Die Kinder von Brühl 18/ Teil 3/ Die Russen und die Neue Zeit/Episode 12/ Rosi trifft Pawel am Schwimmbad der Schwarzmarkt und die Neue Mark    391

Romane/Serien · Erinnerungen

Von:    rosmarin      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 29. Juni 2023
Bei Webstories eingestellt: 29. Juni 2023
Anzahl gesehen: 1325
Seiten: 5

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Episode 12



Rosi trifft Pawel am Schwimmbad der Schwarzmarkt und die Neue Mark



Fast unmerklich war aus dem heißen Sommer ein milder Herbst geworden. Bestimmt würde bald ein eisiger Winter folgen. Wie in den vergangenen Jahren. Doch diesmal war die Familie besser darauf vorbereitet. Es waren genug Kohlen da, um den Kanonenofen in der Stube zu heizen. Auch Holz, das die Kinder im Loh oder im Niederreißener Wäldchen gesammelt hatten. Und sogar hier. Auf der riesigen Streuobstwiese neben dem Feld. Dem Kirschberg.



Rosi saß auf der Bank auf dem Feld. Ein lauer Wind wehte über die Bäume auf dem Kirschberg, auf dem das Obst längst geerntet worden war. Obwohl es keine Öbster mehr gab. Auch keine Polen, die die Arbeit erledigt hatten. Die Obstbuden entlang der Straßen mit den Obstbäumen gab es aber noch. In die wurde das Obst, das die Kinder der siebten und achten Klasse der Grundschule, die Schüler der Oberschule und der Berufsschule gepflückt hatten, kistenweise gestapelt. Die Stadt brauchte das Obst dringend für die Versorgung der Bevölkerung. Auch die Kartoffeln und die Rüben.



„Im nächsten Jahr dürft auch ihr euren Beitrag dazu leisten“, hatte Herr Rau neulich gesagt. Und natürlich waren alle Kinder begeistert. „Doch vorher werdet ihr in die Pioniergemeinschaft aufgenommen“, hatte er feierlich hinzugefügt. „Und zwar am 13. Dezember, dem Pioniergeburtstag. Dem Tag, an dem die Jungen Pioniere gegründet wurden.“ Herr Rau setzte seine Brille ab und schritt feierlich den Gang zwischen den Bänken entlang. „Ihr, die Jungen Pioniere, die der FDJ, also der Freien Deutschen Jugend, folgen werdet, habt die Chance, nach diesem schrecklichen, verbrecherischem Krieg, ein neues Deutschland aufzubauen. Ein sozialistisches. Nach sowjetischem Vorbild. Den Komsomolzen. In diesem neuen Deutschland wird kein Platz sein für Kriegstreiber. Es wird ein Land des Lernens sein. Nur wer klug ist, kann die Welt verändern. Daher heißt es für euch: ‚Lernen, lernen, nochmals lernen‘, wie der große Lenin es formulierte.“

In der Klasse war es mucksmäuschenstill, als Herr Rau seine Brille wieder aufsetzte, hinter das Lehrerpult trat und weiterdozierte: „Wie ihr wisst, endete die letzte Entscheidungsschlacht des zweiten Weltkrieges in Europa am 2.
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Mai 1945 mit der Kapitulation der faschistischen Truppen in Berlin. Auf dem fast gänzlich zerstörten Reichstagsgebäude hisste die Rote Armee die Fahne des Sieges über den Faschismus. Am 8. Mai 1945 unterzeichneten die Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation. Das war das Ende der faschistischen Nazi-Diktatur. Nun setzt das Land, unser Land, Ostdeutschland, nachdem die Siegermächte im Westen Deutschlands es abgelehnt haben, einen Neuen Staat zu gründen, alle Hoffnung auf die Junge Generation. Auf die Jugend. Auf euch.“

*

Nachdenklich hing Rosi ihren Gedanken nach, während ihr Blick über die abgeernteten Wiesen und Felder hinüber nach Buttstädt zu der Kirche mit dem schiefen Kirchturm schweifte. Gott hat bestimmt gewollt, dass der Krieg endlich zu Ende ist. Damit die Junge Generation, ihre Generation, von ihrem sozialistischen Deutschland aus für den Frieden in der ganzen Welt kämpfen soll. Da ist sie doch dabei. Und der erste Schritt würde die Aufnahme in die Pionierorganisation sein. Doch bis dahin war noch Zeit.



Erleichtert, und doch etwas traurig, sah Rosi in den Himmel. An dem die Wolken, unberührt von den Geschehnissen auf der Erde unter ihnen, vorbeizogen. Wie eh und je. Einige Amseln, Drosseln und Rotkehlchen flogen emsig hin und her. Andere saßen, wie aufgereiht, auf den kahlen Ästen nebeneinander. Als wollten sie sich gegenseitig beschützen. Oder wärmen. Wieder andere wetzten geschäftig ihre Schnäbelchen. Oder pickten an den Ästen nach den letzten Insekten. Bald würden sie in ihre Nester fliegen und dort überwintern.

Rosi stand auf und setzte ihren alten Ranzen auf den Rücken. Fröhlich winkte sie den Vögeln zu. „Ich werde jetzt auch in mein Nest fliegen“, rief sie. „Mama wird schon warten.“



Schnell lief Rosi Richtung Buttstädt. In Brühl 18 gab es genug zu tun. Besonders vor dem Schlafen gehen. Ein bisschen plagte Rosi schon das schlechte Gewissen. Denn immer öfter ging sie nach der Schule nicht gleich nach Hause. Irgendwie zog sie das Feld magisch an. Es kam ihr so vor, als wäre das der Platz, an den sie gehörte. Der Platz auf der Bank zwischen zwei kleinen Kirschbäumen.
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Hier konnte sie zur Ruhe kommen. Ungestört ihren Gedanken nachhängen. Ihre Seele baumeln lassen. Wie Else auf dem Sofa mit ihren Groschenheftchen. Von denen Richard behauptete, dass sie wirr im Kopf machen. Else jedoch liebte sie. Um ihre Seele baumeln lassen zu können. Und das war selten genug.

Manchmal nahm Rosi Zippi und Zappi mit. Oder nur die jungen Zicklein. Dann legte sie sich vor die Bank ins hohe Gras und schaute den Wolken zu. Während die Zicklein an ihren langen Locken zupften oder ihre schmutzigen Barfußfüße ableckten.



Am Schwimmbad angelangt, blieb Rosi stehen. Natürlich war das Tor geschlossen. Es war ja keine Badesaison mehr. Das geschlossene Tor hätte sie allerdings nicht gestört. Sie hätte ja über den Zaun klettern können. Wie mehrmals schon mit Karlchen. Doch jetzt war kein Wasser im Schwimmbecken.

„Ohne Wasser macht das natürlich keinen Sinn“, kicherte Rosi amüsiert vor sich hin.

„Das denke ich auch.“

Erschrocken drehte sich Rosi um.

„Da staunst du. Was Naseweis?“

Rosi staunte tatsächlich. Pawel. Wo kam der denn plötzlich wieder her? Sie hatten sich lange nicht gesehen. Vielleicht ist er in Polen. Oder Russland, hatte Rosi gedacht. Und jetzt stand er vor ihr. Er war es. Und er war es nicht. Er war jedenfalls nicht der Pawel, den sie in Erinnerung hatte. Der Pawel mit der knielangen, viel zu weiten Hose, die mit einem Bindfaden zusammenhielt. Dem grauen, offenen Hemd und den zerzausten blonden Haaren. Der Pawel, der jetzt vor ihr stand, war ein junger Mann. Mit einer Anzugshose. Einer schwarzen Lederjacke, unter der ein sauberes, weißes Hemd zu sehen war. Einer grau gemusterten Schiebermütze auf seinen geschnittenen, blonden Haaren. Und Schuhen. Richtigen Lederschuhen. In grau.

Verunsichert schaute Rosi auf ihre nackten Füße in den Klapperlatschen. Jetzt, im Spätherbst, ging sie noch immer barfuß. Else hoffte ja auf das nächste Päckchen aus Amerika. Vielleicht waren da ja Schuhe für sie drin. Sie war wirklich zu schnell gewachsen. Genau wie Pawel.

„Bist du groß geworden“, sagte da Pawel. „Fast eine junge Dame“, lachte er.

„Und du erst“, ging Rosi auf Pawels saloppen Ton ein, „ein richtiger, schnieke junger Mann. Wo hast du denn die Klamotten her? Etwa aus Amerika?“

„Amerika“, lachte Pawel verächtlich.
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„Viel besser. Komm mit. Ich zeige dir was. Du bist ja jetzt schon groß.“

Geschmeichelt von diesen Worten, war Brühl 18 sofort vergessen.

„Was denn“, war Rosi neugierig.

„Den Schwarzmarkt“, sagte Pawel lakonisch.



Das war doch mal was. Schwarzmarkt. Rosi wollte schon immer wissen, was es mit dem geheimnisvollen Schwarzmarkt auf sich hatte. Die Leute redeten dauernd von ihm. Aber niemand wollte sagen, wo er ist. Dort sollte es die leckersten Sachen geben. Lebensmittel. Naschereien. Kleidung. Also alles, was es auf den Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen nicht gab.

Allerdings war alles sehr teuer. Besonders nach der Währungsreform im vorigen Jahr. Die Reichsmark und die Rentenmark waren nichts mehr wert. Jetzt gab es die Westmark. Und die Ostmark.

"Die Verlierer dieser Währungsreform sind die Sparer", hatte Richard zu dem Schmids gesagt. "Und natürlich die Millionen Arbeitslosen."

"Und die Gewinner sind die, die noch Dinge besitzen. Sie können tauschen. Zum Beispiel eine wertvolle Uhr gegen ein Pfund Butter", sagte der Schmids. „Es soll sogar eine Schwarze Börse geben. Am Brandenburger Tor. In Berlin.“

„Woher willst du das wissen?“, war Richard skeptisch.

Dem Schmids konnte man auch nicht alles glauben. Obwohl der ja seine Quellen hatte. Aber er war und blieb ein Wendehals. Erst war er bei den Nazis. Dann bei den Russen. Und jetzt bei der Vereinigungspartei. Wie Richard den Zusammenschluss der KPD mit der SPD zur SED nannte.

"Er ist ein Wendehals", war Richards Meinung. "Und Wendehälsen war nun mal nicht zu trauen."

„Es ist, als sei ein Rausch über die Menschen gekommen“, erzählte der Wendehals begeistert weiter. „Die Menschen wollen tauschen, handeln, etwas lang Entbehrtes, Schönes wieder genießen. Besitzen. Um jeden Preis.“

„Wir, und bestimmt auch ihr“, sagte Richard, „haben nichts zu tauschen. Wir mussten doch alle Wertgegenstände abgeben. Alles, was die Amis damals in den Häusern gefunden haben, haben die doch mitgenommen.“

„Es gibt bestimmt auch clevere Leute, die ihre Sachen sicher versteckt haben“, sagte der Schmids.
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„Die sind jetzt gut dran.“

Wie wir damals unsere wertvollen Dürerbilder auf dem Plumpsklo, freute sich Rosi, die dem Gespräch heimlich gelauscht hatte. Aber Else würde sie niemals eintauschen. Nicht um alles Geld der Welt.



„Wir sind die Generation der Ausgehungerten. Der Ausgebombten“, fuhr der Schmids feierlich fort. „Vom Professor bis zur Trümmerfrau beschaffen sich auch jetzt noch alle, was ihnen fehlt. Vor der Währungsreform gab es ein Kilo Brot für 70 Reichsmark. Oder man konnte ein Pfund Butter für 400 Reichsmark gegen eine wertvolle Armbanduhr tauschen. Oder gegen ein Meißen-Service. Oder eine Leica. Ein Wollkostüm für 3000 Reichsmark gegen eine Stradivari. Oder Camel-Zigaretten. Das Stück zu 7 bis 13 Reichsmark gegen einen Nerzmantel. Und so weiter. Ja, das Geschäft hat wunderbar floriert.“

„Das ist ja starker Tobak“, staunte Richard. "Und wie ist es jetzt? Wo es die Reichsmark nicht mehr gibt."

"Jetzt?", sinnierte der Schmids. "Jetzt wird es wohl auch noch so sein."

„Und wir sitzen hier und rackern uns ab“, sagte Richard resigniert.

„Und, was das Schärfste ist“, setzte der Schmids noch einen drauf. „Auch die Siegermächte dealen kräftig mit. Für einige Camel oder Chesterfield oder eine Tafel Schokolade oder Seidenstrümpfe mit Naht sind auch die Damen für alles bereit. Sogar die Russen machen mit und tauschen kiloweise Butter aus großen Steintöpfen.“

„Das sind ja schöne Geschichten“, sagte Richard. „Ein Glück, dass ich mich da raushalte.“



*

Rosi hatte Else schon des Öfteren gedrängt, sie solle sich doch mal erkundigen, wo der Schwarzmarkt ist. Vielleicht gab es dort ja Baumwollstrümpfe für sie. Dann brauchte sie nicht bis in den Herbst oder gar Winter hinein mit nackten Beinen herumzulaufen. Die kratzigen Strümpfe aus Schafswolle würde sie jedenfalls nie anziehen können. Da konnte Else so viel schimpfen, wie sie wollte. Oder sie ohrfeigen. Bis ihr die Wangen brannten. Sie konnte es einfach nicht. Es war wie mit der kratzigen, blauweißkarierten Bettwäsche.

Doch Else wollte von dem mysteriösen Schwarzmarkt nichts wissen.

„Abgesehen davon, dass ich kein Geld habe, und auch nichts zu tauschen“, hatte sie gesagt, „treibt sich da sowieso nur liederliches Volk herum.
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“ Als Rosi entgegen ihrer Gewohnheit, nichts erwiderte, hatte sie schnell hinzugefügt: „Und untersteh dich, auf eigene Faust auf Erkundungsreise zu gehen.“

Und nun sollte sie mit Pawel hingehen. Zu dem heimlich ersehnten Schwarzmarkt. Wenn das kein Wink des Schicksals war.



***



Fortsetzung folgt
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