Meine Reise nach Lebensende    252

Kurzgeschichten · Nachdenkliches

Von:    Carmen Mazina      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 6. November 2016
Bei Webstories eingestellt: 6. November 2016
Anzahl gesehen: 2217
Seiten: 4

,,Sehr geehrte Gäste, auf Gleis 1 fährt ein der Zug von Frankfurt nach Hanau in Richtung Lebensende, planmäßige Abfahrt 8 30 Uhr. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt!“

Mit quietschenden Bremsen rollt mein Zug des Lebens ein. Ein letztes Mal nehme ich meine Frau in die Arme, küsse sanft ihre tränennassen Wangen. „Sei nicht traurig, dass ich dich verlasse, freu dich, dass wir so viele Jahre zusammen sein konnten.“, flüstere ich ihr ins Ohr. „Ich werde an der Brücke auf dich warten, wie versprochen.“ Schluchzend und doch tapfer nickt meine Frau.

Die Türen des Zuges springen auf, ich steige die drei Stufen hoch, betrete das Abteil, gehe an den sichtbar voll besetzten Sitzen vorbei, bis ich endlich einen freien Sitzplatz neben zwei Reisenden entdecke. „Darf ich mich dahin setzen?“, frage ich freundlich. „Ja, bitte schön!“, erwidert einer der Fahrgäste. Der Mann deutet mit seiner rechten Hand auf den freien Platz. „Oh. Vielen Dank.“ Ich lege meinen Rucksack auf die Gepäckablage und lasse mich auf meinen Platz nieder, blicke aus dem Fenster hinaus und sehe meine Frau auf dem Bahnsteig, welche mir weinend zuwinkt. Ich winke ihr zurück, möchte ihr noch etwas sagen, doch schon höre ich ein Pfeifen, woraufhin sich der Zug sich erbarmungslos in Bewegung setzt – in Richtung Lebensende. Ich mache es mir auf meinem Sitz bequem.

„Wohin geht die Reise, wenn ich fragen darf?“

„Nach Lebensende.“, antworte ich dem mir gegenüber sitzenden Herrn, der mich dabei freundlich anlächelt.

„Dann haben wir wohl das gleiche Ziel.“

„Schön“, antworte ich, „das freut mich.“

Mein Gegenüber hat eine kleine Tasche auf seinem Schoß, die er mit beiden Händen festhält, so als wolle er den Inhalt beschützen. „Soll ich ihre Tasche auf die Gepäckablage legen?“ „Oh nein, der Inhalt ist für mich das Wertvollste, was ich in meinem Leben besessen habe, deshalb nehme ich ihn mit auf meine Reise nach Lebensende.“

„Den Fahrschein, bitte!“, fordert der nun erscheinende Kontrolleur uns auf.

„Bitte schön!“, lächelnd reiche ich ihm meine Fahrkarte.

„Ah, sie fahren bis Lebensende?“

„Ja.“

„Haben Sie Gepäck dabei?“, erkundigt er sich.

„Nur den Rucksack“, und deute auf die Gepäckablage.

„Sonst nichts?“, fragt der Kontrolleur, sich ungläubig das Kinn reibend.
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„Da ist alles drin, was mir wichtig ist.“

„Was ist mit ihrem Hab und Gut, ihrem Wertvollsten und Kostbarsten?“

„Was ich für meine Reise brauche, sind meine Erinnerungen. Sie sind das Kostbarste und Wertvollste, das ich besitze.“, lächle ich ihn besonnen an.

Nachdenklich locht der Kontrolleur meine Fahrkarte, tippt sich an seine Kappe und wünscht mir eine gute Reise. Dann nimmt er die entgegengestreckte Karte meines Gegenübers. „Sie reisen auch bis Lebensende?“

„Ja“.

„Haben Sie noch ein zweites Gepäck dabei?“

Mein Gegenüber deutet auf die Tasche auf seinem Schoß.

„Nein, dort drin ist alles, was mir wertvoll ist und war.“

„In dieser kleinen Tasche?“

Ungläubig schaut der Kontrolleur auf die kleine Tasche, während er ihm den Fahrschein zurückreicht.

„Guter Mann, sie machen mich neugierig. Darf ich fragen, was für sie so wertvoll ist, dass sie es bis nach Lebensende mitnehmen?“

Mein Gegenüber lächelt gütig und streichelt dabei über seine Tasche.

„Darin befindet sich meine Erkenntnis.“

Die Dame neben ihm seufzt mit verschlossenen Augen. Nahezu anmutig wirkt sie durch ihre schlanke Erscheinung. Zwischen ihren Beinen steht ein großer, altmodischer Koffer, den Gurte zusammenhalten. Der Koffer ist sichtlich prall gefüllt, die Verschlüsse können dem Druck kaum noch standhalten.

„Was war das für eine Erkenntnis?“, fragt die Dame mit dünner Stimme und geschlossen gehaltenen Augen nach.

„Das würde ich auch gerne wissen.“, mischt sich der Kontrolleur ein.

Mein Gegenüber lehnt sich bequem auf seine Lehne und blickt versonnen auf die Tasche auf seinem Schoß und beginnt zu erzählen.

„Früher, als ich jung war, habe ich immer davon geträumt, reich zu sein. Ich dachte, wenn ich reich wäre, mir alles kaufen könnte, ein großes Haus, ein teures Auto und tolle Urlaube, würde mich das sehr glücklich machen. Leider war das nur ein Wunschtraum, weil ich ein einfacher Handwerker bin, früh schon meine Frau kennenlernte, die schon bald schwanger wurde. Ich musste viele Überstunden machen, um uns ein halbwegs sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Wenn ich ein pompöses Haus sah oder einen heißen Schlitten, haderte ich jedes Mal mit meinem Schicksal, dachte, wie glücklich ich doch wäre, wenn mir das alles gehören würde.
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Als unsere Tochter 8 Jahre alt war, gönnten wir uns den ersten Urlaub, Gran Canaria. Wir genossen die zwei Wochen in unserem Hotel, die schönen Stunden am Strand und den herrlichen Blick aufs Meer. Am letzten Tag vor unserer Abreise sahen wir dann auf einer Tafel im Hotelfoyer stehen, ,Ausflug mit Kamelreiten!‘ Spontan entschieden wir uns mitzumachen. Am Nachmittag wurden wir mit mehreren Hotelgästen von einem Bus abgeholt. Über meist holprigen Straßen kamen wir nach etwa einer Stunde an. Freundlich wurden wir von den Kameltreibern begrüßt, sie animierten uns dazu, die Tiere zu streicheln. Ganz niedlich waren die Babykamele, ich fotografierte einige von ihnen, um uns später ein Andenken an den schönen Ausflug zu bewahren. Es war soweit! Die Kamele waren startklar. Mit einem starken Seil waren sie in einer Zweierreihe miteinander verbunden. Nun halfen die Kameltreiber jedem Touristen dabei, hoch auf die Kamele zu gelangen. Anschließend stand ein Kamel nach dem anderen auf. Ich saß auf dem ersten Kamel, das von einem Einheimischen am Seil geführt wurde, einem jungen Mann, er war barfuß und trug nur Shorts. Der Mann tat mir leid, musste er doch den ganzen Tag ohne Schuhe über den heißen Sand laufen. Doch meine Aufmerksamkeit gewann plötzlich der Mann neben mir, da er lautstark schimpfte, dass er auf seinem Kamel hin und her geschaukelt werde. Ich schaute mir den Mann etwas genauer an. Braungebrannte Haut, Goldkette, teure Armbanduhr, Siegelring am kleinen Finger, das Leder seiner Schuhe glänzte in der Sonne, seine blond gefärbten Haare hatten eine Dauerwelle, er trug sein edles weißes Hemd offen, damit man seinen dicken Wohlstandsbauch sehen konnte. ,Der muss sehr reich sein‘, dachte ich neidisch, ,er wird all das haben, was ich mir immer erträumt habe.‘ Ich sah in sein Gesicht und wunderte mich, wie man so unzufrieden sein konnte, wenn man doch so reich war. Ich sah einen unglücklichen Menschen. Nachdenklich schaute ich nach vorne auf den Kameltreiber, den ich bedauerte. Genau in dem Moment drehte sich der junge Mann zu mir um. Er strahlte über sich hinaus, sein Körper war wie von einer Lichtaura umgeben. Glücklich, zufrieden und in Harmonie mit sich und seinem Schicksal, ja das war er. In dem Moment wurde mir klar, dass Reichtum nichts mit Geld zu tun hatte. – ,Wenn ich das lebte, was ich bin, wäre ich der reichste Mann der Welt.‘ “

Versonnen streichelte sich der Mann über seine kleine Tasche.
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Verschämt trocknete die Dame neben ihm sich mit einem Spitzentaschentuch eine Träne weg.

„Ihre Fahrkarte, bitte!“, wendete der Kontrolleur sich an die Dame. Sie erschrak und suchte nun hastig die Taschen ihres Mantels nach der Fahrkarte ab.

Ungeduldig fragte der Kontrolleur: „Haben Sie überhaupt eine Fahrkarte?“

„Selbstverständlich habe ich eine Fahrkarte!“, verkündete sie und wurde in der Innentasche des Mantels fündig. Mit einem Anflug eines Lächelns überreichte sie dem Kontrolleur die Fahrkarte.

„Ahh, da sind sie wohl nun Drei, die es nach Lebensende führt!“

„Gute Frau, soll ich ihren Koffer auf die Gepäckablage heben? Dann haben Sie mehr Beinfreiheit.“, bot ich der Dame an.

„Nein, vielen Dank, aber ich trage schon ein Leben lang den schweren Koffer mit mir herum.“

„Was ist denn da drin, wenn ich fragen darf?“

„Der Koffer ist voll mit Schuld, die ich mir aufgeladen habe und nun muss ich diese Last mit auf meine letzte Reise nehmen.“

Die Dame tat mir Leid. Ich hatte das Bedürfnis, ihr zu helfen. Ohne ihre Schuld bewerten zu wollen, forderte ich Sie auf, den Koffer zu öffnen. Als hätte sie schon jahrelang darauf gewartet, schob sie den Koffer mit Händen und Füßen in die Mitte des Fußbodens. Ich löste die Gurte des prall gefüllten Koffers und schon sprangen die Schlösser auf. Nun lag der Koffer ausgebreitet vor uns. Wortlos nahm ich mir einen Teil Schuld aus dem Koffer. Auch mein Gegenüber bückte sich, um sich einen Teil Schuld aus dem Koffer zu nehmen. Mit einem Augenzwinkern ermunterte ich den Kontrolleur, sich ebenfalls einen Teil Schuld herauszunehmen.

„Ach ja, warum nicht.“, erwiderte er und griff nach einem Teil Schuld.

Die Dame blickte in den Koffer. Tränen der Rührung liefen ihr über die Wangen. „Fast mein ganzes Leben habe ich diese Last mit mir herumgetragen. Bis eben habe ich noch gedacht, dass ich den schweren Koffer bis nach Lebensende tragen muss. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann. Wenn Sie wüssten, wie erleichtert und befreit ich mich nun fühle!“

„Nächster Halt, Lebensende! Sehr geehrte Fahrgäste, hier endet die Fahrt, bitte steigen Sie aus dem Zug!“

Meine Mitreisenden und ich waren am Ziel angelangt. Ich nahm meinen Rucksack von der Gepäckablage, tat die Schuld zu den Erinnerungen, während mein Gegenüber sich die Schuld zu seiner Erkenntnis stopfte.
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Die Dame genoss sichtlich ihre Leichtigkeit, wie ihr strahlendes Gesicht verriet. Der Kontrolleur blieb an der Tür stehen, wir stiegen die Stufen hinab, in der Ferne, am Horizont konnte man den Regenbogen sehen. Ich drehte mich um, um dem Kontrolleur ein letztes Mal zuzuwinken. Er winkte zurück, drehte sich um, um wieder in den Zug zu steigen. Dabei sah ich seine Flügel.
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