Gespräch mit dem Tod    289   1

Kurzgeschichten · Nachdenkliches · Experimentelles

Von:    Michael Kuss      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 18. Januar 2014
Bei Webstories eingestellt: 18. Januar 2014
Anzahl gesehen: 3261
Seiten: 4

Als der Tod erneut bei mir klingelte, war ich nicht zu Hause. Schon vorher hatte ich mich ein paar Mal mit Mühe und Not gegen seine Aufdringlichkeit gewehrt, oder war ihm mit enorm viel Glück von der Schippe gesprungen.



Schließlich fand ich im Briefkasten einen Benachrichtigungsschein, ähnlich wie beim Postboten, wenn er bei einem Einschreiben den Empfänger nicht antrifft. Allerdings nicht so freundlich mit „Sehr geehrter Herr…, Sie werden gebeten…“, sondern ziemlich kühl und sachbezogen „…werden Sie ... nach mehreren erfolglosen Mahnungen ... letztmalig aufgefordert, sich bereitzuhalten und die notwendigen Vorsorgen zu treffen…!“



Natürlich meldete ich mich nicht – wer geht schon freiwillig zum Tod? Höchstens potentielle Selbstmörder, oder Dauerdepressive, die den Tod als Erlösung empfinden. Aber dazu gehöre ich mit Sicherheit nicht; ich liebe das Leben, habe es - trotz allen gelegentlichen Widerwärtigkeiten - fast ausnahmslos genossen und möchte es eigentlich auch noch ein bisschen weiter genießen, wenn nur diese Benachrichtigung nicht in meinem Briefkasten gelegen hätte.



Zumal es nicht die erste Erinnerung war, die ich ohne Beachtung in den Wind geschlagen hatte. Ich ließ es also erneut darauf ankommen, steckte den Kopf in den Sand und wartete einfach ab. Wenn er kommt, würde ich in aller Ruhe mit ihm reden und versuchen, Aufschub zu erwirken. Selbst der Tod, so dachte ich, kann sich klugen Argumenten nicht verschließen und hat doch sicher einen zeitlichen Spielraum, den er einem ambitionierten und vielbeschäftigten Zeitgenossen wie mir nicht verwehren kann.



Zwar war die Erkenntnis von der Begrenzung des irdischen Daseins auch bis zu mir vorgedrungen, aber es musste ja nicht jetzt gleich sein; das passte mir überhaupt nicht und darüber würde ich mit dem Tod diskutieren.



Als er dann doch früher als erwartet plötzlich vor mir stand, stammelte ich nur: „Das kommt mir aber gerade sehr ungelegen. Ich wollte eigentlich noch schnell…!“ Er schnitt mir das Wort ab und sagte mit vorwurfsvollem Erstaunen: „Sie sind also nicht vorbereitet?“



Ich wollte auf Kumpel machen und eine gute Gesprächsatmosphäre schaffen, hielt ihm die ausgestreckte Hand hin und sagte: „Das SIE kannst du dir sparen! Ich bin der Lothar!“



Unbeeindruckt und mit todernstem Gesichtsausdruck übersah er meinen Anbiederungsversuch.
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„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir beide schon zusammen Schlitten gefahren sind!“ sagte er eiskalt. „Ich duze mich nur mit meinesgleichen!“



Ich zuckte zusammen; meine Hoffnung auf Aufschub des Unvermeidlichen sank bereits jetzt auf null. Mit nüchterner Sachlichkeit und ohne Umwege kam der Tod auf sein Anliegen zurück: „Ich frage Sie noch einmal: Sind Sie vorbereitet?“



„J-ein!“ druckste ich herum. „Ich ahnte zwar, dass Sie eines Tages vor mir stehen würden, aber jetzt momentan kommt es mir doch ein bisschen plötzlich. Ich wollte vorher noch die eine oder andere Angelegenheit erledigen…“ stotterte ich. „Bisher hatte ich dazu nicht genügend Zeit. Sie wissen ja wie das im Leben so ist und … und… jetzt… wollte ich noch schnell…!“ Aufgeregt zählte ich ihm eine ganze Liste auf, die mir in der Eile einfiel: Tante Emmas Geburtstagsfeier, welche Folgen hätte es, wenn ich den Geburtstag der Erbtante…? Oder den nächsten Urlaub mit Barbara, den hatte ich Barbara ganz fest versprochen, oder wieder mal zusammen ins Kino, wo wir Kino doch so liebten, und die vielen anderen Sachen, die mir eine angenehme Gewohnheit geworden waren, Auto fahren oder meine Lieblingsfernsehserien, es ist unglaublich, welche Banalitäten man plötzlich als wichtig erachtet. Sogar mit Thomas sollte ich endlich über unsere Vater-Sohn-Probleme reden und das Rauchen wollte ich mir abgewöhnen und weniger Fleisch essen, und ich möchte noch den Sinn des Lebens herausfinden und Bilanz ziehen, man sollte doch wenigstens Zeit für eine Lebensbilanz bekommen, und, und...! Und jetzt kommen Sie daher und machen mir einen Strich durch meine Planung. Lassen Sie mir bitte noch etwas Zeit!



Ich zählte die tausend Kleinigkeiten des Alltags auf, die nun plötzlich aus und vorbei sein sollten, nur weil der Tod so ungeduldig ist und kein Pardon mit mir zu haben schien, zumal da draußen in der Welt tausende andere Aspiranten zur Verfügung standen, die statistisch gesehen sogar vor mir an der Reihe wären.



„Hören Sie!“ sagte der Tod und ich bemerkte eine leichte Verärgerung in seiner Stimme.
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„Ich bin nicht zum Diskutieren hier! Ich bin weder Sozialarbeiter, noch Psychoanalytiker, sondern ausführendes Organ mit klarem Auftrag! Richten Sie sich bitte danach!“



‚Dieser Paragrafenreiter! Dieser Bürokrat! Hat keinen Funken Menschlichkeit in seinem Herzen! Ob dieses Scheusal überhaupt ein Herz hat?‘ dachte ich angewidert, sagte aber stattdessen mit scheinbarer Einsicht: „Ich weiß, ich weiß! Es ist eben nur, weil ich wirklich noch ein paar ganz, ganz, ganz wichtige Sachen zu erledigen hätte…!“



„Mit diesen Ausreden kommen fast alle!“ sagte der Tod nun beinahe resigniert. „Ich kann es nicht mehr hören! Kaum jemand ist vorbereitet! Und jetzt wollen Sie auch noch mit mir diskutieren! Es ist zum Kotzen, wenn ich denn könnte…!“ Fast schien es mir, als würde ich bei meinem Gegenüber eine gewisse Traurigkeit erkennen, die auf Gesprächsbereitschaft schließen ließ. Ich schöpfte wieder Hoffnung…



"Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen", fuhr der Tod fort, "dass Ihr Leben nur noch aus eitel Sonnenschein besteht. Auch Sie haben unterdessen bestimmt etliche Wehwehchen, die Ihnen das Leben beschwerlich und nicht immer lebenswert machen?! Wäre da der Tod nicht eine Alternative?"



"Ich will nichts davon hören!" antwortete ich aufgebracht. "Selbst wenn ich bewegungslos im Rollstuhl sitzen müsste, so wäre das noch immer Leben und dem Tod vorzuziehen!"



„Aber haben Sie denn niemals an Ihr irdisches Ende gedacht!“ fragte der Tod. "Sie hätten doch wissen müssen, dass nichts für die Ewigkeit ist!" Dann fügte er hinzu: "Außer dem Tod, natürlich!"



„Hören Sie bitte auf mit solchen makabren Geschichten! Mir wird übel, wenn ich nur daran denke!“ wehrte ich ab. „Außerdem, wer denkt schon an den Tod, zumindest an den eigenen?“ fragte ich zurück. „Man lebt und lebt und denkt jeden Tag das geht so weiter. Man schöpft aus dem Vollen, solange es irgendwie geht. Mit dem Geldausgeben ist es doch genauso! Da unterscheide ich mich wohl kaum von den anderen Millionen und Milliarden Durchschnittsmenschen…?!“



„Das ist ja das Problem!“ seufzte der Tod.
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„Und deshalb gibt es immer wieder diese fruchtlosen Diskussionen und falschen Erwartungen. Ich möchte es einmal erleben, dass ein Kandidat sich rechtzeitig Gedanken macht über den Tag X und seine Vorbereitungen abgeschlossen hat. Stattdessen steht ihr teils bettelnd und flehend, teils fordernd und dickköpfig diskutierend mit tausend Ausreden vor mir! Das bringt meine ganzen Planungen durcheinander! Ich schaffe mein Soll kaum noch! Und nun werden in den Kliniken auch noch Organe verpflanzt oder Maschinen für lebensverlängernde Maßnahmen angewandt! Oder schlitzohrige Wortakrobaten wie Sie diskutieren mit mir, jeder jammert mir etwas vor, als sei ich nicht die Erlösung, sondern die allergrößte Strafe. Ach, mein Beruf macht keinen Spaß mehr…!“ Der Tod seufzte.



‚Jetzt habe ich ihn soweit!‘ dachte ich erfreut und innerlich jubelnd. ‚Jetzt wird er klein beigeben!‘ Ich verschoss mein letztes Argument: „Dann geben Sie Ihren Beruf doch einfach auf…!“

Einen Augenblick sah er mich mitleidig an. „Das würde nichts nützen!“ antwortete er. „Wenn ich es nicht erledige, dann würde es ganz schnell ein anderer tun. Außerdem bin ich der einzige, der unsterblich ist. Das ewige Leben gibt es nur in Religionen, Mythen und Philosophien, nicht in der Realität...“.



„Dann gibt es also tatsächlich keine Rettung, keinen Aufschub?“ fragte ich fast einsichtig und begann allmählich über das Unvorstellbare nachzudenken, obwohl mir das ein enormes Unbehagen bereitete und ich in lautes Heulen und Wehgeschrei ausbrechen könnte.



„Nun, auch mit Ihnen werde ich am Ende keine Ausnahme machen!“ sagte der Tod jetzt mit Bestimmtheit und sah mich eindringlich an. „Auch Sie kommen an die Reihe! Aber…“, er hob mahnend den Zeigefinger. „Aber ich gebe Ihnen einen allerletzten Aufschub. Nutzen Sie diese Zeit, bereiten Sie sich auf den Tag X vor und erledigen endlich alles, was Sie bisher – aus welchen Gründen auch immer - vor sich hergeschoben haben. Und noch etwas: Was Sie "Rettung" nennen, oder "Sinn des Lebens suchen" und "Bilanz ziehen", das können Sie nicht mit mir, sondern nur mit sich selbst - und mit Menschen, die Ihnen nahestehen - besprechen! Solche Fragen sollten geklärt werden, bevor ich an die Tür klopfe! Soviel Zeit muss sein! Und zwar vorher! Also dann bis demnächst, mein Lieber…!“.
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r klopfe! Soviel Zeit muss sein! Und zwar vorher! Also dann bis demnächst, mein Lieber…!“
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Kommentare zur Story:

  Lieber Drabbelmaker, ich habe - im Zusammenhang mit meiner Geschichte über ein Gespräch mit dem Tod - über deinen Begriff "amüsant" nachgedacht. Schreibstil und Gespräch mögen dir (und eventuell anderen) als "amüsant" erscheinen, war aber von mir primär nicht als amüsant, sondern zunächst als "nachdenkliche" Geschichte vorgesehen. "Amüsant" könnte das Gespräch mit dem Tod allerdings auf manche Leser wirken, wenn man die erschreckende Naivität und die Argumente des Betroffenen berücksichtigt. Die dem Tod vorgebrachten "Argumente" (und auch deren stilistische Aufbereitung) könnte man zwar als "amüsant" empfinden, aber mein Grundthema - nämlich die "rechtzeitige Auseinandersetzung" mit dem Tod - halte ich nicht für amüsant, sondern sollte zum "Nachdenken" anregen. Demzufolge halte ich beide Begriffe, nämlich "amüsant" UND "nachdenklich" für angebracht. (Und "ein bisschen auf die Schippe nehmen" wollte ich vielleicht auch). Das eine schließt das andere - nach meinem Begriff - nicht aus.  
   Michael Kuss  -  21.01.14 20:40

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  Hallo Michael. Über das Thema “Der Tod“ wird sehr häufig geschrieben und es ist immer wieder interessant. Der Tod darf traurig sein, poetisch, nachdenklich, gemein, gruselig und man darf ihn sogar ruhigen Gewissens auf die Schippe nehmen. Du hast deine Kurzgeschichte zwar unter der Rubrik “Nachdenkliches“zugeordnet, aber ich finde sie aufgrund deiner saloppen Ausdrucksweise eher amüsant. War das auch deine Absicht? Es grüßt dich der Drabblemaker.  
   Drabblemaker  -  21.01.14 19:39

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  Ich habe ein paar mir wichtig erscheinende Aussagen dem Text hinzugefügt.  
   Michael Kuss  -  20.01.14 18:11

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