Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Mitty      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 13. Oktober 2002
Bei Webstories eingestellt: 13. Oktober 2002
Anzahl gesehen: 1889
Seiten: 2

Manche sagen, wenn man stirbt, ist alles aus.

Manche sagen, wenn man stirbt, kommt man vor das Jüngste Gericht.

Manche sagen, wenn man stirbt, fährt man auf in den Himmel, zu Jesu Christ, um dort ewig zu leben.



Ich glaube, es ist mehr als das.



Ich habe mich lange und viel mit dem Tod beschäftigt.

Wie soll man sich auch mit etwas anderem beschäftigen, wenn man täglich damit zu tun hat?

Ich habe sie alle sterben sehen. Reiche, Arme, Junge, Alte, Gesunde, Kranke…

Und sie alle – egal, wie verschieden sie sein mochten – hatten diesen Ausdruck in den Augen, kurz bevor das Leben aus ihren Körpern wich.

Diesen Ausdruck, der eigentlich so wenig sagt, aber doch so viel verrät.

Manche sagen, das wäre eine Reaktion des Körpers, kurz bevor das Herz stehen bleibt. Manche sagen, ich würde mir das nur einbilden.



Ich glaube, es ist mehr als das.



Ich bin Wärterin im Todestrakt eines Gefängnisses.

Bei jeder Hinrichtung bin ich dabei, sehe, wie die Sträflinge die letzten Worte ihres Lebens sprechen und ihren letzten Atemzug tun, wenn das tödliche Gift, das ihnen durch die Spritze zugeführt wurde, zu wirken beginnt.

Sie haben alle ihre Strafe bekommen. Nun sind sie mit der Welt wieder im Reinen.

Manche sagen, der Tod ist die einzig gerechte Strafe für solch schlimme Taten.

Manche sagen, „das ist eben das Gesetz.“



Ich glaube, es ist mehr als das.



Der kalte Novemberwind kriecht unter meine spärliche Bekleidung, lässt mich zittern.

Ich stehe oben auf dem Geländer der Brücke, tief unter mir das in der Abendsonne glitzernde Wasser.

Tränen rinnen über meine blassen Wangen, tausende Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum.

Mir wird schwindelig und ich beginne, zu taumeln.

Morgen werde ich bei keiner Hinrichtung dabei sein. Übermorgen auch nicht. Überhaupt nie wieder.

Meine Knie werden weich, ich rutsche fast ab. Schluchzend klammere ich mich an der eiskalten Eisenstange fest, starre auf das glatte Wasser.

Ich kann mit dieser Schuld nicht mehr leben. Ich kann nicht Tag ein, Tag aus dabei zusehen, wie Menschen sterben.

Schuldige. Aber auch Unschuldige.
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Ich habe mit meinen Kollegen darüber gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich es nicht mehr kann.

Manche sagen, das ist nun mal unser Job, das ist genauso wie Brötchen backen.

Manche sagen, es ist nichts als Gerechtigkeit.



Ich glaube, es ist mehr als das.



Ein letztes Mal denke ich an all die Menschen, die ich habe sterben sehen.

Dann lasse ich los. Während ich falle, spüre ich den kühlen Wind, rieche die frische Luft.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe, wenn das hier vorbei ist.

Vielleicht trete ich vor Gott.

Vielleicht werde ich wiedergeboren.

Vielleicht treffe ich all die Menschen wieder, die starben, als ich dabei war.

Vielleicht komme auch ich mit der Welt wieder ins Reine.



Am nächsten Tag werde ich tot aufgefunden.

Der Aufschlag hat mich nicht getötet, ich bin im eiskalten Wasser erfroren.

Auf meinen Lippen ein leises Lächeln, und in meinen Augen dieser Ausdruck.

Es ist derselbe Ausdruck, den alle Menschen hatten, die ich habe sterben sehen.



Es ist Reue.



Und ich glaube, es ist noch mehr als das.
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Kommentare zur Story:

  Ja, warum hat die Protagonistin eigentich nicht den Arbeitsplatz gewechselt? Woher diese panische Angst? Sie war ja nur Wärterin und kein Henker. Weder hat sie die Gesetze gemacht, noch die Urteile gesprochen, auch die Infusionsflaschen nicht aufgedreht.
Eigentlich ist sie an überhaupt nichts Schuld, und deswegen scheint die Reaktion so überzogen.
Andererseits: Wer will schon wissen, wann und woran ein Mensch zerbricht?
Erinnert mich ein bisschen an den Film "The Green Mile", der Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen.
4 Punkte  
Gwenhwyfar  -  28.11.02 13:54

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Schaurig und wunderschön zugleich, aber eben ganz einfach nur traurig. Sehr tiefgreifende Gedanken, die mich förmlich gefesselt haben. Mach weiter so...  
Destiny  -  24.10.02 17:52

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Viel Gedanken hast Du Dir gemacht über die Todesstrafe, aber hätte eine Versetzung oder eine Kündigung nicht auch ihren Zweck erfüllt ?
Warum müssen sich die Menschen immer gleich umbringen ?
4 Punkte für Deine Gedanken.
Ein Kopfschütteln für den Selbstmord, der in der Situation nicht nötig war.  
Maxson  -  14.10.02 07:52

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Echt super krass gut!

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