Der Preis für´ s Paradies   287

Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Thomas Schwarz      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 9. November 2016
Bei Webstories eingestellt: 9. November 2016
Anzahl gesehen: 2189
Seiten: 3

Der Körper des 81 jährigen Jeremia versagte seinen Dienst und auch er, Jeremia, wollte nicht länger die Demütigungen des Alters ertragen. Er ließ los und fiel hinein in die samtene Dunkelheit die sich vor ihm ausbreitete. Das Durchtrennen der Silberschnur merkte er nicht.

Was ihn wunderte war, dass die Dunkelheit sich wieder lichtete und er immer noch Jeremia war und es sich doch anders anfühlte, so als wäre er zwanzig mit einundachtzig Jahren Lebenserfahrung. All die schönen Momente seines Lebens zogen an ihm vorbei und er wurde wehmütig. Ein Engel tauchte neben ihm auf und fragte freundlich wie er ihm helfen könne. „Ich will all die schönen Momente meines Lebens wiederhaben“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Der Engel brachte ihn zu Gott und Jeremia trug vor dem Höchsten nochmals sein Anliegen vor. „Kein Problem“, erwiderte dieser und bot Jeremia an, neben ihm Platz zu nehmen. „Wir müssen nur einige Vorbereitungen treffen“, und Jeremia begann zu sehen:

Seine Mutter wurde geborgen als eines von zehn Kindern. Die Eltern waren nicht erfreut über den neuen Erdenbürger: Wieder ein hungriges Maul zum Stopfen. Er sah wie sie und die anderen Kinder immer wieder vom Vater mit dem Gürtel verprügelt wurden und es gefror ihm das Herz. Er verfolgte, wie Mutter mit dreizehn Jahren zu einem entfernten Bauernhof gebracht wurde und für mehrere Jahre als Hausmagd arbeitete, wie sie an manchen Nächten ins Bett fiel, ohne eine warme Mahlzeit bekommen zu haben, wie sie Vater kennen lernte und wie sich die Nachricht vom Kriegsbeginn im Land verbreitete. Ungefähr damals kam er zur Welt. Er sah wie die Eltern mit ihm in den Keller flüchteten, um Leib und Leben zitterten während der Bombenangriffe, wie Vater von einem wahnsinnig gewordenen Unbekannten vorm Haus erschossen wurde und Mutter von da ab den kleinen Sohnemann täglich in den Arm nahm, drückte –und jetzt sah er den ersten schönen Moment seines Lebens sich auftauchen – wie sie ihm sagte: „Du bist mein Ein und Alles, das wichtigste auf der Welt“, als er verstand und begriff.

Er sah Lukas in sein Leben treten, den besten Freund, der ihn mit der Literatur bekannt machte, ihn zu Hesses Siddharta führte –und jetzt fühlte er diesen wundervollen Moment in sich aufsteigen, als er, ergriffen von der Geschichte, sich entschloss, dass Bücher, dass Literatur einen großen Platz in seinem Leben einnehmen würden.
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Er sah, wie er Elena kennen lernte und wie einer ihm den Dolch in den Rücken stieß, als sie Lukas am Traualtar das Jawort gab. Zu jener Zeit starb Mutter und Jeremia sah wie es ihn traf, als die drei, die ihm alles bedeuteten, aus seinem Leben schieden. Es war der Same den Lukas in ihn eingepflanzt hatte, der ihn damals rettete und er machte sich wie ein Besessener daran den Traum der daraus wuchs, wahr zu machen. Was für ein herrlicher Moment als er sah, wie er den Pachtvertrag unterzeichnete und seine Buchhandlung einrichtete, wie Thomas Mann, Hesse, Kafka, wie die großen der Literatur um ihn eine schützende Mauer bildeten, ihn vor Bitterkeit, vorm Selbstmitleid bewahrten.

Klaus trat in sein Leben. Er hatte die Annonce in der Zeitung gelesen: - "Buchhändler mit Erfahrung gesucht" – und er brachte das Lachen in die Buchhandlung, viele heitere Bücher, die den Umsatz steigerten und den Ausbau des kleinen Ladens erforderten. Er brachte Bewegung in Jeremias Leben, viele Wanderungen auf breiten, bequemen Wegen, sowie auf schmalen, steilen Naturpfaden, die nur von erfahrenen Wanderern mit passender Ausrüstung benutzt werden konnten und er brachte die Liebe und es wurde ein langer, schmerzvoller und einsamer Weg als Klaus die Diagnose erhielt und Jeremia der einzige im Zimmer war, der ihm zwei Jahre später die Hand hielt. Er wollte ihn nicht gehen lassen. Noch eine Stunde nach dem letzten Ausatmen hielt er ihn fest und nur er stand an diesem kalten Tag im November, wo´s regnete, bei den Friedhofbediensteten und schaute zu, wie die Urne in der Wiese der Anonymen versenkt wurde.

Jeremia sah – und wieder tauchte einer dieser wundervollen Momente auf –wie er im darauffolgenden Frühjahr die Erkenntnis gewann, dass er es selbst war, der jeden Tag auf´ s neue entschied, sich von Meinungen und Weltanschauungen anderer abhängig zu machen und unter ein Schutzdach zu fliehen oder frei und unabhängig zu fühlen, zu denken, zu sein und damit draußen im Regen, im Sturm, in der Kälte aber auch in der Sonne, in der Wärme zu gehen und zu stehen.

Ein Hund wurde geboren, ein Rauhaardackel. Die Züchter nahmen den Welpen der Mutter nach vier Monaten weg, schlugen ihn tot und warfen ihn ins Gebüsch.
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Jeremia sah wie er bei einer einsamen Wanderung vorbei kam und den blutüberströmten Tierkörper daliegen sah. Er hob ihn auf und sah, dass das Tier noch atmete. Er sah sich mit dem Blutklumpen zum nächsten Tierarzt eilen, er beobachtete wie dieser das Tier rettete und gesund pflegte. Jeremia nahm das Tier auf. So kam Peppino in sein Leben und Margret, Hanna, Nikolas und Bert, alles Hundebesitzer die er durch die täglichen Gassi Stunden kennen lernte. Es wurden Freunde für ´s Leben. Unzählige schöne Augenblicke, Momente folgten. Immer gab es etwas zu feiern, Geburtstage, Weihnachten, gemeinsame Unternehmungen und gemeinsam trauerten und trösteten sie einander wenn einer ihrer Schutzbefohlenen aus dem Leben schied.



Gott lehnte sich zurück: „Die Vorbereitungen werden jetzt abgeschlossen. Der Engel steht bereit. Er wird dich zur Erde hinab führen wo du einen neuen Körper erhältst mit dem du all deine schönen Erlebnisse wieder durchleben wirst.“ Jeremia hielt für einen Moment inne: „Ich will aber nur die schönen haben!“ Gott schüttelte den Kopf: „Das geht nicht mein Lieber. Eines bedingt das andere. Du musst alles annehmen.“ Jeremia schlug entsetzt die Hände vor´ s Gesicht: „Ich will aber nicht, dass sie Peppino wieder weh tun, ich will nicht, dass Klaus wieder krank wird und er soll nicht mehr sterben; ich könnt´ s nicht nochmal ertragen und Mutter, oh, Gott, lass Mutter und Vater nicht wieder durch all das gehen müssen und ich mag auch nicht nochmal verraten werden von Elena und Klaus.“ Mussten die denn all das tun und erdulden für meine schönen Momente, mein Paradies?“, und bitter wurde es im alten Jeremia, als er erkannte wie hoch die Preise für unsere irdischen Paradiese zuweilen sind.

„Worum geht´s dir denn wirklich, Jeremia?“

„Ich will Mutter und Vater wieder sehen, ich will Klaus wieder haben und Peppino!“

„Warum?“

Weil sie mir das Liebste sind und ich nicht ohne sie sein will.“

„Dazu musst du aber nicht auf die Erde zurück!“

Wir haben der Unterredung zwischen Jeremia und Gott nicht länger zugehört und uns diskret zurückgezogen, aber, wir sind überzeugt, dass der Allmächtige unserem Jeremia den Ort gezeigt hat, wo er diejenigen wieder trifft, die ihm das Liebste sind und ohne die seine Seele nicht sein will.
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Die Wegbeschreibung ist ganz leicht: 1. Korintherbrief Kap. 13/ Vers 13.
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Punktestand der Geschichte:   287
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Kommentar von "Marie" zu "optimistischer Pessimist"

Mir gefällt es, egal, was andere denken. Auch die berschrift lockt. Gruß marie

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Eine höchst interessante Geschichte. Und ganz toll geschrieben. Ich bin gespannt, wie es weiter geht. Gruß von

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