Gedankenwelt einer Wachturmverschenkerin   8

Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Robert Zobel      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 3. Juli 2003
Bei Webstories eingestellt: 3. Juli 2003
Anzahl gesehen: 1791
Seiten: 3

Wie lange ich hier stehe, weiß ich nicht. Vielleicht zwei Stunden oder sechs. Dürfte ich eine Uhr tragen, wüßte ich das. Gegenüber verkauft ein Mann Zitroneneis. Es riecht deswegen hier nach Putzmittel. Bis jetzt habe ich nur drei Zeitungen verteilt und ich weiß, dass ich sie alle wiedersehen werde, wenn ich nachher gehe. Die liegen alle im Papierkorb, an dem ich vorbei muss. Zwischen Flaschen und Zigaretten. Eine Vergeudung, denn allein diese Zeitung hätte sie auf den rechten Pfad bringen können. Drei fast gerettete und doch verlorene Seelen und das wird heut so weitergehen. Unsere Führerin hat einmal ausgerechnet, dass nur 1,575 % aller Zeitungsmitnehmer die Zeitung lesen und von denen verstehen nur 20 % die Bedeutung der Texte.

Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt, aber es kommt mir wirklich so vor. Meine Beine tun weh und mein Gesäß ist kalt. Ständig weht der Wind in meinen Rock. Ganz unten im Saum ist, Jehova sei Dank, aber Telefonkabel eingenäht. So ist es unmöglich, dass der Rock hoch weht und meine Beine oder mehr zeigt. Den Rock hab ich zur Weihe bekommen. Er war eigentlich mal richtig Schwarz. Schwarz wie eine Pupille oder wie schwarze Malstifte in Teer getunkt. Heute aber, nach hundert Mal Handwäsche, ist er nun eher grau und wenn man ganz genau hinsieht, dann sieht man durch den Stoff die Kabel schimmern. Aber sieht ja keiner hin.

Wenn die Leute mich sehen, blicken sie immer weg. Ich suche den Blickkontakt, finde ihn auch, aber immer nur für Sekunden. Hätte ich einen kürzeren Rock an, meine Haare offen und das Gesicht geschminkt würde alles wohl viel leichter gehen, aber das wäre falsch. Ich brauche mit keiner Maske werben. Bleibe schlicht, wie die Aufmachung der Zeitung. Vom ständigen Lächeln tun meine Mundwinkel schon weh. Mein Bruder, der nicht mit mir verwandt ist, steht 30 Minuten weiter zum Marktplatz hin. Er wird bestimmen, wann Schluß ist und ich nach Hause kann.

Vor einer Stunde oder so, hat mich ein Obdachloser angesprochen. Die Ausdünstungen, die aus seinem Mund kamen, waren schrecklich. Hab versucht nicht zu atmen. Er war aber auch einer derer, die mir eine Zeitung nahmen. Vielleicht wird sie nicht im Papierkorb liegen, sondern ihm ein wenig Wärme geben, wenn er sie sich Nachts unter die Kleidung stopft.

Lesen wird er sie nicht, denn ich sah in seinen Augen die Scheinwerfer nicht mehr, die nach dem Sinn des Lebens suchen.
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Alkohol und all dies Andere, was sich Droge nennt, lässt diesen Scheinwerfer erkalten und das Feuer wechselt von der Suche nach dem Sinn, zur Suche nach der nächsten Droge. Schwerlich kann man solche Menschen noch retten.

Oh, ich hatte eben Blickkontakt und der Mensch lächelt auch noch so freundlich. Ich werde ihm mal entgegen gehen. Nein, jetzt weicht er aus und sein Lächeln ist auch weg.

Man will den Menschen Gutes tun und sie haben Angst. Das kommt alles von diesen brutalen Filmen. Die werden von diesen Menschen gesehen und unterbewußt sammelt sich dann die Angst und gerade hat dieser Mann seine Angst auf mich projiziert.

Niemand kann sich vorstellen, dass man uneigennützig helfen will. Ganz ohne Geld und Hintergedanken. Die wirkliche Liebe erschrickt die wohl die Meisten. Sie nehmen sie von Haustieren und vielleicht ganz vertrauten Menschen, wenn sie es denn können, aber wenn ein Wildfremder Liebe zeigt, gibt es nur Angst und Mißtrauen.

Die Spatzen hüpfen hinter mir umher. Da liegen Krümel. Für die ist alles ok. Denen geht es nur ums Essen, Leben und dann Sterben. Doch ist das alles? Kann man nicht mehr erreichen? Ich meine keine Besitztümer. So etwas ist eher hinderlich an allem. Ich meine für das eigene Wachstum. Nur für sich.

"Lesen Sie sich das bitte einmal durch. Glauben sie an Gott?". So da hat einer eine Zeitung mitgenommen. Kann gut sein, dass er einer der 1,575 % ist. Er war ein warmherziger Mensch. Das sah man an dem Strahlen.

Manchmal frag ich mich, ob Jesus meine Zeitungen nehmen würde. Doch eigentlich glaube ich ja. Jehova und Jesus unterscheidet nicht viel. Nichts unterscheidet sich. Im Grunde ist alles gleich und besteht aus den kleinen Bausteinen des Lebens. Ich bin wie der Eisverkäufer und selbst der Obdachlose steckt in mir. Alles ist gleich viel wert. Man sieht sich in anderen Menschen. Erkennt eigene Facetten. Als wären die Menschen aus dem eigenen Kopf gesprungen und hätten ein wenig "Ich" mitgenommen. Um so mehr schmerzt es darum, dass sie dem Licht nicht folgen und sich ins Verderben stürzen. Jede verlorene Seele ist ein eigener Teil der stirbt. Allein diese Erkenntnis würde die Kriege der Welt erkalten lassen, aber wer erkennt schon?

Meine Nase juckt.
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Würd mich gerne kratzen, aber hab ja die ganzen Hände voll Wachturm.

27 Stück hab ich noch. Mehr als 30 brauch man auch gar nicht mitnehmen. So viel wird man nie los.

Da lohnt es sich eher von Haustür zu Haustür zu gehen. Da wird man mehr los. Entweder bleibt die Tür verschlossen, wird zugeknallt oder jemand hört uns zu. Wie gestern. Da bat uns eine ältere Frau zu sich herein und wir sprachen zwei Stunden über Gott. Sie freute sich über die Abwechslung. Wir uns über die Kekse. Auch so etwas passiert und es kam auch schon einmal vor, dass uns jemand aus dem Haus schmiß.

Die Leute verwechseln uns mit einer Sekte und die Zeitungen und das Fernsehen lügen über uns wie gedruckt. Da bleibt sowas nicht aus.

"Aber natürlich ist die umsonst. Ich gebe ihnen auch gerne zwei Exemplare mit". Na, das hab ich gut gemacht. Zwei Zeitungen auf einmal. Netter älterer Mann. Wenn Jehova es lenkt, wird er die zweite Zeitung an seine Kinder oder Enkel geben. Heute ist ein guter Tag.

Er hat sogar die Sonne hervorgeholt und die Wolken einfach weggepustet. Ein schönes Blau am Himmel. Die Menschen sollten alles schlicht halten und nicht so bunt, denn wenn sie es so übertreiben, wissen sie Gottes Farben gar nicht mehr zu schätzen. Was für ein Blau. Würde gern hinein springen. Hinein ins Blau. Näher zu ihm. Aber durch meine Aufgabe hier bin ich ihm schon nah.

Wenn mich nicht alles täuscht, kommt Bruder Thomas. Ich muss los. Behalten sie bitte ein wenig von dem was ich gesagt habe. Ich lasse ihnen auch gerne eine oder zwei Zeitungen da. Alles Gute und einen lichtvollen Tag.
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Kommentare zur Story:

  Ich finde es auch schön, obwohl ich die Zeugen jehovas nicht leiden kann.  
Marcel Richter  -  20.10.04 14:44

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Gefällt mir gut.
Einfühlsam beschrieben.
Die Mischung aus oberflächlicher Betrachtung und intensiver Auseinandersetzung mit den Personen gefällt mir auch gut.
Etwas zum nachdenken.  
Oliver  -  04.07.03 11:07

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

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Interessante Kommentare

Kommentar von "darkangel" zu "Vor dem Fenster"

hm... rollstuhl glaube ich nicht, denn das hätte das andere kind bemerkt und außerdem entscheidet sie sich am ende um. das daachte ich aber auch zuerst. jetzt stelle ich mir die frage: was ...

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