arbeit, verbrachten die Mittagspausen zusammen, fuhren gemeinsam zu mir oder ihr oder sonst wo hin. Gegen 0 Uhr verabschiedeten wir uns und 7 Stunden später sahen wir uns schon wieder. Die Zeit von Freitag Abend bis Sonntag Abend gehörte ohnehin uns, da waren wir unzertrennlich gewesen.

„Fahren wir jetzt Heim?“ fragte sie mich.

„Ja, ich fahre dich jetzt Heim“, antwortete ich.

„Und du – wohin willst du??“

„Ich weis es noch nicht, wird sich alles finden, aber ein zu Haus hab ich nicht mehr“, verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Auge.
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„Ich habs kaputt gemacht, einfach kaputt“

„Es tut mir so leid, es ist alles meine Schuld“, traurig schaute Sanne mich an.

„Ist okay, vieles war auch meine Schuld, vergiss es einfach“, beruhigte ich sie.



Wir stiegen wieder ins Auto, an der nächsten Ausfahrt fuhren wir von der Autobahn runter, ich drehte um und fuhr wieder Richtung Heimat. Ließen Köln, Leverkusen, Dortmund, das Kamener Kreuz und schliesslich Gütersloh hinter uns. Nach endlos langen 190 Kilometern war dann ein Teil der A2 gesperrt – ein Zeichen? 100 Kilometer vor zu Haus mussten wir Querfeldein über irgendwelche Kuhdörfer wieder nach Hause finden – es regnete in Strömen. Ich war einfach nur noch müde, müde und fertig mit der Welt. Wir sprachen wenig – alles war gesagt und ich war es, die sie Heim bringen würde. Ich spürte eine eisige Kälte - etwas starb grade in diesem Moment. Ich roch den Moder der Vergänglichkeit - es war vorbei.



Was in den nächsten Jahren passierte?? So viel – so unendlich viel. Auf jeden Fall verlor ich sie aus den Augen. Zu viele Wahrheiten hab ich ihr um die Ohren gehauen. Wahrheiten, die sich nicht hören wollte. Die sie mir nicht glauben konnte oder wollte. Der Preis den ich hätte zahlen müssen, um es ihr zu beweisen, er schien mir zu hoch. Also hab ich sie in ihr Unglück rennen lassen. Das Schicksal schlug noch einmal ganz erbarmungslos zu und ich bin der festen Überzeugung – eine Zeit lang hat sie mich gehasst. Und ja, ich gebe es zu, ich habe sie auch gehasst. Ich habe sie dafür gehasst, dass sie mich zwei- oder dreimal eiskalt angelogen hat. Das sie mir etwas angetan hat, was ich ihr nicht verzeihen konnte, obwohl ich es wollte. Zum Schluss haben wir uns nur noch gegenseitig weh getan und es tat wirklich verdammt weh.



Dann Jahre später, es passierte das Unglaubliche. Mein Chef lachte mich an und sagte: „Raten sie mal, wer ihnen morgen helfen wird??“ Ich grübelte eine Weile, auf Sanne kam ich nicht. Ich war aufgeregt, nervös, 1000 Gedanken schossen mir durch den Kopf und ja, mir war etwas mulmig, ihr nach Jahren wieder gegenüberzustehen. Ich finde es erstaunlich, wie schnell das Gehirn etwas oder jemanden verdrängen kann, wenn man erst mal aufgehört hat, tagtäglich drüber zu grübeln.
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Aber plötzlich war alles wieder da, all unsere gemeinsamen Erinnerungen, die schönen Zeiten und die gesehenen udn erlebten Dinge.

Und da stand sie dann am nächsten Morgen und kochte uns unseren ersten Kaffee. So als wenn sie die ganze Zeit über nichts anderes getan hätte. „Huhu, ich bin die Neue“, lachte sie mich an.

„Hmm, ja ich hab auch schon nen Namen für dich“

„Extrem witzig“, sie versuchte ernst zu bleiben, aber es gelang ihr nicht.

„Du hast ein neues Auto?“ fragte ich sie und lächelte.

„Jepp, hab ich und du hast auch ein Neues! Habs gesehen und gehört!“, Sanne strahlte.

„Und wie viel?“, fragte ich sie breit grinsend.

„92“

„92?? Hm, ich hab 128 PS!“

„Aber trotzdem könntest mal vor ner Parklücke bissel eher anfangen zu bremsen“, ermahnte sie.

„Warum? Passt doch!“, führte ich ein Gespräch fort, wie wir es vor Jahren nicht anders geführt hätten.



Mittags hatten wir bereits Bauchschmerzen vor Lachen. Wir schwelgten in Erinnerung, tauschten Neuigkeiten aus und amüsierten uns bestens.



Kurz vor Feierabend wurde sie ernst und sagte: „Du, weißt du noch damals, Mannheim, die Autobahnbrücke?“

„Ja, natürlich, wie könnt ich das vergessen?“

„Wann hast du dich jemals wieder so frei gefühlt?? Wann hast du jemals wieder eine Zigarette geraucht, die so gut schmeckte?“, fragte sie mich mit einem traurigen Blick in den Augen.

Ja, sie stimmte auch mich traurig, ich fand es unpassend ihr zu sagen, dass ich mich jeden morgen so frei fühle, wie damals auf der Autobahnbrücke. Das mir abends meine Zigarette und eine Flasche Bier noch immer verdammt gut schmecken, denn ich wusste was sie meinte und sagte stattdessen nur: „Wir hatten damals das Glück, die schönste Zeit unseres Lebens gemeinsam zu verbringen – nur wussten wir es leider nicht, dass sie es war. Das es nie wieder so sein wird, wie damals. Manchmal muss man etwas verlieren, um zu wissen wie viel es einem Wert ist.“ Das war das was ich zu ihr sagte – es lag verdammt nah an der Wahrheit, aber die Wahrheit – sie hätte anders klingen müssen: Damals auf der Autobahnbrücke muss ich wohl 2 Koffer dabei gehabt haben, den einen habe ich selbst gepackt, ich stopfte die ganze Freiheit, die ich in diesem Moment fühlte hinein.
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Wann immer ich etwas davon brauche, ich öffne den Koffer und ich weis, dass sie da ist. Ich weis es, ich kann die Freiheit spüren, ich kann sie fühlen. Den anderen hat Sanne mir gepackt: Die ganze Einsamkeit – das nackte Alleinsein, was ich auf der Heimfahrt spürte, es ist in diesem Koffer. Er ist so vollgestopft mit diesem alles ausfüllendem Nichts. Ich öffne ihn nie, manchmal öffnet er sich von selbst, weil die Gurte die ihn verschlossen halten sollen, dem Druck nicht stand halten können. Er springt einfach von selbst auf und das Alleinsein tanzt eine Weile um mich herum, solang bis ich es zu fassen krieg und es wieder in den Koffer stopfe.

Ich bin frei, was ich dafür zahle?? Ich werde niemals mehr eine Freundin haben, so eine Freundin, wie ich dachte, das sie es wäre. Niemals mehr wird jemand alles über mich wissen. Niemals mehr werde ich jemandem blind vertrauen.









By the way – kann einem eigentlich etwas Schlimmeres passieren, als eine blonde Golffahrerin, die vor einem her fährt?? ;-)
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Kommentare zur Story:

  Wirklich sehr schöne Story, wo nimmst du eigentlich immer die tollen Ideen her? *neidisch bin*
In den Dialogen kommt mir das so vor, als wenn beide den gleichen Sprachstil haben. Vielleicht soll es ja so sein, aber wenn nicht, dann wäre das ein Verbesserungspunkt.
BTW es gibt Schlimmeres als blonde Golffahrerinnen: Brille und Hut. *g*  
Freiheit  -  17.06.04 19:53

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