Teestubengeschichten - Kapitel 3   0

Romane/Serien · Nachdenkliches

Von:    Thomas Schwarz      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 24. Mai 2020
Bei Webstories eingestellt: 24. Mai 2020
Anzahl gesehen: 2465
Kapitel: 0, Seiten: 0

Diese Story ist die Beschreibung und Inhaltsverzeichnis einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

Kapitel Nr. 3





Der Brief



Ich arbeite als Kellner in der „Teestube“. Wenn ich gefragt werde was mir an dem Job gefällt, sage ich für gewöhnlich: Gäste bedienen! Ja wirklich, schon als Kind hatte ich diesen Tick , wenn man es denn so nennen will. Damals platzierte ich all meine Stofftiere – und Figuren um imaginäre Tische herum; dafür mussten einige Bücher aus dem Regal im Wohnzimmer herhalten. So bewirtete ich meinen Teddybär, den Zwerg, die Giraffe, Schildkröte, den Maulwurf, den Stoffhund und die Katze mit Inbrunst. Werde ich danach gefragt was ich an dem Job nicht mag, fällt mir spontan ein: Hinter den Gästen aufräumen! Ich besitze eine nahezu unendliche Geduld bei Kindern, so wird es mir jedenfalls von den Mitkollegen versichert; anders sieht es bei deren BegleiterInnen aus die oft schlimmere Verwüstungen auf dem Tisch hinterlassen als ihre Schützlinge. Sagt einiges über die Kinderstube aus, da stimmt mir die Kollegenschaft oft bei.

Manchmal führen die Hinterlassenschaften wirklich in die Kindheit der Gäste.

Vor einer Woche; ich hatte Spätschicht und die Tür hinter dem letzten Gast zugeschlossen. Ich ging an den Tisch an dem er bis zu meinem Hinweis, wir müssten jetzt schließen, saß und schrieb. Er hatte mindestens vier Stunden bei uns verbracht, in dieser gesamten Zeit nur ein Kännchen sowie eine Tasse Tee getrunken und alle Gäste angeknurrt die sich aus Not an Sitzgelegenheiten, das Haus war gut besucht, an seinen Tisch mit hinsetzen wollten. Auch ich wurde grimmig von ihm gemustert bevor er ,scheinbar im Zorn, all seine Papiere zusammen knüllte, unter den Tisch warf und aus der Tür in die nächtliche Stadt hinaus rannte. Er wirkte seltsam, unheimlich auf mich und ich war froh, als er weg war. Vor dem Abräumen des Tisches hob ich den Papierknäuel auf. Der erste Gedanke war: weg damit! Doch dann kam die Neugier dazwischen und fragte: was treibt einen Menschen dazu, Stunden in einem Café zu verbringen, Blatt um Blatt voll zu schreiben, nur um alles am Schluss achtlos auf den Boden zu werfen. War dieser Knurrhahn am Ende etwa eine berühmte Person, ein Schriftsteller, ein Dramaturg bei einem Theater oder etwa ein Terrorist der einen Anschlag plante und bis Betriebsschluss an seinem Manifest arbeitete? Ich setzte mich an den Platz auf dem er bis zuletzt saß.
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Das Polster war noch warm. Einen Moment zögerte ich, dann faltete ich die Blätter auseinander und las:



Hallo Georg



Normalerweise beginnt ein Brief an den Bruder mit dem Wort „lieber“. Ich weiß aber nicht ob du nach über vierzig Jahren noch „lieb“ bist. Entschuldige, das war ein schlechter Einstieg. Ehrlich gesagt, es ist auch nicht leicht so einfach ins Ungewisse, ins Unsichtbare hinein zu schreiben. Ich weiß nicht ob dieser Brief dich je erreichen wird, ob die Adresse noch stimmt, ob du überhaupt noch am Leben bist. Wie gesagt, vierzig Jahre gingen vorbei, seit du sagtest, ich solle „kurz warten“. Du warst damals achtzehn, ich fünf Jahre alt, der „Spätling“ wie Mutter und Vater mich immer nannten. Es war abends, Schlafenszeit. Du hattest mir vorgelesen, von Pippi Langstrumpf, aus dem zweiten Band: „Pippi geht an Bord.“ Es war die Stelle an der Pippi einen Brief an sich selbst verfasste, da schrie Papa deinen Namen. Oft schrie er dich so an; du hattest ihn aber auch oft angeschrien.

Worte flogen durch´s Haus die ich damals nicht verstand, heute weiß ich was sie bedeuten. Mutter verriet es mir nach Vaters Tod. Georg, mit fünf Jahren macht ein Kind keinen Unterschied zwischen einem leiblichen und nicht leiblichen Bruder.Du warst, bist und bleibst mein großer Bruder.

Du hast das Lesezeichen ins Buch getan, hast es auf den Nachttisch geschmissen und mir versichert, du wärst gleich zurück.

Ich hab auf dich gewartet und das Buch nie zu Ende gelesen, obwohl ich spätestens im Folgejahr lesen konnte. Du warst es ja, der mir das Alphabet und die ersten zwei Worte beibrachte. Noch vor der ersten Klasse konnte ich EISENBAHN und meinen Vornamen PETER schreiben. Das war vielleicht was als ich, stolz wie Oskar, im Kindergarten vor Tante Anneliese und Onkel Matthias erzählte, mein großer Bruder hätte mir das Schreiben beigebracht. Alle wollten es sehen und ich durfte beide Wörter auf ein Papier kritzeln. Vor allem Onkel Matthias lachte und sagte, mit Brüdern wie dir wäre seine Zukunft ruiniert. Er studierte zu der Zeit auf Lehramt. Ich weiß nicht ob er´s geschafft hat. Vielleicht arbeitet er auch in einer Buchhandlung.
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Er las uns oft vor und immer war es etwas neues, nie das gleiche Buch zweimal.

Nachdem du weggegangen warst, wollte Vater deinen Namen nicht mehr im Haus hören. Du wärst „tot“ und „Tote soll man ruhen lassen“, erklärte man mir. Ich spürte gleich, dass sie damit nicht den wirklichen Tod meinten, aber ich hab trotzdem so große Angst bekommen, weil ich spürte, ich hab meinen großen Bruder verloren, das war für mich auch wie „Tod.“

Das blieb Gesetz. Auch Mutter hielt sich daran, bis Vater auf dem Friedhof lag. Eineinhalb Jahre später ging sie auch. Drei Tage bevor sie starb, es geschah so unerwartet, kam sie zu mir hoch und reichte mir einen Zettel auf dem eine Postfachnummer stand. „Wenn du willst, kannst du Georg schreiben. Das war jedenfalls seine letzte Adresse vor zwanzig Jahren.“ Ich war sprachlos. Sie wusste wie ich dich vermisste. Dennoch behielt sie diese einzige Möglichkeit, dich zu finden, für sich. Hattet denn wenigstens ihr beide Kontakt über all die Jahre, ohne dass Vater davon erfuhr? Ich blieb übrigens in unserem Elternhaus wohnen welches ja auch zur Hälfte dir gehört, mein Lieber.

Apropos, du weißt gar nicht was aus mir wurde. Du und ich besuchten ja beide die gleiche Schule im Ort; logisch, war ja auch die einzige. Die Eltern schickten dich dann auf die Hauptschule in D. Ich ging nach B. zur Realschule. Vater wollte unbedingt, dass aus mir was „richtiges“ würde. In die Hauptschulen hatten er und Mutter wohl kein wirkliches Vertrauen damals.



Aber zurück zur Jugend. Du kennst doch das Schreibwarengeschäft KONTOR am Zeughaus, wo du deinen ersten Füller bekommen hattest, rot war er, das weiß ich noch, weil ich ihn mal auf den Boden schmiss nachdem ich auf deinen Schreibtisch geklettert war, ja da staunst du, soweit kann ich mich noch zurück erinnern. Es war das einzige mal, dass du mich angeschrien hattest. Ich hab mich so erschreckt, Vater kam die Treppe hoch gepoltert um zu sehen was los war. Du hattest sofort aufgehört, mich durchgekitzelt und wir lachten beide wie verrückt.

Also, bei Herrn Janutzki machte ich meine Lehre. Er war nett. Das einzige was mich anfangs störte, war seine Pingeligkeit. Abends mussten genauso viele Kugelschreiber im Behälter neben der Kasse stehen wie am Morgen. Als ich einmal versehentlich einen Stift in meiner Hosentasche stecken hatte, kam das einem Verbrechen gleich, so hatte er sich zumindest aufgeführt, dabei vergaß ich nur dieses Ding wieder in den heiligen Becher zurück zu stellen.
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Mit der Zeit übernahm ich sogar diese Marotte und als Sandra und ich heirateten, nahm sie mir als zweites Eheversprechen ab, dass ich allein für Ordnung und Sauberkeit von Wohnung, Haus und Garten zuständig sei – bis der Tod uns scheide, nein, sie lebt noch und lässt dich unbekannterweise ganz herzlich grüßen. Als ich im KONTOR anfing, bestand das Sortiment zu gut zwei Dritteln aus Schreibwaren, was auch Herrn und Frau Janutzkis Absicht war. Konkurrenz gab´s damals keine, der Laden war im Umkreis von vier Dörfern der einzige der Schreibwaren anbot. Ein paar Bücher standen hinten in der rechten Ecke, zumeist Kinder – und Jugendbücher. Herr Janutzki schimpfte immer wenn die Kinder von der Schule kamen und in den Büchern und Zeitschriften blätterten. Hast du das damals auch gemacht Bruderherz? Dann kanntest du ihn und seine Frau. Wusstest du, daß die Familie Verwandtschaft hatte in Chile, genauer gesagt im schönen Valdivia, unten im Süden. . Herrn Janutzkis Patentochter Sandra kam für ein halbes Jahr zu Besuch in unseren Teil der Welt, unter anderem für einen Deutschkurs, aber das ist eine lange Geschichte, mit vier Flügen nach Chile, drei Spanischkursen und vielem anderem, was einen zweiten Brief füllen würde oder ,daß du zurück kommst, mir meine Geschichte zu Ende ließt, dann würde ich dir den Inhalt dieses zweiten Briefes erzählen.

Jedenfalls, der Chef wusste, daß ich niemals im Sinn hatte unseren Ort zu verlassen auch nicht für die Heimat von Sandra. Ganz im Gegenteil, die zog nämlich hierher. Eines Tages eröffnete uns dann Klaus, er und seine Frau planten das Geschäft abzugeben und hätten dabei an uns gedacht und was soll ich sagen, Sandra hatte den Einfall, eine Buchhandlung daraus zu machen. Ihre Mutter arbeitete in Valdivia in der Bücherei, wen wundert´s ? Heute besteht der Laden also zum größten Teil aus Büchern. Die Schreibwarenecke ist überschaubar.

Unser Eduardo kam vor zehn Jahren zur Welt, Hans entschloss sich vor drei Jahren anzukommen.. Eduardo hatte nicht das Glück einen großen Bruder zu haben und so lernte er die ersten Buchstaben in der Schule.
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Ich geb´ s zu, ich war ein lausiger Vater, hatte keine Zeit und auch nicht den Kopf dazu. Sandra nahm´s mir nicht übel, nutze aber ihre Chance und heute spricht Eduardo zwei Sprachen perfekt. Wenn ich ihn mir so anschaue, habe ich manchmal Sorge, daß wir uns bei den kommenden Auseinandersetzungen so weh tun könnten wie du und Papa damals.

Sein erstes Wort das er schreiben konnte war: KARTE und ich bin überzeugt, er war nicht weniger stolz als ich damals. Deine Schwägerin meint immer, wenn die Rede auf dich kommt - dein Name wird bei uns oft genannt, ich solle die Dinge von früher sein lassen, auch die ungelösten und unbeantworteten. Sie hätte auch vieles zurückgelassen, damit wir beide im Leben voran kämen. Aber ich schaff´s nicht, Georg. Bin ich abergläubisch? Können sich Schicksale wiederholen? Ich sehe Hans an und habe Angst, sein großer Bruder wirft das Buch hin und kehrt nicht mehr zurück um die Geschichte fertig zu lesen. Hätte der Kleine nicht das Recht, die Geschichte zu Ende zu hören? Muss ich ….



An dieser Stelle endete der Brief. Ich behielt ihn noch einen Monat bei mir im Spint. Etwas in mir dachte und hoffte, daß dieser Kauz nochmal auftauchen und nach seinen Blättern fragen würde aber er kam nicht wieder.
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Kommentare zur Story:

  Hallo Thomas, von mir an dieser Stelle auch ein Dankeschön für diese tolle Geschichte.
Liebe Grüße  
   Gerald W.  -  29.06.20 22:20

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  Hallo Else, grüß dich, hoppla, ich war jetzt ganz
überrascht dass die Geschichte schon "drin"ist und
mehrmals Anklang fand. Also vielen Dank für den
netten Kommentar.
Gruß vom Thomas  
   Thomas Schwarz  -  25.05.20 21:22

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  Lieber Thomas,
Das ist aber eine eigenartige Geschichte, denn sie hat kein Happy end, aber vielleicht gerade darum ist sie so authentisch und geht unter die Haut. Auch von mir den Grünen, denn ich liebe diese leisen Töne.
L.G.  
   Else08  -  25.05.20 17:41

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