Von einer Welt in die andere   3

Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Meggie      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 14. September 2003
Bei Webstories eingestellt: 14. September 2003
Anzahl gesehen: 2148
Seiten: 4

Eine Stunde und achtundzwanzig Minuten später wurde der Himmel pink.



Susanna blinzelte und rieb sich die Augen, aber er blieb pink. Sie sah in die Runde und erblickte ein halbes Dutzend rot glühender Gesichter, die sie allesamt anstarrten.

Aus ihrer Mitte heraus entwuchs ein heißer, rot leuchtender Ball. Susanna fuhr auf und stolperte ein paar Schritte zurück, als ein leuchtender Arm aus dem Ball kommend nach ihr griff. Hilflos starrte sie zu den anderen, die die Gefahr, die von dem Ball ausging, nicht zu bemerken schienen.

Susanna blinzelte und im nächsten Augenblick sah sie Peter sich gegenüber auf der anderen Seite des Balls sitzen. Peter grinste ihr schadenfroh zu und winkte mit seinem Marshmellow-Stock.



Sie bemerkte, dass sie wie orientierungslos da stand und sich die Augen rieb, während die anderen um das Lagerfeuer herum saßen und sie verständnislos, teils amüsiert ansahen. Manche konnten sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Schneewittchen?“, fragte Lilo, die Große, argwöhnisch. Susanna war verwirrt und irgendwie war ihr die Situation peinlich. Auf ihr Schweigen hin lachte Lilo und sagte: „Willst du weiter da rumstehn und tatenlos zusehn wie dein Marshmellow zugrunde geht?“

Desinteresse breitete sich wieder unter den anderen aus, so wie Susanna es von ihnen gewohnt war. Susanna schwieg und setzte sich wieder zu ihnen, um den Marshmellow aus dem Feuer zu ziehen.

Er war verbrannt und verdreckt. Susanna schmiss ihn weg und spießte sich einen neuen auf.



In diesem Moment fiel ihr ihre Schwester am Tag der Abreise ein. „Sei bloß vorsichtig, Suse“, hatte sie gesagt. „Verrückt sind se, sag ich dir. Verrückt – und gefährlich sind se auch. Bei denen kann man nie wissen.“ So ein Blödsinn.

Susanna wollte doch einfach nur dazugehören! Einmal so sein wie die anderen! Nicht als Außenseiter dastehen! Und natürlich Saschas Herz gewinnen... Sie war verliebt.



Susanna starrte ins Feuer und versuchte nicht auf den pinken Himmel zu achten.

Eine Motte flog um das Feuer herum, machte einen Schwenker, näherte sich Susanna, kehrte zum Feuer zurück. Wie in Zeitlupe konnte sie das Schwingen der Flügel, das Auf und Ab des winzigen Körpers beobachten.
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Susanna verlor sich in Gedanken, verlor sich in der anderen Welt.

Bald gesellte sich eine Zweite hinzu und es kamen immer mehr. Gemeinsam führten sie einen wilden Tanz auf, mit ihren Flügeln schlagend um das Feuer herum.

Bis dann Susanna zu ihrem Feuer wurde.

Susanna wedelte und scheuchte, Panik war im Begriff sie zu ergreifen. Sie sprang auf, kreischte, wedelte mit den Armen und dem Stock, traf aber keine einzige von den Motten.

Sie wünschte sich, wieder aus dieser Welt hinaustauchen zu können, hinaus ans Tageslicht, an die Wasseroberfläche, an die Wirklichkeit.

Dann verschwanden die Motten plötzlich eine nach der anderen unbemerkt, als wären sie nie dagewesen. Was vielleicht sogar stimmte.



Susanna fühlte sich wie eine Balancier-Künstlerin beim Hochseilakt ohne Netz, unter ihr der blanke Wahnsinn. Sie sah zu den anderen.



Glücklicherweise hatten sie nichts von den Motten bemerkt. Es wäre ihr peinlich gewesen. Niemand sah sie auch nur an. Susanna sammelte sich und setzte sich wieder. Sie hasste Motten.

Langsam schweiften ihre Gedanken wieder ab, zu dem Tag an dem sie sich zum ersten Mal getraut hatte, Lilo anzusprechen. Sie hatte gesagt, wenn Susanna die zwei Wochen durchhielte und keinen Ärger machte, wär das schon ein ganz guter Anfang. Sie hatte nicht gesagt, dass Susanna dann eine von ihnen sei - nein, sie hatte gesagt, es wäre "ein ganz guter Anfang".

Susanna wusste, dass Lilo ne dumme Kuh war, aber sie schleimte sich trotzdem bei ihr ein. Und all das nur wegen Sascha. Sie schaute zu ihm herüber, der er neben Lilo saß und sich mit ihr unterhielt. Susanna fand, dass er verdammt gut aussah.



Dann betrachtete sie wieder ihren Marshmellow. Ihrer abermaligen Unachtsamkeit war es zu verdanken, dass auch dieser angebrannt war.

Die Brandstelle war schon ganz schwarz und schien sich seltsamerweise zu regen. Doch noch bevor irgendetwas fantastisches passieren konnte, schmiss sie den Stock so weit sie konnte von sich weg.



Da fiel ihr wieder ihre Schwester ein. Susanna ärgerte sich immer noch über sie. „Und wenn de einmal kurz nich aufpasst – zack, schon hamse dich!“, hatte sie gesagt.

Wer nich wagt, der nicht gewinnt, dachte Susanna - und Susanna hatte schon lang genug nichts gewagt.
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Dann plötzlich und ganz unerwartet spürte sie Hitze in sich aufwallen.

Es waren Arme, die sie umschlungen. Arme von eiskaltem Blau und unglaublicher Hitze, die aus dem Nichts kamen, die aus der anderen Welt kamen.

Susannas Kiefer klappten auf, schnappten nach Luft. Der Sauerstoff in ihren Lungen brannte. Und sie hörte jemanden schreien. Sie versuchte zu atmen, aber es ging nicht und wieder ertönte ein Schrei. Er kam von vorne, hinten, von oben und unten. Er kam von überall her. Susanna bemerkte, dass es ihr eigener war. Sie versuchte durch die verschwommene Bläue hindurch zu blicken und erkannte Rudolfs verzerrtes Gesicht.

Was dachte sie?

Er würde verbrennen.

Wenn sie ihn nicht rettete.

Den Marshmellow.

„So helft mir doch!“, platzte sie plötzlich heraus und befreite sich mit geballter Wut aus der heißen Umarmung. Rudolf hielt sie jedoch fest.

„Der Marshmellow!“, kreischte sie. „Der Marshmellow!“

„Schneewittchen, hörst du mich?“, rief Rudolf. „Hör auf, um dich zu schlagen wie eine Wilde und mach endlich deinen verdammten Mund zu! Hergott nochmal!“

Seine Stimme war wie ein Schlag vor den Kopf. Susanna verstummte und blickte verstört um sich.

Das war kein guter Anfang.

Rudolf ließ sie los und wandte sich von ihr ab. Sie stand meterweit vom Lagerfeuer entfernt. Es war Nacht, der Himmel war klar, Mondlicht schien auf die Zelte. Das Lagerfeuer verströmte zusätzliches, rötliches Licht und tauchte die Umgebung in eine geheimnisvolle Aura. Die anderen saßen um das Lagerfeuer herum, lachten, unterhielten sich, rösteten Würstchen und Marshmellows. Susanna fühlte sich verwirrt, orientierungslos.

Was war das für eine verrückte Welt, in die sie hineingeraten war?

Sie gab sich einen Ruck, um sich wieder zu den anderen ans Lagerfeuer zu setzen, blieb aber schon nach dem zweiten Schritt wieder stehen.

Der Boden fühlte sich anders an.

Sie sah herab und zum ersten Mal seitdem sie im Camp waren, fiel ihr auf, wieviele Ameisen es hier gab. Sie hob einen Fuß und stellte überrascht fest, dass der ganze Boden voll von ihnen war.
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Sie bedeckten ihn wie ein schwarzer, kriechender Teppich. Und sie begannen an Susannas Beinen hoch zu kriechen. Susanna ahnte, dass dies alles nicht wahr sein konnte, nicht wahr sein DURFTE. Aber eineinhalb Stunden? Unmöglich. Susanna sah sich um, registrierte ihre Umgebung, wie durch eine Seifenblase hindurch bunt, verschwommen und gewölbt.

Der Himmel war nun gelb und Susanna war kalt. Sie begann zu zittern.

Irgendwo, weit entfernt hörte sie Stimmen. Warum fiel es ihr nur so schwer das Gleichgewicht zu halten, wenn es den Ameisenboden in Wirklichkeit gar nicht gab? Wo waren so plötzlich die ganzen Motten hergekommen und wohin waren sie verschwunden?

Wieso wechselt der Himmel seine Farbe? War blau wirklich blau oder in Wirklichkeit rot?

Und wer, gottverdammt nochmal, war überhaupt Schneewittchen??!



Und dann ganz plötzlich platzte die Seifenblase und sie bekam eine Antwort.

Auf alle Fragen. Von Lilo. Der Dummen Kuh.

„Gutes LSD wirkt erst nach mindestens einer Stunde, Schneewittchen!“, lachte sie.

Und alle anderen lachten auch.

Außer Susanna.

Die musste kotzen.
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Punktestand der Geschichte:   3
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Kommentare zur Story:

  Gelungene Story mit einem überraschenden Ende! Naja, vielleicht ist es nicht so überraschend für jemanden, der die Wirkung von LSD kennt, aber ich dachte zuerst eher an irgendwelche dunklen Mächte, die das arme Mädchen heimsuchen. Ich mag Überraschungseffekte. Fünf panische Punkte von mir  
Tom  -  14.09.03 10:23

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Interessante Kommentare

Kommentar von "Marie" zu "optimistischer Pessimist"

Mir gefällt es, egal, was andere denken. Auch die berschrift lockt. Gruß marie

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