Die Kinder von Brühl 18/ Teil 4/ Hammer Zirkel Ährenkranz/Episode 11/ Der sozialistische Gang die Aura die blaue Tschapka und die Klassenkeile   0

Romane/Serien · Erinnerungen

Von:    rosmarin      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 7. Mai 2024
Bei Webstories eingestellt: 7. Mai 2024
Anzahl gesehen: 673
Kapitel: 0, Seiten: 0

Diese Story ist die Beschreibung und Inhaltsverzeichnis einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

Episode 11



Der sozialistische Gang die Aura die blaue Tschapka und die Klassenkeile



Die Ferien waren zu Ende. Ein neues Schuljahr begann. Die Kinder füllten die die alte Schule wieder mit Leben. Doch der Schulweg wurde immer beschwerlicher. Nach dem heißen Sommer kündigte sich schon sehr früh ein stürmischer und eisiger Winter an.

Ab und zu erinnerte sich Rosi noch an ihren Trip nach Berlin.

"Na? Wie wars bei den Verrückten“, hatte Else am nächsten Morgen Rosi gefragt. „Du hättest mir ja auch Bescheid geben können.“

„Hab ich doch“, hatte Rosi kurz angebunden erwiedert. "Ich habe dir doch den Zettel geschrieben."

Nach dem gefräßigen Tod von Schneeweißchen und Rosenrot hatte Rosi sich vorgenommen, nur noch das Nötigste mit der Familie zu besprechen oder zu sprechen. Das betraf vor allem Else. Richard spielte keine Rolle. Mit dem sprach sie sowieso kaum. Was auch. Es gab keinen Draht. In keiner Hinsicht.

Doch, wie es so ist im Leben. Von einer Familie kann man sich nicht so einfach absondern. Und seine eigenen Wege gehen. Was immer das auch heißen mag. Schon gar nicht, wenn man in einem kleinen Haus so eng zusammen wohnt. Und einer auf den anderen angewiesen ist. So war es auch in Brühl 18. Alles hatte sich so einigermaßen normalisiert. Und Rosi sich so gut, es ging, angepasst. Sie war die Älteste. Sie hatte die Verantwortung. Wie es ihr schien, auch für Else.

Instinktiv fühlte Rosi, dass Else sie brauchte. Sie wusste, dass die viele Arbeit Else allmählich über den Kopf gewachsen war. Und das umso mehr, je älter die Kinder wurden.

Manchmal hörte Else mitten in einer Tätigkeit auf, weiterzumachen. Sie ließ alles liegen und stehen und starrte bewegungslos vor sich hin. Ein andermal sprang sie unverhofft auf. Ruhelos setzte sie sich auf den roten Samthocker vor dem Harmonium. Sie nahm die bestickte Decke von den Tasten und begann zu spielen. Irgendetwas. Völlig wahllos. "Kommt", forderte sie die Kinder auf, "wir singen jetzt Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün...", Obwohl es nicht Mai war. Sondern Winter. Früher hatte sie zu jeder Jahreszeit die passenden Lieder.

"Wir haben keine Lust", murrten Karlchen und Jutta.

Bertraud wollte auch nicht singen. Und Gitti und Walti vergaßen immer wieder den Text. Sie waren noch zu klein.

Rosi spürte Elses Hilflosigkeit.
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Und ihr Bemühen, die Familie zusammen zu halten. Was ihr immer weniger gelang. Zumal auch Richard sich verändert hatte und irgendwie immer mürrischer wurde.

"Dann singen eben wir Beide", sagte Rosi zu Else und stellte sich neben den roten Hocker.

Gemeinsam sangen Rosi und Else einige Lieder. Meistens bekannte Volkslieder. Hoch auf dem gelben Wagen. Zum Beispiel. Oder In einem kühlen Grunde. Oder Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus, Städele hinaus. Und du mein Schatz bleibst hier. Sogar die Kleine weiße Friedenstaube war mit im Programm.

Wenn Rosi später über diese Zeit nachdachte, war es doch eine schöne Zeit. Das Singen mit Else. Denn diese schöne Zeit währte nicht allzu lang. Weil die anderen Kinder sich weigerten, zu singen, verlor auch Else bald die Lust. So blieben nur die Bibelstunden an den Samstagen mit Metzners. Doch da wurden nur kirchliche Lieder gesungen.

Rosi liebte die Musik. Und sie liebte die Lieder. Und zwar alle. Text und Melodie verschmolzen zu einer harmonischen Einheit. So jedenfalls empfand es Rosi. "Wenn dir wieder nach Singen und Harmonium spielen ist", versuchte sie, Else zu trösten, "mache ich mit."

Doch Else war nicht zu trösten. "Kümmere dich mal lieber um deinen Chor", sagte sie traurig. "Damit du da wieder mitsingen darfst."

Da hatte Else wohl Recht. Das war wirklich eine seltsame Geschichte. Eines Tages hatte die Chorleiterin gesagt: "Rosi, so geht das nicht. Du hast zwar eine brauchbare Stimme und singst auch mit großer Leidenschaft, aber du kannst den Rhythmus nicht halten. Du bist zu schnell. Und das geht in einem Chor gar nicht."

"Und was soll das heißen?", hatte Rosi schockiert gefragt.

"Das soll heißen", antwortete die Chorleiterin, "dass du nicht mehr im Chor singen darfst. Aber wir können es ja mit einem Solo versuchen."

Also versuchten sie es mit einem Solo. Doch das klappte erst recht nicht. Sie war einfach zu schnell.

Enttäuscht und gekränkt, setzte sich Rosi in eine Ecke. Mit Tränen in den Augen sah und hörte sie zu, wie die anderen Kinder ihre geliebten Lieder im Chor sangen. Natürlich ging sie nie wieder hin. Aber das war noch nicht alles, was ihr in letzter Zeit, also im neuen Schuljahr, widerfahren war. Um ein Haar wäre sie auch aus der Theatergruppe geflogen.

"Kannst du nicht einmal deinen Mund halten und nur reden, wenn du mit deiner Rolle dran bist", hatte Frau Engel, die Theatergruppenleiterin, ärgerlich gesagt, als Rosi wieder Mal einigen Schülern ihre Texte souffliert hatte, als sie sie ihrer Meinung nach, nicht schnell genug aufsagen konnten.
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"Ich wollte doch nur helfen", sagte Rosi geknickt. "Ich dachte, sie haben ihren Text vergessen."

"Ist ja schön", sagte Frau Engel ironisch, "dass du dich so rührend um deine Mitschüler kümmerst. Und die Texte für alle Rollen gleich mit lernst. Aber wenn jemand hilft, bin ich es. Verstanden?"

"Ja", sagte Rosi kleinlaut.

Doch es passierte immer wieder. Und eines Tages platzte Frau Engel der Kragen. "Rosi!", schrie Frau Engel Rosi an. "Jetzt reicht es aber. Meine Geduld ist erschöpft. Siehst du nicht, dass du den ganzen Ablauf störst mit deiner Vorsagerei? Die Kinder kommen doch ganz durcheinander. Kümmere dich gefälligst nur um deinen Text. Noch einmal und du bist raus. Verstanden?"

"Ja", versprach Rosi.

Das war bei der letzten der Probe.

*

Es war ganz schön kalt geworden. Windig und stürmisch. Dabei war es erst Oktober. Doch schon im September war es so kalt, dass in Brühl 18 der alte Kanonenofen, und damit das ganze Haus, beheizt werden musste. Und zwar vorerst immer mit einer Kohle.

"Die Kohlenzuteilung ist immer noch knapp", sagte Else, wenn die Kinder sich beschwerten, weil ihnen kalt war. "Und ihr wollt doch wohl nicht, dass wir im nächsten Jahr gar keine Kohlen mehr haben."

Das wollten die Kinder natürlich nicht. Also hielten sie ihren Mund. Außerdem hatte Else noch gesagt: "Wenn ihr friert, macht euch warme Gedanken."

Doch, wie das gehen sollte, hatte Else nicht gesagt.

"Ja, ja", dachte Rosi, "Mama hat schon einen seltsamen Humor."

Energisch zog Rosi ihren nicht gerade winterlichen Mantel um ihren Körper. Immer wieder verließ sie den Bürgersteig und ging den Weg zur Schule auf der Straße weiter. Sonst könnte ihr womöglich eine Dachziegel auf den Kopf fallen. Oder ein abgebrochener Ast von den kahlen, jetzt schon vereisten, Bäumen. Der stürmische Wind leistete ganze Arbeit.

Nachdenklich blieb Rosi stehen. In der Windhöfe. Vor Metzners Haus. "Wenn du eine warme Mütze brauchst", hatte neulich Mariechen gesagt, "habe ich bestimmt eine für dich. In der alten Truhe. Da könnten wir ja mal rum stöbern.
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"

"Vielleicht", hatte Rosi erwiedert. "Aber es ist ja noch nicht so kalt."

Doch jetzt war es so kalt. Eiseskalt. Im wortwörtlichen Sinne.

Jetzt hätte Rosi ganz gern eine dicke Mütze. Aber keine aus kratziger Wolle. So eine steckte in ihrer Manteltasche. Das durfte Else auf keinen Fall wissen.

Jeden Morgen zwang Else Rosi, die kratzige Wollmütze aufzusetzen. Obwohl sie wusste, dass sie keine Wolle vertrug.

"Nichts da", sagte Else. "Wolle hält warm. Sonst frierst du dir noch die Ohren ab."

Um sich nicht wieder mit Else zu streiten und letzten Endes dann doch den Kürzeren zu ziehen, gab Rosi nach. Widerwillig stülpte sie die verhasste Mütze auf ihren Kopf. Doch kaum stand sie vor der Tür, verschwand die ungeliebte Mütze in ihrer Manteltasche. Lieber würde sie sich die Ohren, die allerdings von ihren langen Locken geschützt wurden, abfrieren lassen, als die Mütze zu tragen und sich ständig kratzen zu müssen. Das heißt, wenn es denn sein müsste. Doch bevor dies möglich sein könnte, hätte sie ja noch eine andere Option.

Unschlüssig stand Rosi vor Metzners Haus. Gerade wieder hatte der Wind einige Äste und viele Zweige von den Bäumen, die in Reih und Glied am Straßenrand standen, gerissen. Die zurrten, unschlüssig, welche Richtung sie nun nehmen sollten, auf der Straße hin und her.

Schnell suchte Rosi im Türeingang Schutz. Ob sie mal bei Metzners klingeln sollte?, überlegte sie.

"Lieber nicht", murmelte sie. "Sonst komme ich womöglich noch zu spät."

*

"Endlich geht alles wieder seinen sozialistischen Gang", sagte Heinrich in der großen Pause.

"Wie meinst du denn das?", war Helga neugierig. "Sozialistischen Gang", lachte sie.

Helga hatte sich ganz schön heraus geputzt. "Wo die nur immer die Klamotten her hat", dachte Rosi. "Die sind doch gar keine Adventisten. Also bekommen sie auch keine Päckchen aus Amerika. Vielleicht hat die die Sachen vom Schwarzmarkt? Und woher haben die so viel Geld? Sie sind doch eigentlich auch arm. Aber immerhin hat sie keine Geschwister."

Fasziniert starrte Rosi Helga an. Besonders ihre dicken Winterschuhe und die schneeweiße Tschapka aus echtem Fell hatten es ihr angetan. Die kratzt bestimmt nicht. Und ihre Schuhe halten auch warm.

Rosi schaute auf ihre Schuhe. Die waren ihr ganzer Stolz.
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Else hatte sie mit den letzten Bezugsscheinpunkten gekauft. Es waren schwarze Stiefeletten aus Bagalit. Verziert mit einem dünnen, grauen Fellbesatz. Wunderschön. Nur leider hatten sie einen Nachteil. Sie hielten nicht besonders warm. Eigentlich gar nicht. Deshalb musste Rosi immer zwei Paar Strümpfe übereinander ziehen. Das gefiel ihrem Leibchen mit den langen Strumpfhaltern überhaupt nicht. Die Verschlüsse waren nur für ein Paar gedacht. So rutschte bestimmt ein Strumpf immer wieder runter und kräuselte sich an den Beinen entlang. Manchmal verrutschten sogar zwei. Bei Helga verrutschte gar nichts. Und die weiße Tschapka hielt ihren Kopf kuschelig warm.



"Das pflegen doch die Erwachsenen scherzhaft zu sagen", klärte Heinrich Helga auf. "Das soll heißen: Alles hat wieder seine Ordnung. Seine sozialistische. Versteht sich", sagte Heinrich mit betont ernster Miene. "Weil wir ja jetzt in einem sozialistischen Staat leben. Der Deutschen Demokratischen Republik."

"Ordnung ist das halbe Leben", mischte sich Rosi in das Gespräch. "Das sagt meine Mutter immer."

"Da hat sie wohl Recht", sagte Bärbel. "Ich habe Verwandte im Westen. Also in der Bundesrepublik. Die leben immer noch in dem alten kapitalistischen System."

"Das ist wirklich traurig", sagte Rosi. "Fräulein Ziehe hat doch gesagt, "dass da in der Regierung viele Naziverbrecher sitzen."

"Da habt ihr es", sagte Heinrich. "Bei uns, in der DDR, sind alle Kriegsverbrecher verurteilt worden. Oder zumindest aus wichtigen Ämtern entfernt."

"Du hast gut Reden", empörte sich Rosi. "Ihr seid doch auch Großbauern. Und ihr hattet die Polen und die Russen als Knechte. Und ihr seid nicht enteignet worden. Na, jedenfalls nicht ganz", lenkte sie ein. "Aber jetzt müssen sogar ganze Klassen bei euch helfen. Weißt ja. Weil ihr es nicht alleine schafft."

"Wir sind nicht enteignet worden oder nicht ganz enteignet", verteidigte sich Heinrich, "weil wir nämlich keine Nazis waren. Wir haben die Polen und die Russen geschützt. Sonst wären sie vielleicht im KZ gelandet. In Buchenwald zum Beispiel."

"Kann sein", sagte Rosi versöhnlich. "Jedenfalls sind alle ehemaligen Nazilehrer entlassen worden. Die blöde Roth zum Beispiel. Erinnert ihr euch?"

Natürlich erinnerten sich die Kinder.

"Hahaha", lachte Helga, "die wollte dich doch immer mit ihrem Rohrstock auf die Hände schlagen.
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Weil du so eine Quasselstrippe warst."

"Und dann hast du deine Hände immer wieder zurück gezogen", freute sich Bärbel. "Und die blöde Roth ist vor Wut fast zerplatzt."

"Hahhaha", amüsierte sich Rosi. "Die hat mich nach Hause geschickt. Ich durfte auf Befehl die Schule schwänzen. Hahaha."

"Ja, das waren Zeiten", sagte Heinrich. Er blickte auf seine Armbanduhr, die er bestimmt vom Schwarzmarkt hatte, und mahnte: "Die Pause ist gleich vorbei. Der Rundgang zu Ende. Auf geht es zum Gegenwartsunterricht. "Der ist sehr wichtig. Denn in einer sozialistischen Weltordnung heißt es: Jeder nach seinen Fähigkeiten. Und das bedeutet: Lernen, lernen, nochmals lernen. Damit jeder seine Fähigkeiten erkennt und danach handeln kann."

"Und im Musikunterricht heißt es", sagte Rosi. "Bau auf, bau auf. Freie Deutsche Jugend bau auf. Das finde ich viel besser. Und man kann es singen."

"Na dann", sagte Bärbel übermütig, "Jugend erwach ... "

Spontan sangen Rosi, Helga, Bärbel und Heinrich:



Jugend erwach, erhebe dich jetzt

Die grausame Zeit hat ein End

Und die Sonne schickt wieder

Die Strahlen hernieder

Vom blauen Himmelsgezelt

 

Die Lerche schickt frohe Lieder ins Tal

Das Bächlein ermuntert uns all

Und der Bauer bestellt

Wieder Acker und Feld

Bald blüht es all überall

 

Bau auf bau auf

Bau auf bau auf

Freie Deutsche Jungend bau auf

Für eine bessere Zukunft richten wir die Heimat auf



Allüberall der Hammer ertönt

Die werkende Hand zu uns spricht

Deutsche Jugend pack an

Brich dir selber die Bahn

Für Frieden Freiheit und Recht

 

Kein Zwang und kein Drill

Der eigene Will

Erfülle dein Leben fortan

Blicke frei in das Licht

Das dir niemals gebricht

Deutsche Jugend steh deinen Mann



Bau auf bau bau auf bau ... "



Nach und nach sangen alle Kinder im Schulhof: "Bau auf, bau auf". Sogar die Aufsichtslehrer stimmten mit ein.

Es klingelte. Die Pause war zu Ende. Die Kinder stürmten in ihre Klassen.

*

Die letzte Stunde war fast vorbei.
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Fräulein Dahlke saß gemütlich hinter dem Lehrertisch. Umhüllt von ihren langen, bunten Röcken. Gekrönt von ihrem roten Hut mit einer blauen Feder, sah sie selbst aus wie ein Gemälde. Gemalt von einem unbekannten Maler. Vielleicht von dem Maler Leben.

Nachdenklich betrachtete Rosi ihre Malaufgabe. Fräulein Dahlke. Hinter dem Lehrertisch.

Immer wieder blickte Rosi zu Fräulein Dahlke. Dann betrachtete sie wieder kritisch ihre Zeichnung. Etwas fehlte. Etwas stimmte nicht. Da, plötzlich wusste sie es. Die Wand. Es war die Wand. Die nicht stimmte. Der Hintergrund. Der lächelnde Präsident Wilhelm Pieck. Der ein leuchtendes Beispiel dafür war, dass auch die Arbeiter- und Bauernkinder es zu etwas bringen können. Sogar zum Präsidenten. Das heißt, wenn man bereit ist, zu lernen. Deshalb ist die Deutsche Demokratische Republik ja auch ein Arbeiter- und Bauernstaat. Das hatten sie im Gegenwartsunterricht gelernt.

Wie von selbst fielen Rosi die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, war die weiße Wand samt dem lächelnden Präsidenten verschwunden. Die Wand erstrahlte in einem leuchtenden Violettlavendelblau. Davor saß Fräulein Dahlke in ihrer prächtigen Kleidung auf dem Lehrerstuhl vor dem Lehrertisch. Umspielt von einem Hauch Silber und Gold.

"Das ist es. Das ist es", flüsterte Rosi.

Begeistert versuchte Rosi, das Bild festzuhalten. Es mit wenigen Pinselstrichen auf ihr Malblatt zu bringen. Immer in Furcht, es könnte verschwinden. Manchmal vergaß sie, die Farben auf ihrer Palette zu mischen und tauchte aus Versehen den Pinsel in das Tintenfass am oberen Rand der Holzbank. Endlich war sie fertig. Sie schaute nach vorn. Die Wand hinter Fräulein Dahlke war wieder weiß. Wilhelm Pieck lächelte freundlich in die Klasse.

"Wer fertig ist", sagte da Fräulein Dahlke, "kann seine Arbeit nach vorn bringen."

Einige Kinder liefen nach vorn. Sie reichten Fräulein Dahlke ihre Arbeit und hofften auf eine gute Zensur.



Rosi betrachtete erstaunt ihr Bild. Was würde Fräulein Dahlke dazu sagen?

Eine Weile sagte Fräulein Dahlke gar nichts. Sie sagte kein Wort. Dann zeigte sie das Blatt der ganzen Klasse.

"Schaut mal Kinder", sagte Fräulein Dahlke begeistert. "Das ist ein Bild, das auf den ersten Blick nichts mit der Realität zu tun hat. Oder habe ich mich mit Gold und Silber geschmückt?"

"Nein!", riefen einige Schüler in die Klasse.
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"Und was seht ihr hinter mir?"

Heinrich schnippte ungeduldig mit den Fingern.

"Ja Heinrich?"

"Eine weiße Wand mit unserem Präsidenten", sagte Heinrich. "Rosi spinnt mal wieder", fügte er lachend hinzu. "Eine lila Wand."

"Rosi spinnt nicht", sagte Fräulein Dahlke. "Sie hat mit ihren Sinnen gemalt. Und auf Papier gebracht, was sie gesehen und empfunden hat. Sie hat sozusagen hinter die Fassade geschaut. Und das ist ein Talent, das nicht jeder hat. Rosi hat die Aura gemalt. Die Aura, die mich umgibt."

"Die Aura?", fragte Helga. "Was ist denn das?"

"Die Aura ist Energie", sagte Fräulein Dahlke. "Und die Energie hat eine Farbe. Jedes Lebewesen, und sogar Gegenstände, besitzen diese Energie, die sie in Form von Farben nach außen hin ausstrahlen. Aber das richtig zu erklären, reicht jetzt die Zeit nicht. Die Stunde ist gleich zu Ende. Eine glatte Eins", wandte sie sich wieder an Rosi und überreichte ihr ihr Werk.

"Das ist doch alles Unsinn", empörte sich Helga. "Meine Arbeit ist genauso gut. Auch ohne diesen Firlefans. Und mir haben Sie nur eine Drei gegeben", schmollte sie. "Immer kommt Rosi mit ihren Spinnereien durch."

"Was heißt hier Spinnereien?", fauchte Rosi. "Das ist eine Aura. Hast du doch gehört. Die sieht man nur mit seinem inneren Auge. Und das besitzt du, aller Wahrscheinlichkeit nach, wohl nicht."

"Du spinnst doch mal wieder total", wütete Helga. Sie streckte hr Bein aus und Rosi stolperte auf ihren Platz.

Das war zu viel.

Plötzlich durchströmte Rosi wieder dieses unkontrollierbare Gefühl. Das Gefühl, das sie zum ersten Mal bei dem Pfingstessen von Schneeweißchen und Rosenrot verspürt hatte. Beim zweiten Mal bei der Schlägerei in Ziegelroda. Und nun hier. Zum dritten Mal war der Teufel in sie gefahren.

Ohne nachzudenken, griff Rosi nach der weißen Tschapka, die Helga auf ihren Ranzen unter ihren Sitz gelegt hatte.

Wütend tauchte sie die weiße Tschapka in das Tintenfass. Und weil sie nicht ganz hinein passte, nahm sie das Tintenfass und goss den Inhalt über die schöne weiße Tschapka, die jetzt nicht mehr weiß war, sondern sich allmählich blau färbte.

Das alles war so schnell gegangen, dass Fräulein Dahlke nichts davon bemerkt zu haben schien.
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Zumal es auch zum Schulende geläutet und sie die Klasse verlassen hatte.

Die Kinder jedoch nicht. Einen Moment saßen sie wie gelähmt auf ihren Plätzen. Dann brach der Tumult los.

"Meine Tschapka. Meine schöne weiße Tschapka", heulte Helga.

"Meine schöne weiße Tschapka", äffte Rosi Helga nach. "Meine schöne, weiße Tschapka. Die ist jetzt blau. Schön himmelblau. Ojemine, die Katze lief in' Schnee. Heul. Heul."

"Das bereust du! Das bereust du", schrie Helga und wollte sich auf Rosi stürzen.

"Lass sie", sagte da ein Junge. "Wer weiß, was sie noch mit dir anstellt. In letzter Zeit sticht die doch nur noch der Hafer."

"Klassenkeile", schallte es auf einmal durch die Klasse. "Ja. Ja. Klassenkeile."

Klassenkeile.

Jetzt war sie dran.

Ungerührt setzte sich Rosi auf ihren Platz. Klassenkeile. Nur keine Angst zeigen. Sie war wieder das Hexenkind. Das Hexenkind, das sich nichts gefallen ließ. Das Hexenkind, das vor Wut kochte. Das Hexenkind, das es mit der ganzen Klasse aufnehmen würde. Wenn es darauf ankäme.

"Warum hast du das getan?", fragte Bärbel.

"Weiß auch nicht. Kam einfach so über mich. Die hat mich doch provoziert. Die kann froh sein, dass ich mich beherrsche. Und sie nicht verprügle."

"Sieh mal", sagte Bärbel. "Zur Tür. Ich glaube, die wollen dir wirklich einen Denkzettel verpassen.

"Sollen sie doch", sagte Rosi. "Wenn sie das Echo vertragen können."



Ein Schüler nach dem anderen hatte seinen Ranzen genommen und und sich in eine Reihe rechts und links neben der Tür gestellt. Im Spalier sozusagen. Durch dieses Spalier musste Rosi, wenn sie die Klasse verlassen wollte. Und das musste sie. Es war nach dreizehn Uhr. Der Hausmeister würde bald kommen, die Klassenräume kontrollieren und abschließen.

"Komm schon du Streber", riefen einige Kinder.

Bestimmt würden sie sich gleich auf Rosi stürzen und sie verprügeln.

"Ihr könnt mich mal."

Rosi nahm ihren alten Ranzen vom Trödel. Sie setzte ihn auf ihren Rücken und ging zur Tür. Betont langsam schritt sie, Kopf hoch, durch das Spalier. Kein Kind sagte ein Wort. Keines wagte, den ersten Schritt für die Klassenkeile zu tun.

Kaum hatte Rosi das Spalier hinter sich gelassen, nahm sie ihre Beine in die Hand und rannte los.
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Bestimmt war sie in ihrem ganzen Leben noch nie so gerannt. Jedenfalls so gut man bei diesem Schneesturmwetter rennen konnte. Und wohl noch nie hatte sie solches Herzklopfen verspürt. Doch was soll's. Da musste sie durch. Sie rannte und rannte. Und wie die wilde Jagd die ganze Klasse hinter ihr her. Bis zum Brühl. Immer mit einem kleinen Vorsprung.

Völlig erschöpft, drückte Rosi die schwere Eisenklinke an der blauen Holztür nieder. Mit letzter Kraft verriegelte sie dann die Tür von innen.

"Was ist denn los?" Rosi fiel Else fast in die Arme. "Was ist denn das für ein Lärm da draußen", fragte sie.

Draußen johlte die Meute: "Komm raus. Komm raus."

"Pustekuchen!"

Eng zusammengedrückt, saßen alle Kinder auf dem alten Sofa. Jutta hielt 'Grimms Märchen' in ihren Händen. Doch das interessierte Rosi jetzt nicht.

"Pustekuchen", schrie sie.

Zitternd kratzte Rosi mit ihren klammen Fingern die Eisblumen von einem Fenster in der Stube. Durch das Guckloch sah sie, dass einige Kinder noch immer vor Brühl 18 standen und grölten: "Komm raus! Komm raus!"

Rosi steckte ihre Finger in die Ohren und zog Grimassen.



***

Fortsetzung folgt
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Kommentare zur Story:

  Vielen Dank. Ja, genauso soll es rüber kommen.
Und nach dem Wilhelm Pieck gab es doch auch
noch den Walter Ulbricht. Vor dem Erich.
Gruß von  
   rosmarin  -  09.05.24 11:42

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  Du hast dieses Kapitel wiedermal authentisch
niedergeschrieben. Besonders finde ich gut,
dass du Wilhelm Pieck erwähnt und ihm somit
einige Zeilen gewürdigt hast. Die meisten
Wessis kennen doch nur den Erich ;)
Überhaupt, dein Roman ist wie ein Zeitzeugnis,
als hättest du es genauso erlebt.

LGF  
   Francis Dille  -  08.05.24 15:47

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