Skorui Pojesd - Und wieder kein ICE   67

Erinnerungen · Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise

Von:    Silke Erdmann      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 26. März 2002
Bei Webstories eingestellt: 26. März 2002
Anzahl gesehen: 4300
Seiten: 5

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Russische und kasachische Gesprächsfetzen, kasachische Lieder, darunter zu Beginn und am Ende der Fahrt die Nationalhymne, das Zuklappen der unteren Sitzbänke, wenn man darunter sein Gepäck verstaut hat. Händler, die Zeitungen und Obst anpreisen. Die Frauenstimme, die in automatisiertem Singsang Kaffee, Wasser und Kefir anbietet. Das Quietschen ihres Wägelchens, das sie durch den Zug schiebt.

Das sind die Geräusche kasachischer Züge.

Das Parfüm aller Frauen, die Schweißfüße einiger Männer, der Knoblauch im kasachischen Möhrensalat, gebratene Hühnerkeulen, Bier und Trockenfisch,- das sind die Gerüche dieser Züge.

Nicht das Schweigen und die Sterilität der deutschen Bahn.

Auch nicht das unerbitterliche Rasen durch Raum und Zeit, sondern ein gemütliches Dahinrattern durch die Weite und die Ferne. Alles ist hier weit, der Himmel, die Steppe. Alles ist fern, weil alles verstreut ist und wie zufällig an den jeweiligen Ort geraten scheint.

Alles ist weit und alles ist fern, und doch sagen die Leute auffällig oft: „Nicht weit von...”.

Bei diesen Worten zucken die hier länger verweilenden Deutschen zusammen, denn das russisch-kasachische „Nicht weit von” bedeutet im Deutschen die Ewigkeit.

Raum und Zeit vermischen sich hier. Wie weit ist es von Almaty nach Astana? Einen Tag mit dem Zug. Kilometerzahlen sind nicht wichtig. Entfernung wird in Stunden gemessen. Oder in Tagen. Wie weit ist es von der alten Hauptstadt zur neuen Hauptstadt? Eine Ewigkeit. Und tatsächlich liegt eine Ewigkeit zwischen ihnen. Welten.

Die alte Welt und die neue Welt. Die alte und die neue Hauptstadt.

Die junge Hauptstadt Astana prahlt mit ihren Regierungsgebäuden, mit dem Prospekt der Republik. Alles ist hoch, gläsern, neu und wird immer gern zu Zwecken der Staatswerbung fotografiert. Man gibt sich sehr viel Mühe, aber es wirkt noch immer gekünstelt. Wie im Monopoly-Spiel. Wer errichtet die größten Häuser, wer kann die höchste Miete verlangen.

Astana - Stadt des 3. Jahrtausends. Weltstadt. „Blühe, mein Astana!” prangt von den Plakatwänden. Und „Wir machen die Stadt grün!”. Astana blüht noch immer sehr schwach neben Almaty (ehemals Alma-Ata), der alten Hauptstadt. Die ist grün, die hat Berge, die ist im Winter nicht -45 Grad kalt.
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David gegen Goliath. Ein Hauptstadtspiel.

Durchreisende besuchen nur Almaty. Dort sind die Botschaften, dort sind die Kulturzentren, dort ist, was wichtig ist. Wichtig scheint.

Joschka Fischer aber hat ein Zeichen gesetzt,- er ist nur nach Astana gekommen. Das ist, als hätte endlich das Ausland die neue Hauptstadt anerkannt.

Und wieder gab man sich Mühe: Die Straßen, auf denen Joschka chauffiert wurde, wurden neu geteert und mit neuen Fußgängerampeln (noch funktionieren aber die Knöpfe nicht) ausgestatten. Häuser wurden neu verputzt,- aus Zeitmangel oder aus praktischen Denken nur die Seiten der Häuser, die er auch tatsächlich sieht.

Neuer Fußbodenbelag, neue Tische und Stühle in den Räumen, in die er gehen sollte.

Kasachstan weiß sich zu verkaufen.

Die alten Hütten, die aussehen, als seien sie russischen Märchen entsprungen, stehen hinter den neuen Bauten, hinter den Fassaden. Das sind die Ecken, in denen das Leben natürlich wirkt. Dort riecht man, wo die Schweine gehalten werden und wo die Toilettenhäuschen stehen. Dort werden die Stromleitungen angezapft, dort wird das Wasser noch vom Brunnen geholt. Von den Hauptstraßen aus sieht man diese Viertel nicht. Obwohl sie nur 100 Meter dahinter sind.

Diese Viertel sehen aus, als seien sie meinem Geo-Buch aus der 7. Klasse entnommen.

Die Zeit scheint stehengeblieben. Die Zeit scheint vorauszurennen mit den Prunkbauten.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tanzen hier miteinander einen faszinierenden, für Ausländer manchmal schwer nachvollziehbaren Reigen. Hier kommt nichts aus der Mode. In den kasachischen Souvenirgeschäften bekommt man neben den kasachischen Trachten die russischen Matroschkas.

Hier hat die Ewigkeit alle Zeit der Welt.

Und die Schnellzüge haben ihren Namen zu unrecht. Ich habe keinen schnellen Zug in Kasachstan erlebt. Diese Züge kämpfen sich stur aber gelassen durch das Land,- wie die Leute durch den Basar.

Die Züge fahren, als wollten sie sich ihre Kraft einteilen. Sie sind weise.

Denn Kraft und Ruhe sind, was man in diesem Land braucht. Und die Händler kämpfen sich mit ihren Massagebürsten durch den Zug wie die Lamadecken-Verkäufer durch die Kaffeefahrten-Teilnehmer Deutschlands.
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Ich könnte mit dem Flugzeug von Astana nach Almaty fliegen, aber ich will nicht. Man ist blind und taub beim Fliegen.

Im Zug fährt man durch Reichtum, durch Armut und durch Nichts.

Nichts,- das ist die Steppe. Die weite und die ferne. Aber jetzt ist sie nicht mehr fern, jetzt ist sie ganz nah, gleich neben den Gleisen fängt sie an.

Und du denkst: Wenn jetzt der Zug nicht mehr weiter kann, dann bist du verloren, dann ist alles vorbei, dann geht nichts mehr.

Aber der Zug kann weiter, die Fahrt ist noch lang nicht vorbei. Sie geht weiter, wie in diesem Land immer alles weiter geht.

Hundert Dörfer, an denen du vorbeifährst. Nein, hundert sind es sicher nicht. Und man könnte sich darüber streiten, ob es sich bei allen um tatsächlich um Dörfer handelt, denn manche bestehen nur aus 3 Häuschen. Und hinter jedem Häuschen ein Toilettenhäuschen. Sie sind keine Attrappen, keine Denkmäler,- sie sind echt, funktionstüchtig und in Gebrauch. Auf manchen Dächern stehen Badewannen und Regentonnen,- manche Häuser haben nicht einmal Dächer.

Vor den Dörfern Kühe und zeitungslesende Kuhhirten.

Und du wünschst dir, der Zug möge noch langsamer fahren oder gar stehenbleiben, damit du fotografieren kannst, was du siehst. Aber dann denkst du: Nein, das hat bestimmt schon hundert Jahre vor dir jemand fotografiert.

Auf den Wiesen vor den Dörfern funkelt das Gras,- kein Morgentau, der in der Sonne glitzert, sondern Müll. Den hat es vor hundert Jahren noch nicht gegeben.

Zwischen den Dörfern sieht man vereinzelt Busse stehen, von denen niemand mehr weiß, wann sie ihre letzte Fahrt gemacht haben oder Scheiben und Räder hatten.

Überraschend tauchen Bahnhöfe auf. Und dort warten die Händler. Kiloweise kann man Erdnüsse kaufen und Äpfel und Birnen.

Wurst, Eier, Schnittlauch und Fladenbrot. Eis, Manti, Blini, Piroschki (man ist im Essen russisch beblieben). Wodka, Bier und Zigaretten.

Die Zugfahrt liefert den Einkaufsbummel gleich mit. Nur wenige steigen auf diesen Bahnhöfen zu. Es scheint, als habe man die Bahnhöfe den Händlern zuliebe errichtet hat. Fast ist es kein Bahnhof, sondern ein geschickt angelegter Basar.
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Paradox geplante Infrastruktur.

In alten Kinderwagen werden die Waren transportiert und angepriesen. Die Kinder, die in diesen Wagen lagen, sind längst selbst zu Händlern geworden.

Viel zu früh fährt der Zug weiter, zu unwirklich wirkt das Getümmel. Wie eine Zeitreise.

Wenn man von Ost nach West fährt, fährt man durch die Zeitzonen. Vorn Nord nach Süd sind es die Klimazonen, durch die man sich träge bewegt.

Und mit den Klimazonen ändern sich auch die Menschen. Der kühle Norden und der heiße Süden. Die Aufteilung ist auf der ganzen Welt gleich und lässt uns daran glauben, dass sie stimmt.

Aber so groß sind die Unterschiede nicht. Im Zug sind keine zu spüren. Alle packen ihre Hühnerkeulen aus, genießen ihren Tee und würden nie behaupten, dass eine solche Zugfahrt Zeitverschwendung ist.

Die Züge sind wie das Land und seine Menschen. Zeit ist nicht wichtig, wichtig ist, dass man sie angenehm verbringt.

Auch die deutschen Züge sind wie das Land und seine Menschen. In Deutschland ist die Zeit wichtig, egal, ob man sie angenehm verbringt oder nicht.

Hauptsache man ist rechtzeitig irgendwo. Die Züge müssen schnell sein und eigentlich noch viel schneller. Und die Mitreisenden müssen schweigsam sein oder am besten gar nicht vorhanden. Denn gesprächige Sitznachbarn stören uns bei der Arbeit.

In Kasachstan nimmt man sich keine Arbeit mit in den Zug sondern Bekannte. Und wenn man keine mitnimmt, dann findet man schnell welche. Leben statt Arbeiten. Aber auch in den kasachischen Zügen stört längst das Handyklingeln die Idylle.

Und nicht überall ist Idylle. Ich bin nie mit den Billigwaggons gefahren. Ich habe keine Ahnung, wie es dort aussieht. Aber ich bin auch nie in den Luxus-Abteils gefahren. Auch wenn das keine Entschuldigung ist.

Irgendwann bricht die Nacht herein, und der Zug wird leiser. Man merkt nicht, dass sich die blühende Steppe des Südens in eine braune verwandelt und dass sie irgendwann wieder verschneit ist. Man wacht auf, und die Schneefetzen im Steppengestrüpp lassen uns den Sommer wie einen Traum erscheinen. Man zieht sein Bett ab, man geht sich waschen. Nur ich nicht,- auf keiner Zugtoilette der Welt könnte ich mich waschen und mich danach sauber fühlen.
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Die Einheimischen beäugen mich deswegen kritisch,- manche fragen sogar, was das soll. Ehe ich es ihnen erklären kann, ertönt die Nationalhymne und der sture Zug spuckt mich aus. Hinein in die Taxifahrermassen mit ihren viel zu hohen Preisen. Weg von dieser Traumreise im Zug, weg auch von den eher unangenehmen Erlebnissen mit eigenartigen Zeitgenossen,- Betrunkene, Exhibitionisten, die gibt es auch hier.

Und wenn ich in den Bus steige, habe ich die Zugfahrt eigentlich schon längst vergessen. Was zählt, ist der Moment. Auch wenn er einundzwanzig Stunden dauert.


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Kommentare zur Story:

  Eine klasse Darstellung vom Erlebnis Kasachstan, die Zugfahrten, die Bekanntschaften, die man macht - ich bin selbst grad aus Kasachstan zurück und ich hab es haargenauso erlebt, einfach suptertoll beschrieben!!!Ich fühlte mich sofort zurück versetzt in das 4er Abteil auf der Fahrt von Pawlodar zurück nach Almaty, als der niedliche kasachische Opa sein Essen mit uns teilte...Genial!!  
Kati Sevke  -  04.11.06 20:04

   Zustimmungen: 5     Zustimmen

  Eine sehr gute Darstellung von dem Unterschied: Ost-West. Die Mentalitäten der einzelnen Völker eben verschieden und sind hier gut aufgearbeitet worden.
[Sabine Buchmann]

Sehr schön geschrieben. Ein paar Fotos dazu, dann wäre es ein perfekter Artikel fürs GEO.
[Robert Brandner]
  
Jurorenkommentare  -  03.05.02 09:59

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  schön... ich fühle mich, als würde ich mit dir im zug sitzen und die leute beobachten. deine erzählung macht das möglich. und ich weiss, dass ich es auch mal machen werde.
eta otschen choroschooooo  
kersti  -  03.05.02 08:08

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  Hallo & Sorry, aber ich habe meine rosarote Brille noch nicht wieder gefunden. Auch diese Geschichte zeichnet sich, wie ich finde, durch 100%ige Humorlosigkeit, sowie das Fehlen jeglicher Originalität aus. Gut geschrieben zwar, aber sterbenslangweilig, genauso langweilig vermutlich wie eine Fahrt durch die Steppe in Wirklichkeit wäre.  
Gerhard Hübl  -  02.05.02 21:33

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  eine lebendige, anrührende reisebeschreibung in eine welt, die unserer so ganz gegensätzlich ist und doch ein riesiger Tel von ihr ist;


  
Selma Palue  -  12.04.02 08:32

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  Schöne Beschreibung einer Zugfahrt der ganz anderen Art. Man denkt, man ist direkt dabei und bekommt Lust, selbst so eine kuriose Fahrt durch die unendlichen Steppen zu machen. Die Weite muss fantastisch sein! Hervorragende, detailreiche Beschreibung einer Zugreise auf der anderen Seite der Welt (die so ganz anders ist als unsere) mit einer Prise Humor. 5 Punkte und eine SPITZE! von mir dazu.  
Stefan Steinmetz  -  11.04.02 22:50

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  danke dass du mich auf deine reise mitgenommen hast.   
waffel  -  08.04.02 22:08

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  Man kann sich richtig vorstellen, wie es in den Zügen aussieht - voll, aber irgendwie familiär und gemütlich.  
Sanne  -  08.04.02 19:30

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Eine Reisebeschreibung, wie sie schöner kaum sein könnte !  
Lord B.  -  02.04.02 20:20

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