Romane/Serien · Trauriges

Von:    Melvin Craven      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 1. Juli 2003
Bei Webstories eingestellt: 1. Juli 2003
Anzahl gesehen: 2481
Seiten: 13

Diese Story ist Teil einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Wüstenwind





Kapitel I

Dass, das Auto an ihm vorbeigerast war störte ihn nicht. Auch nicht, dass der Fahrer zuerst wie ein Verrückter gehupt, dann gebremst und schließlich ins Schleudern geraten war. Jetzt stand sein Wagen auf der staubigen Straße gute hundert Meter entfernt.

Der Mann saß noch immer unberührt da und schaute, den Rücken der mittäglichen Sonne entgegen, Richtung Horizont. Die Luft war drückend heiß und der einzige kleine Windhauch war der es vorbeifahrenden Wagens gewesen. Der Schweiß tropfte von seiner Stirn, sauste an ihm herunter und landete mit einem unhörbaren Geräusch im glühenden Sand.

"Ich glaube ich pack das nicht! 250.000 Quadratkilometer Wüste und der einzige potentielle Selbstmörder sitzt genau vor meinem Wagen".

Der Fahrer war aus seinem Jeep gestiegen und brüllte in die Richtung des noch immer bewegungslosen Mannes. "He! Was ist mit ihnen?!"



Georg nippte an seiner heißen Schokolade während Elisa ihren Gin in großen Zügen zu sich nahm.

"Du willst also weg", sagte sie.

Er schwieg und nippte weiter langsam an seiner Schokolade.

"Warum jetzt?", fragte sie.

"Ich hab solange gewartet. Zu lange. Nachts schlafe ich nicht mehr, tagsüber schweifen meine Gedanken immer in eine Richtung ab. Ich möchte dem ein Ende bereiten."

"Es ist wegen Melinda, nichtwahr?", Elisa beobachtete, wie Georgs Gesichtausdruck mit einem Mal ganz starr wurde. Er fixierte sie mit einem Blick, der Gestein zum Schmelzen hätte bringen können.

Da war sie wieder. Melinda: die erste Frau in seinem Leben, der er einen Heiratsantrag gemacht hatte. Nur ein Hauch von Erinnerung, ein Gedankensplitter, ein Fragment der Vergangenheit. Er versuchte sich zu konzentrieren und überlegte, wie sie ausgeschaut hatte. Hatte sie nicht ein Muttermal unter dem linken Ohr gehabt? Dabei war es noch nicht solange her, in einem Monate würden es fünf Jahre. In fünf Jahren vergisst man doch niemanden, dachte sich Georg. Was sind fünf Jahre gegen die zehn die sie zusammengewesen waren.

"Fünf Jahre", flüsterte Georg.

"Wie bitte?", fragte Elisa.
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"Hm?", Georg blickte auf, als ihn Elisa aus seinen Gedanken riss. "Ich habe bloß an früher gedacht."

"Ich hätte es mir einfach denken sollen und nicht gleich hinausschreien.", sagte Elisa schuldbewusst.

"Ist schon gut, ein bisschen Erinnerung hat noch niemanden umgebracht. Was ist mit deinem Mann?", er sagte das nur um das Gespräch in Gang - und vor allem - weit weg von Melinda zu lenken. Wo sie wohl gerade war? Vielleicht war sie wirklich nach Marokko gegangen. Hatte ein Haus, vielleicht schon Kinder und gerade in dem Moment ging sie auf einen Markt in Rabat oder Casablanca.

Er seufzte und unterbracht damit ihre Ausführungen, warum sich ihr Mann nicht im geringsten darum kümmerte, was sie empfand. Sie lebten quasi schon nicht mehr zusammen. Getrennte Betten, getrennte Wege, getrennte Gedanken oder so etwas hatte sie gemeint.

Georg dachte an Melinda und blendete Elisa langsam aus.

Die kleine Melinda, wie er sie als Kind kennen gelernt hatte. Die jugendliche Melinda, wie er sie zu lieben gelernt hatte. Die reife Melinda, wie er um ihre Hand hatte angehalten. Warum war er ihr damals nicht gefolgt, als sie es vorgeschlagen hatte. Warum hatte er sich nicht einfach mit ihr in ein Flugzeug gesetzt und war losgeflogen, wohin auch immer. Es hätte so einfach sein können. Nur er und sie und nach einer Zeitlang in der Fremde, währen sie wohl zurückgekommen. Die Arbeit, irgendwer musste ja schließlich Geld verdienen, das wars, sagte er sich. Er hätte ja nicht alles hinwerfen können, dann um die halbe Welt reisen und schlussendlich hoffen, dass ihn der Verlag wieder als Lektor nehmen würde. Georg wusste, dass er gut war, aber nicht so gut, dass er sich alles hätte erlauben können. Nicht, dass er sich nichts traute, aber es musste in einem realistischen Rahmen bleiben. Marokko! Warum gerade Marokko?! Er schüttelte den Kopf und starrte auf eine Taube, die gurrend um den Tisch wackelte um ein paar Brösel zu ergattern.

"Hörst du mir überhaupt zu?", Elisas Stimme durchbrach erneut seine Gedanken.

"Nein, was hast du gesagt?", sagte er ehrlich aber doch schuldbewusst.

"Ich habe gesagt, dass ich mich scheiden lassen werde. Und dass es mir leid tut, dass ich deine Zeit so offensichtlich verschwende.
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"

Er sah sie an: "Weißt du, was dein und Harald Problem ist" Ihr seit zwei heliozentrische Sonnensysteme die durch Zufall kollidiert sind und jetzt stellt ihr erstaunt fest, dass die Planeten des jeweils anderen nicht um eure Sonne kreisen."

"Willst du damit sagen ich sei egoistisch?!"

"Nein eher egozentrisch, das führt noch eine Spur weiter. Du bist der Mittelpunkt und alles um dich herum ist unwichtig."

"Ich dachte du magst mich", schluchzte sie.

"Ich konnte dich leiden. Als wir uns auf dieser Party - kurz bevor Melinda abgereist ist - kennenlernten, da fand ich dich sogar sehr humorvoll und interessant. Natürlich nicht so wie Melinda, aber auf eine andere weise. Aber jetzt wo dich die Zeit eingefärbt hat, bist du eine depressive, traurige Frau geworden. Wo ist dein Funke? Das Lächeln, mit dem du alle Bösartigkeiten aus der Welt gefegt hast?"

Elisa kühl und distanziert, strich sich die Haare aus dem Gesicht, "hast du mich dafür treffen wollen? Um mir das zu sagen? Von wegen, ich sei der einzige Mensch dem du etwas anvertrauen könntest."

"Ich wollte mich verabschieden.", nun hatte er es tatsächlich gesagt, "und dir Glück wünschen."

"Wann kommst du wieder?", fragte sie nüchtern.

"Ich glaube nicht, dass ich zurückkommen werde. Ich werde sie finden und bei ihr bleiben."

"Kommst du nicht etwas spät auf diesen Gedanken? Was willst du tun, wenn du sie nicht findest. Immerhin ist es schon eine Weile her, seitdem sie weg ist. Sie könnte überall sein, vielleicht ist sie auch schon.."

"Sie lebt und ich werde sie finden." Georg schwieg eine Weile, dann stand er auf, küsste Elisa auf die Stirn und ging aus dem Cafe hinaus auf die Straße.



Kapitel II

Georg lag in dem kleinen Zimmerchen, in der Herberge, die anscheinend die Hälfte, der auf dem Schiff befindlichen Reisenden aufgenommen hatte.

Draußen stand die Luft und er hatte bei jedem Schritt das Gefühl gehabt durch flüssiges Glas zu gehen. Jeder Atemzug schmerzte und seine Haut ächzte unter dem gewaltigen Ansturm der Sonnenstrahlen.

Dem Portier hatte der Name Erder nichts gesagt.
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Er zog die Postkarte aus seiner staubigen Tasche und strich mit dem Finger darüber. Auf ihr war das Motiv der Straße von Gibraltar, ein Markt und ein paar unscheinbare Häuser zu sehen. Die Postkarte war am 27. Juni 1955 abgestempelt worden. Er drehte sie um:



"Lieber Georg!

Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich gut angekommen bin und hoffe, dass es dir gut geht.

Ich wünsche dir alles, alles Gute! Werd glücklich!

Deine Melinda"



Er kratze sich am Kopf und starrte die Karte noch immer an. War es eine gute Idee hier her zu kommen? Was war, wenn sie wirklich jemanden anderen gefunden hatte und glücklich war. Vielleicht sogar mehrfache Mutter. Was wollte er hier. Er hätte überall hinfahren können. Wieso genau Casablanca? Wie würde es weitergehen.

Er nahm die Postkarte noch einmal in die Hand und drehte sie herum in der Hoffnung doch noch einen Hinweis zu finden, der ihm bis jetzt entgangen war. Kein Absender. Nur der Poststempel, der geduldig all die Jahre nun schon auf der Karte hing.



Die Stadt schien mit der zunehmende heraufziehenden Nacht mehr und mehr zu erwachen. Er ging plan- und ziellos durch die Stadt und ließ sich von der Atmosphäre treiben. Die Basars schlossen, die Händler räumten ihre Waren auf gebrechliche Karren und gingen davon, während im Hintergrund kleine Lokale und Spelunken zum Leben erwachten. Er seufzte und setzte sich auf eine Bank. Melinda Erder. Was hätte er getan, wenn er damals einfach auf und davon gezogen wäre? Vor allem aber nicht gefunden werden wollte. Zum einen hätte er sicher keine Postkarte geschrieben, das war klar. Wahrscheinlich wollte sie ja, dass er kommt. Sicherlich wollte sie das, sonst hätte er ja keine Karte geschrieben. Vermutlich hatte sie sogar gewartet. Am Hafen gewartet, bis sein Schiff anlegen würde und wäre ihm dann um den Hals gefallen, wenn er von Bord gegangen wäre. Jetzt da fünf Jahre vergangen waren, standen die Chancen sichtlich schlecht, dass sie noch immer dort warten würde.

Er schrie sich innerlich an. Wie man sich so in eine Illusion hineinsteigern konnte. Sie ist gegangen und ich bin geblieben. Das ist nun eine Weile her - nun versuche ich sie zu finden. Was also hätte ich getan? Ich wäre per Schiff gekommen und hätte mich unter falschem Namen registriert.
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Das wird sie auch gemacht haben. Also nicht Melinda Erder. Vielleicht Melinda Gruber, Melinda Haas, Melinda Ruw, Melinda.. Neuber! Genau Neuber. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Melinda war das uneheliche Kind von Hermine Erder und Stephan Neuber. Sie hieß zwar offiziell Erder doch nannte sie sich ab und zu Neuber.

Sie meinte, das wäre die logische Konsequenz, wenn man ein uneheliches Kind wäre. Man hätte dann den Vorteil man könne sich jeden Tag aussuchen welchen der beiden Namen man tragen wollte.

Melinda Neuber. Er ging zurück zu der Herberge und ignorierte das immer stärker werdende Hungergefühl in ihm.



"Neuber!?", der Portier sah Georg fragend an und schüttelte dann den Kopf um in gebrochenem Französisch zu antworten: "Nein, wann soll das gewesen sein?"

"Vor fünf Jahren in etwa. Ihr Name war Melinda Neuber. N e u b e r!", sagte Georg eifrig.

"Fünf Jahre. Ich arbeite aber erst drei hier. Ich weiß nicht.", der Portier schien sichtlich erleichtert zu sein, dass er die Frage von sich abwenden konnte.

"Das gibt es nicht!", verärgert hielt Georg einen Moment inne um dann fortzusetzen: "Was ist mit ihrem Vorgänger?"

"Der ist gestorben, deshalb habe ich den Posten übernommen."

"Können sie mir vielleicht sagen, wie ich sie finden kann."

Der Portier hatte anscheinend Mitleid, mit dem etwas heruntergekommen wirkenden Fremden der ihn mit seinen leuchtenden Augen durchbohrte.

"Haben sie ein Foto?"

"Ja, hier!", Georg zog seine Brieftasche hervor und zeigte dem Portier eine etwas zerknüllte Schwarz-weiß Fotographie.

"Das ist doch Frau Porter!"

"Sie kennen diese Frau?!", Georg hatte innerlich die Hoffnung fast aufgegeben und sich selbst schon diverse Bars und Behörden abklappern sehen, um sie zu finden.

"Natürlich. Sie war die Buchhalterin.", der Portier grinste über beide Backen, "eine sehr hübsche und nette Frau. Sie hat hier gearbeitet."

"Wo kann ich sie finden?", unterbrach ihn Georg.

"Sie ist fort gegangen, vor etwa zwei Monaten.
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"

"Wohin? Alleine?", Georg hatte sich unwillkürlich über das Pult gebeugt und bedrängte den Portier.

"Lassen sie mich, ich erzähle ihnen schon was sie hören wollen.", Georg rückte ein wenig zurück, "Sie ist nach Algerien gereist. Sie wohnt dort bei der Familie ihres Mannes."

Ihres Mannes. Er hatte es gewusst, er hatte es jeden Tag kommen sehen. Sie war verheiratet.

"Wohin in Algerien?", stieß er hervor.

"Reggan, ein kleiner Ort in der Wüste."

"Wie komme ich dahin?"

"Am billigsten zu Fuß", der Portier lachte, weil er glaubte einen guten Witz gemacht zu haben, "nein sie nehmen die Karawane. Dauert ungefähr einen Monat, dann sind sie dort."

"Das ist zu lange. Gibt es nichts schnelleres?", Georg war nervös, der Gedanke, dass er versucht hatte sie fünf Jahre zu verdrängen, war vergessen und er stellte sich immer und immer wieder die Frage warum er nicht schon viel früher hierher gekommen war.

"Flugzeug. Das ist schneller. Aber ich weiß nicht ob sie soviel Geld haben.", der Portier grinste.



Kapitel III

"Nächster". Georg zwängte sich in die Kabine und schloss die Tür hinter sich. Dann zog er einen kleinen Zettel aus der Tasche und wählte die mit Bleistift darauf geschriebene Nummer.

"Bei Rude, Ja?"

"Ich bins, Elisa"

"Georg?! Was willst du? Ich dachte du bist in Marokko!?"

"Bin ich auch. Hör mir zu, es ist wichtig. Du bist die letzte Person auf der Erde, der ich mich noch anvertrauen kann."

"Ich dachte ich kenne dich überhaupt nicht mehr."

"Hör zu Elisa, ich weiß du bist ein guter Mensch. Ich weiß auch, dass wir beide viel gesagt haben, was wir nicht hätten sagen sollen. Ich wollte mich nur noch einmal verabschieden."

"Was ist passiert?"

"Ich bin ihr auf der Spur. Sie ist nach Algerien mit ihrem Mann gefahren."

"Ihrem Mann", Georg glaubte einen Funken Erleichterung in ihrer Stimme gehört zu haben.

"Ja sie ist verheiratet.
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"

"Warum kommst du dann nicht zurück. Rechnest du dir immer noch Chancen aus?"

"Nein. Ich muss sie einfach sehn. Muss mit ihr reden. Ich habe fünf Jahre versucht sie zu vergessen und es nicht geschafft. Es muss nun ein Ende finden." Georg hörte ein Schluchzen. Elisa weinte.

"Was willst du von mir? Mich demütigen?", sagte sie zornig.

"Ich möchte nur, dass du mich nicht vergisst. Es ist alles so fremd hier, wenn ich nicht mehr zurückkomme, sag ihnen was ich gemacht habe. Sag bescheid was zu tun ist."

"Sonst noch etwas?", Elisa versuchte kalt und abweisend zu wirken, was ihr nur sehr schlecht gelang.

"Nein", sagte Georg und es schien ihm als würde er über die Telefonleitung ein Echo seiner Stimme hören, das ihm immer wieder zuflüsterte "Nein, Nein, nein,..."

"Ich liebe dich", sagte Elisa.

"Ich muss gehen", Georg flüsterte beinahe.

"Vergiss mich nicht", sagte er noch.

"Vergiss du mich nicht. Ich werde auf dich warten.", Georg hörte diese Worte nicht mehr, denn er hatte den Hörer schon über die Gabel geführt und abrupt fallen gelassen.



Das Flugzeug stand schon bereit, alles er am Flughafen ankam. Flughafen war eigentlich eine übertriebene Bezeichnung für die sandige Piste ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Er bezahlte das Taxi, nahm seinen kleinen Koffer und ging auf das Flugzeug zu. Der Portier hatte alles für ihn erledigt, obwohl sich Georg nicht sicher war, wie viel ihm schlussendlich seine Unwissenheit der Sitten und Gebräuche dieses Landes kostete. Er dachte nicht an den Preis, auch nicht daran, dass er dafür in Europa ein paar Monate überdurchschnittlich gut hätte leben können.

Der Kapitän grüßte ihn freundlich und er stieg in die zweimotorige Maschine. In der Maschine saß noch ein Geschäftsmann mittleren Alters, der nach In Salah wollte, eine knappe Flugstunde hinter Reggan. Er sprach so gut wie nichts. Georg vermutete daher, dass er entweder kein Interesse an ihm hatte oder einfach nicht die gleiche Sprache sprach.



Sie flogen nun schon vier Stunden, doch es kam Georg vor, als würde sich das Land unter ihnen kaum verändern.
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Eine Düne nach der anderen und jede war für ihn ein kleines Deja-vu Erlebnis.

Der Pilot meinte sie würden in der nächsten Stunde ankommen, gesetzten Fall, das Wetter blieb so.

Georg hatte die schwarzen Wolken aus dem Fenster gesehen und verstand die Anspielung. Die düstere Wolkenfront hatte sich gebildet als sie die Grenze zu Algerien überflogen hatten. Anfangs noch ganz unscheinbare Wölkchen formierten sich zu einer schwarzen undurchsichtigen Mauer, die nichts gutes verhieß.

Als der Pilot bat sich auf einige Turbulenzen einzustellen, war der Geschäftsmann schon längst angeschnallt. Soweit sich Georg erinnern konnte, hatte der Mann bis auf ein paar kurze Momente nur aus dem Fenster gestarrt.

"Ich habe Flugangst", sagte er plötzlich in einwandfreiem französisch, ohne Georg anzusehen.

"Warum fliegen sie dann?", fragte Georg und musterte ihn genauer. Er erinnerte sich an die verstohlene Geste die er dem Kapitän gegeben hatte, als dieser mit Georg über den Flug nach Reggan geredet hatte.

"Sie wollen also nach Reggan?", fragte der Fremde.

"Ja.. und sie nach In Salah, soweit ich weiß.", versuchte Georg ein Gespräch zu beginnen.

"Wen suchen sie in Reggan." Der Fremde schaute Georg nun mit zwei kleinen Augen an, als wolle er ihn visuell sezieren.

"Eine alte Freundin. Man hat mir gesagt, sie sei dort."

"Für wen arbeiten sie?" Der Fremde schaute listig zu ihm herüber, "Was glauben sie in Reggan zu finden?"

"Wir das ein Verhör? Ich habe ihnen bereits alles gesagt", erwiderte Georg stur.

"Sie werden mir am besten alles sagen.", der Fremde zückte eine kleine Pistole.

"Was wollen sie von mir?", Georg - plötzlich in der Defensive - versuchte seine Gedanken zu ordnen, ging seine Optionen durch und entschied sich wahrheitsgemäß zu antworten: "Johann Alfred Buchdruck in Wien. Ich bin Lektor."

"Ah ich verstehe. Und sie halten es für die natürlichste Sache der Welt, dass sie hier einfach nach Algerien fliegen. Noch dazu illegal, einfach über die Grenze. Haben sie keine Angst?"

"Hier, wollen sie meinen Pass sehen?", Georg zog den Pass aus der Tasche und warf ihn hinüber.
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Das Flugzeug wurde von der Gewitterwolke eingeholt und zitterte wie ein kleines Tier in einer kalten Nacht.

"Es ging nicht um den Pass, ich schmuggle nichts und habe auch nichts zu verbergen. Es geht darum, dass ich so schnell als möglich nach Reggan muss um die Frau zu finden, die ich noch immer Liebe."

Der Fremde, sichtlich etwas überrascht von der prompten Antwort, lies sich dennoch nicht einschüchtern:

"Natürlich, die Frau die sie lieben. Was besseres ist ihnen nicht eingefallen Müller!"

"Wer ist Müller?"

"Stellen sie sich nicht so dumm an, sie sind Müller, ich bin Joseph, sie arbeiten für den Geheimdienst der DDR, ich für den SDECE"

"Sie arbeiten für den Französischen Geheimdienst?", Georg war etwas verblüfft.

"Oh, tun sie nicht so, als hätten sie das nicht gewusst!", sagte der Mann der sich Joseph nannte und stand auf.

"Und jetzt sagen sie mir was sie in Reggan wirklich wollen!"

"Hör zu Joseph. Ich möchte meine Frau finden und ich heiße Zirk und nicht Müller und ich arbeite nicht für den Geheimdienst der DDR!", Georg wollte aufstehen, doch die Maschine fiel just in dem Moment in ein Luftloch und so stürzte er. Auch Joseph war gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen. Georg versuchte zu dem Kapitän nach vorne zu gelangen doch Aufgrund der Vibrationen war das unmöglich. Er hörte die Stimme des Piloten stark verzerrt über den Lautsprecher. "Wir.. Sturm geflo.. schwe.. Triebwerk.. ausgefal! Notlandung".

Es schien als würde das letzte Wort rot in seinem Kopf rotieren, als er spürte, dass sich die Nase des Flugzeugs nach unten richtete.

Er hörte hinter ihm ein Schnaufen und drehte sich um. Joseph stand auf wackeligen Beinen, auf der Stirn hatte er eine blutende Wunde. Seine Pistole zielte auf ihn: "Sie kommen nicht nach Reggan! Sie nicht."

Er schoss. Der Schuss traf nicht sein vorherbestimmtes Ziel sondern ging - dank der Turbulenzen - durch die Türe ins Cockpit. Sie hörten einen Schrei und das Flugzeug schien sich aufzubäumen wie ein getroffenes Tier.
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Georg riss die Türe auf und sah den Piloten der versuchte das Steuer fest zu halten, was ihm aufgrund der Wunde - der Schuss hatte ihn rechts unterhalb der Lunge getroffen - nur schwer gelang. Er zeigte auf eine Stelle hinter ihm und als Georg nicht gleich begriff versuchte er zu sprechen, was dazu führte, dass er Georg mit Blut bespuckte. Dann sah er was der Pilot meinte. Ein Fallschirm.

Er nahm ihn an sich und ging ohne zu überlegen in den Passagierraum. Dort klammerte sich Joseph an seinen Sessel und als er ihn sah richtete er die Pistole auf ihn. "Fallen lassen!"In dem Moment riss der Pilot mit letzter Kraft die Maschine herum und Joseph wurde gegen die Wand geschleudert. Er stöhnte. Georg zögerte nicht, nahm die Waffe an sich und schnallte sich den Fallschirm um.

Dann sah er hinunter zu dem zusammengekrümmt am Boden liegenden Körper, entriegelte die Türe und hatte kein Zeit zu zögern, denn er wurde augenblicklich hinausgezerrt.



Kapitel IV

Als Georg erwachte hatte die kalte Nacht schon ihren sternenbesetzten Mantel über ihm ausgebreitet. Er fror. Langsam kamen die Erinnerungsfetzen zurück. Er war aus dem Flugzeug gesaugt worden, hatte mit der Reißleine gekämpft und war als Sieger hervorgegangen. In der Ferne hatte er Lichter gesehen. Dutzende Lichter und eine Lastwagenkarawane. Lastwägen, die sich von der Lichtkonzentration wegbewegten. Dann verblassten die Lichter und auch seine Erinnerung. Ich muss bei der Landung wohl bewusstlos geworden sein dachte er.

Dann saß Georg Weile und suchte den Horizont nach den Lichtern ab, doch es waren keine mehr zu sehen.

Später stand er auf, schnallte sich den Fallschirm ab und ging in die Richtung in der er die Lichter vermutete, auf dem Weg, den er als Piste versuchte zu identifizieren. Später, als er spürte, dass er Durst bekam und die Sonne im Begriff war aufzugehen, setzte er sich nieder und verfluchte sich, die Wüste und Joseph. Dann schlief er ein.



"Was ist mit ihnen?!", wiederholte der Mann. "Sagen sie schon was!?"

"Ich habe Durst.", sagte Georg langsam.

"Kein Wunder, sie sehen ja total vertrocknet aus.", sagte der Mann und lief auf ihn zu. Er gab ihm aus einer Feldflasche zu trinken.
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"Was machen sie hier?", fragte der Mann.

"Das gleiche könnte ich sie fragen.", entgegnete Georg schroff.

"Ich arbeite für eine Firma, die Trinkwasseraufbereitungsanlagen in der Wüste installiert", sagte der Fremde.

"Einfach so? Ohne Bedarf, stellen sie diese Anlagen in die Wüste?", Georg musste lachen bei dem Gedankten.

"Das muss die Hitze sein", sagte der Fremde mehr zu sich selbst. "Trinken sie noch etwas. Ich werde sie nach El Ramid bringen".

"Ich muss aber nach Reggan.", entgegnete Georg und versuchte aufzustehen.

"Das ist eine ganz schlechte Idee. Was wollen sie denn dort?", erkundigte sich der Fremde.

"Ich suche meine Frau. Melinda."

"Melinda..?"

"Melinda Neuber", triumphierte Georg.

"Das kann nicht sein.", der Fremde stotterte.

"Kennen sie sie?", Georg war sich sicher, auf der richtigen Spur zu sein.

"Wenn wir hier von der gleichen sprechen, sprechen sie von meiner Frau. Sie heißt Melinda Neuber als ich sie kennen gelernt habe."

"Was? Das ist unmöglich. Sie sagten selbst 250.000 Quadratkilometer Wüste und sie glauben tatsächlich, dass ich ihnen glaube, dass sie meine Frau gekannt haben?"

"Sie war vorher nicht verheiratet.", sagte der Fremde und starrte Georg an, als wolle er direkt in seine Gedanken blicken.

"Doch war sie, fast! Um ein Haar! Und zwar mit mir!", Georg spürte den Wassermangel und wollte nach der Flasche greifen.

"Sie hat mir erzählt, wer sie sind. Sie müssen Georg sein. Der verrückte Georg, der sie bedroht hat, weil sie ihn nicht heiraten wollte, richtig?!", der Fremde ging einen Schritt zurück, schloss die Flasche und steckte sie unter den begehrlichen Blicken Georgs in seine Tasche.

"Ich war nicht verrückt und bin es noch immer nicht. Aber vielleicht auf dem besten Weg dorthin. Ich habe ihr vor 5 Jahren einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe sie auf Knien um ihre Hand gebeten, aber sie hat abgelehnt."

"Und jetzt - 5 Jahre später - fällt ihnen plötzlich ein, dass es da ja noch Melinda gibt und sie fahren bis hierher.
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. in die Wüste um sie zu finden. Wie romantisch.", spöttelte der Fremde.

"Es war so. Wir wollten heiraten. Aber sie wollte dann doch nicht und so ging der ganze Plan den Bach hinunter.", Georg krampfte seine Hand zusammen.

"Natürlich der Plan. Sie hätten von ihrer Mutter ein schönes Stück Land und einen Batzen Geld geerbt, hätte sie nur noch Enkelkinderchen auf ihrem Schoss sitzen haben können, stimmts?! Melinda hat es mir erzählt, sie waren doch nur auf das Geld versessen. Ich verstehe nur nicht, warum sie nicht eine andere gefunden haben. Eine, der all das egal war, die Demütigung, der Umstand, dass sie sie nur wegen des Geldes heirateten und so fort!", das Gesicht des Fremden war rot angelaufen und Georg beobachtete wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten. Der Fremde wirkte wie eine Karikatur eines Standurlaubers, der sich auf dem Weg zum Pool in der Sahara verlaufen hatte. Sein buntes Hemd war durchgeschwitzt, seine weiten Hosen flatterten im leichten Wind.

"Sie hätte es so gut haben können, doch jetzt ist es wohl zu spät. Sie hat das Leben in der Wüste gewählt, daran kann ich nichts mehr ändern. Wie geht es ihr?? Georg lächelte mit einem mal optimistisch und grinste den Fremden an, dass es dieser mit der Angst zu tun bekam.

"Sie ist in Reggan.", begann dieser.

"Fein, dann will ich sie trotzdem noch einmal sehen, ich möchte ich soviel sagen - wenn sie gestatten Herr Gemahl!". Das letzte Wort sprach Georg mit einem süffisanten Lächeln auf seinen Lippen aus, dass ihm jedoch im nächsten Augenblick in den Hals rutschen sollte und dort einen Klos bilden würde.

"..sie ist tot."

"Woran?"

"Sie war Chemikerin, hat hier für die Französische Regierung gearbeitet."

"Warum?"

"Wissen sie nichts über Reggan?"

"Wie ist es passiert?"

"Bei aller Trauer", Oskar sah auf seine Uhr. Sie zeigte fünf vor fünf, "sie müssen weg von hier. In zwei Stunden ist hier die Hölle los. Im wahrsten Sinn des Wortes."

"Wie ist es passiert?!!!", schrie Georg plötzlich auf, sodass der Fremde zurückzuckte und die Schweißperlen wild umhertanzten auf seiner Stirn.
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"Nun gut, da sie ja soviel Zeit haben werde ich es ihnen kurz und schmerzlos ins Gesicht werfen: Sie ist bei der Explosion einer Versuchsanordnung vor drei Wochen gestorben. Wir haben sie in Reggan beerdigt. Und jetzt müssen wir fort von hier!", der Fremde machte Anstalten Georgs Hand zu fassen, doch dieser zog sie schnell zurück.

"Ich muss nach Reggan!", schnaufte Georg, "ich muss ihr Grab sehen!"

"Sie sind verrückt! Auch wenn ich es mir nicht vorstellen kann, dass sie es noch nicht wissen, sage ich es ihnen: Reggan ist militärisches Sperr- und Testgebiet!"

Georg schlug noch einmal die Hand des Fremden beiseite, als ihn dieser zu fassen versuchte.

"Lassen sie mich, ich werde das den Wachen schon erklären.", sagte Georg.

"Vergessen sies, es gibt keine Wachen. Das ist ein Atombombentestgebiet und wir sind noch in der Sperrzone. Verschwinden sie jetzt mit mir!"

"Atombomben interessieren mich nicht.. ich muss nach Reggan."

"Das ist ihr Tod!", der Fremde ging zu ihm hin, riss ihn an der Schulter und sah ihn verärgert aber doch auch flehenden Blickes an: "Verstehen sie nicht? Sie werden es nicht schaffen. Sie hat an dem Programm mitgearbeitet, ihre Aufgabe war militärische Forschung, sie ist hier gestorben und wir haben sie hier bestattet, weil sie es so wollte. Sie wird verdampfen und ihr Grab wird sich in Glas verwandeln."

"Und wenn schon!", Georgs irrer Blick traf den Fremden. Dieser stieß ihn an und schrie ihm zu, während er auf das Auto zuging: "Mein Name ist übrigens Oskar, nur damit sie mit dem letzten lebenden Gesicht noch etwas verbinden, mein Freund"



Georg hörte das Auto wie es anstartete, er hörte auch, dass Oskar noch wartete und erst als Georg sich schon einige hundert Meter entfernt hatte, hörte er das aufheulen des Motors hinter sich. Vor ihm musste Reggan liegen. Wenn er sich beeilte war er in guten zwei Stunden dort. Dann würde er zusammen mit seiner Geliebten in einem nuklearen Feuersturm atomisiert und würde sich mit ihr vereinigen. Vielleicht lebten seine Atome neben den ihren in einem Stein weiter, vielleicht würden sie sich in anderen Lebewesen, wer weiß - sogar Menschen - wiederfinden.
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Am 13. Februar 1960 explodierte die erste französische Atombombe mit dem Namen gerboise bleue in der Algerischen Wüste. Sie besaß eine Sprengkraft von 120 Kilotonnen, was in etwa 6 Hiroshimabomben entspricht. Sie fegte den Ort Reggan sowie einige kleinere evakuierte Nomadensiedlungen vom Antlitz dieser Erde und verdampfte den toten Körper von Melinda Müller und Georg Zirk, der vor ihrem Grab gelegen war.
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