Fantastisches · Kurzgeschichten

Von:    Georg Blischke      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 1. März 2001
Bei Webstories eingestellt: 1. März 2001
Anzahl gesehen: 2498
Seiten: 12

Manchmal, wenn der Professor zuviel Gras geraucht hat, weiten sich seine Augen, und er bekommt diesen entrückten Blick, den alle Kiffer kriegen, wenn sie sich entscheiden, sich nicht mehr mit ihrer unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen, und dann scheint es mir, als ob er nicht ins Leere starrt, sondern einfach durch die Dinge hindurchsieht, so als ob er alles und jeden mit einem Blick durchdringen und analysieren könnte. In diesen Momenten ist er mir immer etwas unheimlich, denn dann habe ich das Gefühl, daß er auf wirklich kranke Gedanken kommt, Dinge, die noch absurder sind, als der übliche Schwachsinn, den er vor sich hin brabbelt, wenn ich ihn im Rollstuhl über das Gelände schiebe. Glücklicherweise sind diese Phasen meist nur von kurzer Dauer, man kann förmlich sehen, wie sein Gehirn das THC abbaut und sich seine wilden Gedanken langsam ordnen und er schließlich den logischen Schlußstrich unter das Fazit seiner neuesten These setzt, gewöhnlich begleitet von einem zufriedenen Grunzen und dem notorischen Griff in seinen Tabakbeutel, um sich sein nächstes Pfeifchen zu stopfen.

Ich hocke neben seinem Rollstuhl im Gras und werfe Kieselsteine in den kleinen Teich, beobachte, wie sie sinken und im Trüben verschwinden, während sie konzentrische Wellenkreise auf der Oberfläche auslösen. Eigentlich bin ich mir gar nicht bewußt, daß ich das tue, das heißt, bis ich merke, daß ich ihm wieder einen Anlaß gegeben habe, mir eine seiner Theorien zu unterbreiten.

>>Siehst du das?<< , fragt er plötzlich, während er bemüht ist, die Mischung in seinem Pfeifenkopf peinlich genau zu verteilen, wahrscheinlich nach einer selbstentwickelten Formel, die die optimale Anzahl und Größe von Tabakkrümeln und Grasbröseln pro Kubikzentimeter angibt. >>Ein winziger kinetischer Stoß reicht aus, und die Bewegung erreicht jedes Wassermolekül auf der Oberfläche. Die Energie wird nur durch die Trägheit der Materie und die Reibung der Moleküle untereinander abgebaut. Das ist das Einzige, was die Welle davon abbringen könnte, sich bis in alle Ewigkeit fortzupflanzen, vorausgesetzt, du hast eine unendlich große Wasserfläche. Wie zum Beispiel einen Planeten, der vollständig mit Wasser bedeckt ist.<<

>>Ein Planet ist ein abgeschlossenes System,<< , werfe ich ein, >>die Welle würde sich treffen und selbst überlagern.
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<<.

>>Das mag sein. Aber was, wenn das Universum auch nur ein abgeschlossenes System von sich wiederholenden Mustern ist ? Was spielt das für eine Rolle, wenn sich die Wellen überlagern ? Was zählt, sind die Veränderungen im Muster. Es ist scheißegal wie und von wo sich die Wellen ausbreiten, das wichtigste ist der Stoß und der richtige Zeitpunkt. Den Rest besorgt das Chaos selbst.<<

Er macht eine rhetorische Pause, die er nutzt, um seine Pfeife zu zünden. Er pafft, inhaliert und bläst den Rauch geräuschvoll über den Teich, so daß es aussieht, als würden die Elementargeister des Tümpels vor seinem potgeschwängerten Atem fliehen.

>>Das Muster ist das wichtigste.<< , wiederholt er gedankenverloren und pafft blaue Ringe in die Luft, die sofort auf eine aufkommende Brise aufspringen und in Richtung des Sanatoriums reiten. Auf der großen Wiese spielen ein paar Patienten Ball, eine mongoloide Frau reckt die Arme in die Höhe, um den Ball zu erreichen, doch sie ist viel kleiner als die anderen. Ein dürrer junger Mann mit einem idiotischen Grinsen schwenkt ihn über ihr und lacht sie schallend aus.

Muster, das ist es.

Muster sind alles, was ihn interessiert. Formeln, Theoreme, Studien.

Er macht aus jedem noch so banalen Teil des Alltags eine wissenschaftliche Analyse, egal, ob es um die durchschnittliche Größe der Körner auf den Sesambrötchen am Frühstücksbuffet oder die Umdrehungen eines Rasensprengers pro Minute geht, man braucht nur ein paar Bleistifte vor ihm zu Boden fallen lassen, und er hält einem einen Vortrag über die Wahrscheinlichkeiten, nach denen ihre Anordnung entstanden ist. Selbst Menschen sind für ihn offenbar nur Anschauungsobjekte, biomechanische Einheiten, die bestimmten chemischen und physikalischen Prozessen unterworfen sind, Laborratten im Soziotop des Lebens, deren Betrachtung ihm bei seinem Streben nach höherer Weisheit hilfreich ist.

Offenbar macht er bei sich selbst keine Ausnahme.

>>Ich betrachte mich als reflektierendes, agierendes Wesen,<< , hat er einmal gesagt,

>>allerdings nur, wenn du "Wesen" als ein sich selbständig weiterentwickelndes System,

"Reflektieren" als parallel ablaufenden Analyseprozeß und "Agieren" als Einflußnahme auf meine Umwelt, resultierend aus den ersten beiden Prozessen, definierst.
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<<

Das ist er, der Professor.

Die meisten Pfleger und Schwestern kommen mit ihm nicht klar, deswegen sind sie froh, daß sie mit mir einen Zivildienstleistenden haben, der sich um ihn kümmert und ihn spazieren fährt. Ich muß sagen, es macht mir nichts aus, ihm Gesellschaft zu leisten. Er ist vielleicht etwas anstrengend, aber langweilig wird es mit ihm nie. Wenn er seine Phase kriegt, hält er mich ganz schön auf Trab, und ich glaube, dem irren Funkeln in seinen Augen nach zu urteilen, ist es gleich wieder so weit.

>>Zum Springbrunnen!<< , ruft er plötzlich, >>Bring mich zum Brunnen! Schnell, Zivi, Gottverdammt nochmal!<<

Stöhnend rappele ich mich auf und setze den Rollstuhl in Bewegung, vorbei an den ballspielenden Irren und auf das Oktagon von Buchsbaumhecken zu, das den Springbrunnen umrahmt, während er einen Notizblock aus der Tasche seines zerknitterten Hemdes zieht, sich krakelige Notizen macht und unzusammenhängendes Zeug vor sich hin murmelt.

>>Der Brunnen als Angelpunkt für den Wirbel, der Tümpel als möglicher Zentrifugaltrabant, wirkend als Gegenpol zur Örtlichkeit, die sich aus der Symmetrieachse über den Brunnen ergibt.<<

Am Brunnen angekommen, setze ich mich auf den Rand und lasse meine Finger durch das erfrischend kühle Wasser gleiten, während der Professor die Ziegelsteine der Brunnenwand zählt und zu seiner Liste der bahnbrechenden Formeln hinzufügt. Eine Patientin kommt angelaufen, spritzt dem Professor Wasser aus dem Brunnen ins Gesicht und lacht hysterisch.

Der Professor ist außer sich. >>Nimm diese Person weg!<< , brüllt er panisch und versucht, gleichzeitig Pfeifenkopf und Notizblock mit einer Hand zu schützen, bevor die Flüssigkeit sein Gras oder - noch schlimmer - seine neuesten Aufzeichnungen zunichte macht.

Seine vom Potrausch geröteten Augen verziehen sich zu bedrohlichen Schlitzen, seine Augenbrauen türmen sich wie drohende Gewitterwolken.

>>Ich leiste hier hochwissenschaftliche Arbeit, du Fotze!<< , kreischt er wie von Sinnen ,

>>Geh weg!<<.
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Drohend schwingt er seinen Bleistift, die Spitze gesenkt.

Ich nehme die Patientin bei der Hand. >>Kommen Sie, Frau Neuhaus, stören Sie den Professor nicht.<< , sage ich und ziehe sie sanft, aber bestimmt vom Brunnen weg und übergebe sie einer herannahenden Schwester, die die Auseinandersetzung aus der Ferne beobachtet hat. Der Professor flucht vor sich hin und fischt einen seiner Notizzettel aus dem Brunnen. >>Nun sieh Dir das an!<< , schnaubt er, >>Ein Glück, daß ich meine Berechnungen der Öse bereits gestern auswendig gelernt habe. Ich kann es nicht fassen! Man sperrt mich ein mit einem Haufen von Irren! Wenn das ihre Methode ist, mich von meiner revolutionären wissenschaftlichen Entwicklung abzuhalten, ist ihnen damit wahrhaft ein diabolischer Plan eingefallen!<< Wütend unterbreitet er mir eine seiner Verschwörungstheorien, während er mich mit knappen Anweisungen weiter über das Gelände dirigiert. Unser nächstes Ziel ist offensichtlich der alte Geräteschuppen auf der anderen Seite der Wiese.

>>Alles bringen sie mir durcheinander!<< , schimpft er, >>Die wissen ganz genau Bescheid über die Fortschritte, die ich mache, da kannst Du Dir sicher sein! Die lassen mich keinen Moment aus den Augen. Wahrscheinlich beobachten Sie uns in diesem Moment von allen Seiten, Dutzende Richtmikrofone lauschen auf alles, was ich sage. Weißt du, wieviele öffentliche Satteliten für Geheimdienstoperationen mißbraucht werden?<<

Ich sage nichts und warte, bis der Schwall seiner paranoiden Fantasien nachläßt, und tatsächlich, kaum ist der Schuppen in Sichtweite, scheint er sich zu entspannen, und an die Stelle seiner Wut tritt plötzlich so etwas wie gespannte Erwartung. Er trommelt mit den Zehen auf seine Fußstütze und stopft sich ein neues Pfeifchen.

Der Schuppen ist so etwas wie die geheime Operationsbasis des Professors, und ganz abgesehen von den Graspflanzen, die er dort zieht, kann unsere bloße Anwesenheit in dieser Hütte mich meinen Monatssold und ihn seinen Hofgang kosten. Doch niemand scheint sich für diese alte Bretterbude zu interessieren, ich habe schon vor Wochen ein neues Vorhängeschloß angebracht, was bis jetzt noch niemandem aufgefallen zu sein scheint.
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Als ich ihn darauf anspreche, hat der Professor dafür natürlich seine eigene Erklärung.

>>Glaubst du, es ist reiner Zufall, daß mir so eine Örtlichkeit für meine Versuche zur Verfügung steht? Die achten doch darauf, daß ich alles kriege, was ich für mein Experiment benötige!<< In der Tat scheinen die Gegenstände, die er verlangt, immer irgendwo auf dem Gelände aufzutreiben zu sein, was ich allerdings mehr seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe zuschreibe, als "Ihrem" Einfluß. Vor allem, weil "Sie" vor fünf Minuten noch versucht haben, seine Arbeit zu sabotieren. Als ich ihn auf diese Ungereimtheit hinweise, wischt er meinen Einwand mit der ihm eigenen, verschrobenen Logik beiseite.

>>Glaubst Du, hinter diesen Aktivitäten steht eine einzige Interessengruppe? Ich stehe hier vor der bahnbrechendsten Entdeckung seit Menschengedenken, da ist es nur natürlich, daß ein paar Leute kalte Füße bekommen! Die Ordnung des Universums würde sich radikal verändern, wenn meine Theorie sich als richtig erweist, und ich meine damit nicht nur die Konstellation der Sonnensysteme und Galaxien, sondern den gesamten inneren Zusammenhalt, das Muster!<<

Ich brumme nur zustimmend und nestele den Schlüssel für den Schuppen hervor.

Ungeduldig beobachtet der Professor, wie ich das Schloß aufschließe und die Tür zu seinem muffigen Refugium aufstoße. Durch eine staubige Milchglasscheibe fällt trübes Licht in den Innenraum. In einer Ecke steht ein großer Schrank, durch dessen Ritzen das Leuchten von Pflanzenlampen dringt. In den Regalen an den Wänden staut sich allerlei Zeugs, das wie eine bizarre Anhäufung von Gegenständen unter einem besonders abstrusen Sammelbegriff anmutet. Kernstück dieser Sammlung ist eine Konstruktion, die der Professor "Kreisel" nennt, eine irrwitzige Synthese aus verschiedensten Bauteilen, die sich schon allein von der Natur ihres Verwendungszwecks her wie nicht kompatible Spenderorgane abstoßen müßten.

Die Konstruktion besteht aus einem halben Teekessel, der kardanisch in einer Art Geschirr aufgehängt ist, das wiederum auf einer dicken, runden Platte aus Kork sitzt.
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Das Innere des Kessels ist mit allerlei Drähten und Brimborium vollgestopft, das mehr den Anschein erweckt, als sollte es auf Laien wie irgend ein furchtbar kompliziertes Stück Technik wirken, das in Wirklichkeit aber keinen sinnvollen Zweck erfüllt. Zentrum des Kessels wiederum ist eine kleine metallische Kapsel, die von Größe und Form her an den Zylinder eines Lippenstifts erinnert, mit einem Wust von farbigen Drähten, der aus beiden Enden herausquillt. Der Professor nennt diese Kapsel den "Zentrifugator", und sie ist für ihn in etwa so bedeutend, wie für Columbus die Entdeckung Amerikas.Wenn man seinen Worten Glauben schenken kann, hat er seit drei Jahrzehnten an diesem Ding gebastelt, und es scheint die Materialisation seiner Besessenheit zu sein. Der Gegenstand, der eines Tages Besitz von ihm ergriff und dafür sorgte, daß er die Sphäre der normal wahrnehmenden Menschen verließ, und sich in einen selbst geschaffenen Kosmos des Wahnsinns und der abstrakten Allmachtsphantasien katapultierte, der ihn Stück für Stück in die Einsamkeit trieb und dafür sorgte, daß die Gesellschaft ihn für nicht mehr verwendbar befand und in dieses Endlager für menschlich-geistige Ausschußware abschob. Sein Augapfel, sein heiliger Gral der Wissenschaft, von dem er sich wer weiß was erhofft, höchstwahrscheinlich Allwissenheit und das Tor zur Unsterblichkeit, oder vielleicht sogar den Weg zum Wohnort seines Schöpfers.

Verständlicherweise fixiert sich seine Paranoia auf dieses Gerät, von dem er annimmt, daß es jeden noch so rechtschaffenen Menschen zum kaltblütigen Killer mutieren läßt, so sehr projiziert er seine Besessenheit auf den Rest der Menschheit. Seltsamerweise scheint er mir totales Vertrauen entgegenzubringen, aber das liegt wahrscheinlich nur daran, daß viele Irre ihre Wahnvorstellungen mit jemandem teilen wollen, um eine Art von Resonanz von Außen zu bekommen. Vielleicht glaubt er aber auch, daß ich ein Gesandter der grauen Eminenzen bin, die seine Forschungen unterstützen, so etwas wie ein Chronist, der die Aufzeichnungen über eines der größten Genies der Menscheitsgeschichte und seine Arbeit führt, obwohl alles, worüber ich berichten könnte, nur die traurige Geschichte eines einsamen Mannes ergeben würde, der sich aufgrund von Vernachlässigung, mangelnder menschlicher Wärme oder eines wie auch immer gearteten emotionalen Traumas in eine Realität flüchtete, in der er die Macht über das Schicksal der Welt, oder in seinem bescheidenen Fall des ganzen Universums in Händen hält.
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Kaum sind wir durch die Tür, beginnt er, in hektische Betriebsamkeit auszubrechen.

Er schiebt sich im Rollstuhl aus eigener Kraft hin und her, was symbolisch bedeutet, daß meine Aufsichtspflicht für ihn an der Schwelle endet, und wir uns nun in seinem Reich befinden, was mir nicht das Geringste ausmacht. Während er nach irgendwelchem Werkzeug kramt, versorge und begutachte ich seine Hanfpflanzen, die für ihr junges Alter schon erstaunlich große Knospen hervorgebracht haben, was vermutlich an den selbstgebastelten Wachstumslampen liegt, die der Professor an der Decke des Wandschranks installiert hat.

Nach einer Weile hat er alle Teile zusammen, die er sucht, und er fängt an, weiter an seinem Kreisel herumzubasteln.

Er linst durch eine selbst konstruierte, brillenartige Vorrichtung, durch die er die Eingeweide seiner irrwitzigen Erfindung in mehrfacher Vergrößerung sieht, und stochert darin mit einem pinzettenähnlichen Instrument herum. Ich kann nicht genau sehen, was er dort macht, aber er tut wohl so, als würde er die geniale Sicherheitsvorrichtung deaktivieren, die den Zentrifugator vor unbefugten Zugriffen schützt. Als ich ihn einmal danach fragte, tat er sehr geheimnisvoll und meinte nur, er hoffe, daß niemand versuche, dieses Ding zu stehlen, bevor er mit seinem Experiment fertig ist, da sonst niemals wieder jemand Experimente auf diesem Planeten durchführen würde. Das war zwar ausgemachter Blödsinn, aber die Art und Ernsthaftigkeit, mit der er es sagte, beunruhigte mich doch etwas mehr, als mir lieb war.

Der Metallzylinder öffnet sich mit einem leisen Zischen und gibt seinen geheimnisvollen Inhalt frei, den der Professor mit seinem ausladenden, leicht buckligen Rücken verdeckt. Dann kramt er eine Papiertüte hervor, in der sich etwas Siliziumstaub befindet, den ich ihm vor einiger Zeit bei einem Chemieversand bestellt habe. Er reißt einen seiner Notizzettel ab, knifft ihn und benutzt ihn, um das Pulver in den Zylinder zu überführen, wobei er peinlich genau darauf achtet, daß kein Stäubchen daneben geht.
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Als er damit fertig ist, schließt er die Kapsel wieder.

Er dreht sich zu mir um und schenkt mir ein triumphales, selbstzufriedenes Lächeln, während er sich ein neues Pfeifchen stopft.

>>Dreh´ dir lieber noch `ne Tüte, mein Junge, die Pflanzen brauchen wir ab heute nicht mehr pflegen!<<, sagt er.

Ich bin gerade dabei, die Blätter behutsam zu säubern, und schaue ihn nur verständnislos an.

>>Mein Experiment beginnt in fünf Minuten.<<, sagt er, mit Blick auf seine Armbanduhr.

>>Die Lichtverhältnisse sind um diese Zeit am günstigsten, das dürfte ein schöner Anblick werden! Komm´, Junge, machen wir uns ans Werk!<<

>>Soll das heißen, Sie wollen die Pflanzen nicht mehr haben?!<<, frage ich ungläubig.

>>Wozu?<<, fragt er und atmet eine würzige Dunstwolke in den Raum.

>>Heißt das, ich kann sie abernten und das Dope mitnehmen?<<

>>Wenn`s Dir Spaß macht.<< Er kichert, als hätte ich gerade etwas ganz besonders infantiles gesagt. >>Aber beeil dich, ich will das berechnete Zeitfenster nicht verlassen.<<

Ich schnappe mir einen alten Jutesack, der in der Ecke herumliegt, und fange an, die Pflanzen abzuernten, schnell und ohne Rücksicht auf ihre Empfindlichkeit. Es muß Gras im Wert von mehreren Hundert Mark sein, was ich dabei zusammenbekomme. Soviel zum Thema geistige Gesundheit. Ich verstecke den Sack in einem Karton unter der Werkbank und nehme mir vor, das Zeug zum Feierabend in meinem Rucksack aus der Anstalt herauszuschmuggeln, um bei meinen Freunden mächtig Eindruck damit zu schinden.

>>Das Wetter ist heute perfekt.<<

Es ist das erste Mal, daß ich den Professor über etwas so Banales reden höre.

Ich schiebe ihn über die Wiese, zurück zum Brunnen.

Vergnügt pafft er an seinem Pfeifchen, den Kreisel auf den Knien mit dem linken Arm umschlungen, als hätte er eine intime Beziehung zu dem Gerät, was wohl auch gar nicht mal so falsch ist.

Die Patienten spielen immer noch ihr albernes Ballspiel, der junge Mann mit dem debilen Grinsen schaut zu uns herüber, winkt und artikuliert etwas, das wohl eine Einladung zum Mitspielen darstellen soll.
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Andere Insassen flanieren, in Bademäntel oder Krankenhaushemden gekleidet, mit ihren Angehörigen, die sie besuchen, durch die Sonne.

Auch meine Laune könnte nicht besser sein, schließlich habe ich soeben meinen Sold um einen nicht unerheblichen Betrag aufgebessert, der mir zwar in Naturalien vorliegt, aber schließlich ist auch festes Kapital Kapital. Für diese soziale Tat bin ich bereit, mit dem Professor Pferde zu stehlen, und es ist mir egal, wie albern sein Experiment ist, solange es ihn glücklich macht, bin ich dabei.

Der Brunnen ist ein malerisches Fleckchen, sein türkiser Grund läßt das Wasser aussehen wie die Kostprobe einer karibischen Lagune, und die zwei Fontänen plätschern voller Lebensfreude.

>>Bereit?<<, fragt der Professor augenzwinkernd.

>>Klar.<<, nicke ich.

>>Dann setz den Kreisel in die Mitte des Brunnens und gib ihm einen kleinen Schubs, damit er sich im Gegenuhrzeigersinn dreht. Bittesehr.<<

Ich grinse und kremple mir die Hosenbeine hoch. Der Professor drückt etwas am Kreisel, der daraufhin leise zu summen anfängt.

>>Sei vorsichtig damit. Er darf nicht naß werden, bevor er die nötige

Rotationsgeschwindigkeit erreicht hat.<<

Mit leicht zitternder Hand überreicht er mir seinen technologischen Popanz.

Ich steige in das kühle Wasser und erschaudere, als die kleinen Wellen meine Waden umspülen. Die leichten Vibrationen des Geräts lösen ein seltsames Kribbeln in meinen Armen aus, und ich wate in die Mitte der Kreisfläche, so schnell es geht. Der Professor verfolgt jeden meiner Schritte aufmerksam, und dirigiert mich gewissenhaft, damit ich den Kreisel auch ja an der richtigen Stelle absetze. Nachdem das geschehen ist, gebe ich ihm einen kleinen Stubser, damit er zu rotieren beginnt. Und wie er rotiert. Als wäre er ein Modellboot mit einem kaputten Ruder, dreht er sich schneller und schneller um seine eigene Achse, jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit trotzend, nach der der Impuls meines Fingers ihm gar nicht die Energie für solch eine Geschwindigkeit gegeben haben dürfte. Es muß etwas mit elektrischen Feldern zu tun haben, denn das Wasser scheint mir plötzlich stark ionisiert, und meine Nackenhaare richten sich auf.
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Ich wate zum Rand des Brunnens zurück, das ganze kommt mir nicht geheuer vor, und steige aus dem Wasser, so schnell es geht. Ich habe schon genug über Elektrosmog und ähnliche beunruhigende Dinge gehört, deshalb versuche ich potentiellen Strahlungsquellen möglichst aus dem Wege zu gehen.

Der Professor ist verzückt. Er reißt die Augen auf wie ein kleines Kind, das in das Zimmer mit seinen Geburtstagsgeschenken geführt wird und nuckelt an seiner Pfeife, während er sich mit der linken Hand in die Armlehne seines Rollstuhls verkrallt. Gebannt beobachtet er das sich drehende Metallgebilde, das inzwischen schon so schnell rotiert, daß es durchsichtig erscheint.

Ein Wind kommt auf und fährt dem Professor durch seine lange Zottelmähne.

Das Summen des Kreisels ist allmählich lauter geworden, und es kommt mir so vor, als würde es nicht aus dem Inneren des Gerätes kommen, sondern von überall her die Luft durchdringen. Die Patienten auf der Wiese halten in ihrem Ballspiel inne und schauen verwirrt umher, um die Quelle des seltsamen Geräusches zu identifizieren.

>>Achte auf die Tiefenschärfe!<<, ruft mir der Professor gegen den immer heftiger werdenden Wind entgegen, >>Es zeigt sich zuerst in der Polarisierung der Luftmoleküle!<<

Ich blinzle gegen die Mittagssonne und sehe nur die flimmernde Luft über der Wiese.

Die Landschaft verschwimmt, als würde sie hinter einem Vorhang aus Wasser stehen.

Angestrengt schaue ich auf einen Punkt hinter der Wiese und versuche, das Hitzeflimmern mit meiner räumlichen Wahrnehmung zu erfassen, doch es gelingt mir nicht.

Die Optik wabert und fließt und gerät in Bewegung, als wären die Lichtsrahlen eine zähe Melasse, die von einem unsichtbaren Teigrührer umgewälzt wird. Die feinen Regenbögen, die in der Gischt der Fontänen leuchten, verzerren sich plötzlich, fließen und winden sich wie aufgescheuchte Schlangen und verwirbeln mit den feinen Wassertröpchen zu einer Säule, die sich wie ein Wirbelsturm aus kleinen Kristallsplittern über dem Kreisel erhebt und emporwächst, ein Geysir aus Licht und Wasser.

Ein eigenartiges Gefühl überkommt mich, ein leichtes Ziehen im Magen, wie die Fliehkraft in der Kurve einer Achterbahn, und ich klammere mich an die Lehne einer Parkbank.
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Der Wind fährt durch die Buchsbaumhecken und löst Blätter ab, die von der Wasserhose angesaugt und im Inneren der Struktur verwirbelt werden.

>>Bleib am Zentrum, hier wirkt die Kraft noch nicht so stark!<<, brüllt der Professor, der die Bremse seines Rollstuhls angezogen hat und sich an der Brunnenwandung festhält.

Die Patienten rennen konfus hin und her, der Ball schießt in einem Bogen über das Gelände, beginnt, in zwanzig Metern Entfernung um den Wirbel zu rotieren. Weitere lose Gegenstände reihen sich in diesen Spuk ein, Hüte, Tücher, Plastikbecher, Gehhilfen, Brillen beschleunigen zu einer Ansammlung von Trabanten, die den Brunnen wie ein Asteroidengürtel umfliegen.

Die Wolken am Himmel ändern ihre Richtung und kreisen ebenfalls um das Zentrum des Wirbels, das Blau des Himmels vermischt sich mit den weißen Schlieren der Schäfchenwolken zu einer impressionistischen Textur, und der Sonnenball zerfließt zu einem langgezogenen Oval, als würde ein Eigelb eine Tischkante hinunterlaufen.

Ich muß mich mit aller Kraft festhalten, um nicht in den Wirbel gerissen zu werden, und sehe aus den Augenwinkeln, wie der junge Mann angerannt kommt, sein einfältiges Grinsen ist einem bedrohlichen Gesichtsausdruck gewichen. Er greift in die Innentasche seiner Sportjacke und zieht eine Pistole hervor, die ihm sofort aus der Hand gerissen wird.

Mit einem ungläubigen Blick betrachtet er seine Füße, die vom Boden abheben.

In Zeitlupe überschlägt er sich in der Luft, öffnet den Mund vor Erstaunen, als er plötzlich in die Länge gezogen wird, ein verzerrter Brei aus bunten Linien, die sich um den Wirbel wickeln und mit ihm verschmelzen.

In der Entfernung löst sich das Sanatorium auf, Backsteine und Dachziegel befreien sich von ihrem statischen Dasein und stieben auseinander wie Vogelschwärme, der Rasen ringsum gerät in Bewegung und fließt um uns herum, ein Strudel aus grünem Schlick.

>>Was passiert hier, Professor??<< , schreie ich, kaum in der Lage, das Tosen des Windes und das inzwischen auf infernalische Lautstärke angestiegene Summen zu übertönen.
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>>Das Muster wird durch die Öse gezwängt. Das ist so, als würdest du ein Kamel durch ein

Nadelöhr schieben!<<

>>Und was kommt auf der anderen Seite heraus?<<

>>Woher soll ich das wissen? Hälst du mich für Allmächtig?<<

Ein schwarzer Hubschrauber taucht plötzlich über uns auf, ich kann Männer in schwarzen Anzügen mit Sonnenbrillen sehen, die uns zuwinken und heftig gestikulieren. Das Fluggerät krümmt sich wie eine Wespe, die zum Sturzflug ansetzt, seine Rotorblätter werden gebogen und neigen sich zum Kreisel hin. Langsam löst es sich in schwarzglänzende Fragmente auf, die sich mit den bunten Teilchen im Wirbel verbinden, die Männer vermischen sich zu einer teigigen Substanz aus Weiß, Schwarz und Fleisch, während ihre Krawatten wie Schößlinge mit Schallgeschwindigkeit auf das rotierende Zentrum zuwachsen.

Der Himmel bildet jetzt Muster in allen Farben, im Zenith ein fließendes, sich drehendes Auge, das wie in einem irisierenden Ölfilm zu schwimmen scheint.

Mit letzter Kraft klammere ich mich am Holz der Bank fest und sehe, wie die Lackschicht schwimmt und Wellen schlägt, und betrachte meine weißen Fingerknöchel, deren Hautpartikel wabern und langsam ihre Konsistenz verlieren.

Mit einem letzten Blick erkenne ich die Gestalt des Professors, der immer noch am Rand des Brunnens, oder was davon übrig ist, sitzt und die Hände in den Himmel reckt. Seine Arme verlängern sich zu riesigen, dünnen Tentakeln, mit denen er den Wirbel tausendfach umarmt, bevor er selbst ganz hineingesogen wird.

Ich spüre, wie mein Griff sich lockert, und ergebe mich meinem Schicksal.

Als ich loslasse, verschwimmt alles um mich herum zu einem vorbeirasenden Farbschleier.

Und plötzlich fühle ich mich völlig anders.


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Kommentare zur Story:

  Super Geschichte wollte gar nicht lesen bin zufällig auf diesen link gekommen
als ich aber angefangen hatte konnte ich nicht mehr aufhören
alles Gute  
Thomas  -  16.12.02 01:13

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Yes! Da kann ich mich nur SabineB anschließen!  
esmias  -  28.05.01 19:13

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Phantastisch...! Die Beschreibungen sind sehr gut gelungen, auch die Handlung ist einmalig! Selten, dass ich mit so einer Begeisterung eine Geschichte gelesen habe! Das Thema ist zwar sehr utopisch, aber dennoch sehr interessant! Klasse beschrieben, danke!  
SabineB  -  16.05.01 10:18

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