Rosenduft (60 Minuten ...)   340

Fantastisches · Kurzgeschichten

Von:    Mes Calinum      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 9. März 2004
Bei Webstories eingestellt: 9. März 2004
Anzahl gesehen: 3580
Seiten: 3

Ich war acht Jahre alt, als es geschah. Lange habe ich es nicht verstanden. Und doch geschah es immer wieder – und immer wieder stand ich auf dieser Anhöhe und sah dasselbe:

Eine Ebene, die von vollkommener Stille beherrscht war … bedeckt von einer weißen Schneedecke. In ihrer Mitte stand ein Baum. Ich wusste nie, wie man einen solchen Baum nennt – einen Rosenbaum vielleicht?

Als er mich damals bei der Hand nahm, erzählte er mir, dass dieser Baum keinen Namen hatte. Es war ein Baum mit roten Blättern … mit dem Duft von Rosen. Und an diesem Tag, sah ich sie zum ersten Mal in den Schnee fallen.



Ich stand auf dem Hügel, meine nackten Füße bereits taub, der Schnee reichte mir bis zu den Knöcheln. Auf meinem Arm hielt ich einige Holzscheite, die ich mühsam mit der Axt zerlegt hatte. Schweiß rann mir noch immer den Rücken hinab und durchnässte mein Baumwollhemd. Ich zitterte und fühlte mich fiebrig, wie so viele in unserem Dorf. Aber ich konnte meinen Blick nicht von diesem Baum wenden. Es hatte geschneit letzte Nacht und alles war im Schnee versunken, nur der Baum nicht. Seine roten Blätter erleuchteten die Ebene.

Wie ein Warnfeuer, dachte ich.



„Ein böses Omen“, wisperte meine Mutter, während sie meinem Vater Suppe gab, die nur wieder aus seinen Mundwinkeln lief.

Das Wort Omen hallte in meinen Ohren, als ich auf den Baum zustolperte. Er schien unerreichbar und doch so nah. Letztendlich fiel ich vor den glatten Stamm und berührte andächtig seine Rinde … fühlte seine Wärme unter meinen Handflächen. Sie kroch durch meine Arme in meinen Körper hinein, und ich schloss meine Augen. Es war ein so wundervolles Gefühl.

Etwas Feuchtes berührte meine Stirn, und ich öffnete die Augen. Verwundert wischte ich mir mit der Hand über das Gesicht und erschauderte. Sie hatte sich rot gefärbt. Erschrocken sprang ich auf und blickte nach oben. Eines nach dem anderen begannen die Blätter des Baumes zu Boden zu fallen. Sie schmolzen im Schnee und hinterließen rote Flecken – wie Blut.

„Der Baum blutet“, flüsterte ich, „der Baum blutet!“ Ich stolperte rückwärts davon, und wäre beinahe gestürzt. Dann rannte ich, wie noch nie in meinem Leben zuvor.



„Das Fallen des ersten Blattes ist wie der Schlag zur elften Stunde, mein Sohn“, hatte er mir erklärt, „und mit dem letzten Schlag zur letzten Stunde wird ein jedes Blatt gefallen sein, der Baum wird sterben – und alles Leben erlischt.
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„Der Baum blutet!“, schrie ich, und meine Mutter ergriff mich an den Schultern. Sie wollte mich wachrütteln, doch trat dann zurück und starrte auf ihre Hände. Sie waren angeschwollen, als hätte sie in ein Nest voller Wespen gegriffen. Sie sah mich an, als wäre ich der personifizierte Teufel. Blutige Pusteln bildeten sich auf ihrer Haut, dann schrie sie – und ich schrie mit.

„Du bist nicht mein Sohn“, brüllte sie schrill, und ich verstand nicht, was geschah. Ich blickte hilflos zu meiner Vater, dessen Blick leer an die Decke gerichtet war.

Als meine Mutter zu Boden stürzte, fiel ich neben sie und bat sie nicht zu sterben. Doch sie spuckte Blut und mit gurgelnder Stimme sprach sie erneut: „Du bist nicht mein Sohn.“

„Maaami“, schrie ich, „stirb nicht! Ich bin es doch, dein Junge!“ Ich zerrte flehend an ihren Kleidern. „Der Priester wird dich retten.“

Ich dachte wirklich, die Anwesenheit eines Priesters würde das Unheil vertreiben. Erst später lehrte er mich, dass ein Priester auch nur ein Mensch war – hilflos, wie alle von ihnen.



Als ich vor der Kirche nach dem Priester schrie, eilten die Nonnen herbei … da geschah es erneut - als hätte meine Berührung mit dem Baum mich in den Satan verwandelt. Der Priester lief herbei und wollte helfen … und die Einwohner unseres Dorfes rannten herbei und wollten helfen … und als sie begriffen, da flohen sie – und keiner entkam.

Im Schnee vor der Kirche saß ich und weinte. Warum starb ich nicht? Warum tat ich dies?



„Der Tod gebar dich aus dem Körper einer Leiche, der Hunger trieb dich zu neuen Eltern, und der Krieg wird sich deiner annehmen und dich schulen“, erklärte er mir.



Wildes Fiepen riss mich aus meinem Schluchzen und unter tränenden Schleiern sah ich sie aus den Häusern laufen: Kleine, pelzige Körper drängten sich dicht an dicht aus jeder Spalte ins Freie. Und ich rannte mit ihnen. An diesem Tag war ich eins mit den Ratten, von demselben Instinkt getrieben - Überleben.
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Doch bald war es nur ein Strom toter Leiber, bis zu jenem Rosenbaum. Dies also ihr Ziel, doch keine konnte es lebend erreichen, nur eine Ratte - und die war ich.

Vor dem Baum ging ich auf die Knie und flehte um Gnade. Ich wollte aus diesem schrecklichen Traum erwachen und hoffte, es war nur das Fieber, das mich an mein Bett fesselte - mich im Delirium wandeln ließ.

Das letzte Blatt fiel auf mich herab. Die Antwort kam, als die Sonne verschwand, der Wind heulte, und die Dunkelheit nur mich und sie umhüllte: Die drei schwarzen Reiter. Sie waren so plötzlich gekommen, wie das Licht vergangen war.

Ihre schwarzen Gewänder flatterten im Wind, ihre Schädel nur blanke Knochen - leere Augenhöhlen starrten auf mich herab. Die Pferde nur Skelette … ihre schmalen Schädel in meine Richtung gestreckt, stampften sie nervös mit den Hufen.

Ein Reiter stieg ab, bei jeder Bewegung knackten seine Gelenke spröde. Langsam kam er auf mich zu, und ich wich rücklings zurück. Doch er streckte mir seine knöcherne Hand entgegen.

„Greif zu, mein Sohn, du bist nach Hause gekommen.“

Ich schluchzte und sprach: „Sie sagte, ich sei nicht ihr Sohn, wer bin ich? … etwa der Leibhaftige?“

„Dein Name ist Pestilenz, und du wirst dein Schicksal erfüllen. Komm zu uns. Gemeinsam werden wir die Lebenden von ihrem Leid erlösen … bis ans Ende aller Zeiten.“ Und ich griff seine Hand.



Heute stehe ich auf einem anderen Hügel, in einer anderen Welt. Vor meinem inneren Auge, sehe ich den Baum, dahinter die leuchtenden Lichter einer Großstadt. Mein Pferd stampft mit den Hufen, wir sind zu viert und warten …

Die Turmuhr schlägt zur elften Stunde und das erste rote Blatt fällt zu Boden.
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Punktestand der Geschichte:   340
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Kommentare zur Story:

  Eigentlich heiße ich ja mit Zweitnamen Nostradamus. *g*  
Mes Calinum  -  03.04.07 10:11

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  hallo mes,

ja, bitte, mach das osterprojekt!
(die geschichte erinnert zwar fatal an die historie der spd der letzten zwei jahre - aber: leibhaftiger satan - wie konntest du das 2004 schon wissen?)

lg

nicolas  
Nicolas van Bruenen  -  03.04.07 10:05

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  Hallo Kalliope,

vielen Dank. Eigentlich könnte ich wirklich mal wieder die eine oder andere Kurzgeschichte posten und mich öfters auf Webstories herumtreiben. Es haben sich zumindest einige Geschichten angesammelt. Die könnte ich dann auch direkt mit meiner Webseite verlinken. Doch warum nicht. Wäre doch mal ein kleines Osterprojekt. *g*  
Mes Calinum  -  03.04.07 09:48

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  Hallo Mes,
ich danke dem Zufall, der mich Deine Seite entdecken ließ! Diese Story ist einfach genial! Schade dass Du nicht mehr aktuell postest - kann man/frau Dich überreden?
Liebe Grüße
Ursula  
kalliope-ues  -  31.03.07 15:36

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  Ja, sie ist saugut die Geschichte, ich sah es während des Auswahlverfahrens und ich sehe es jetzt und das, obwohl ich mich für Fantasy so gar nicht erwärmen kann.
Ich glaube es ist zum großen Teil das sehr geschickte Verknüpfen mit der gestellten Aufgabe, die Idee mit der *Weltuntergang* umgesetzt wurde ist außergewöhnlich spannend und ich hätte sie allzu gern auf meiner Homepage unter den Gastautoren.

5 Punkte

Gruss Lies  
Lies  -  28.03.04 15:07

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  Vielen Dank auch euch für die Kommentare. Freut mich wirklich sehr, dass euch die Geschichte so gut gefallen hat. :)  
Mes Calinum  -  16.03.04 19:26

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  Ich weiss noch, dass deine Geschichte die erste unter den Contest Stories war, die ich zweimal lesen musste!
Wunderbare Idee, hervorragend umgesetzt.
Aus diesem Grund auch volle Punktzahl.  
Sveste  -  16.03.04 14:16

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  Was soll ich noch sagen? Einfach schön geschrieben mit einer guten Idee für den Prota;-) Volle 5, was sonst?  
Drachenlord  -  15.03.04 21:26

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  Einfach eine wunderbare Geschichte. Die Worte muten seltsam poetisch an, obwohl die Geschichte doch eigentlich eine traurige ist. Irgendwie bezaubernd.  
Metevelis  -  13.03.04 18:42

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  Also, mir hat die Geschichte auch sehr gut gefallen. Noch nicht einmal was zum Meckern habe ich gefunden ...
Gruß  
Charly  -  12.03.04 20:44

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  Das Thema mal von einer ganz anderen Warte betrachtet. Die schönen poetischen Worte lassen beim Lesen Bilder im Kopf entstehen. Auf drei Seiten verzaubert werden. Klasse gemacht!  
Robert Short  -  10.03.04 16:17

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  @Compuexe: Vielen Dank für das Freischalten und den lieben Kommentar. :O)

@NewWolz: Dir auch vielen Dank und als kleine Anregnung: Die Geschichte ist aus der Sicht des apokalyptischen Reiters Pestilenz geschrieben. :)
Zu dem Baum: Da hat mich ein einheimischer inspiriert, der hier in HD immer knallrot im Herbst wird.  
Mes Calinum  -  10.03.04 13:05

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  Schöne Worte, Poetische Worte
Kann aber den Zusammenhang mit einem Weltuntergang nicht erkennen.
Warum der Baum mir so bekannt vorkam weiss ich nicht, es kam mir vor sowas ähnliches schon mal gesehen oder gelesen zu haben. Sicher täusche ich mich.  
NewWolz  -  10.03.04 02:53

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  Ist ja wohl klar, dass ich, kaum dass ich es freigeschaltet habe, es auch bewerten muss.
Ist einfach die wohl beste Geschichte, die ich in der letzten Zeit gelesen habe.  
Compuexe  -  09.03.04 22:42

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