Dominique - 17. Kapitel der "Französischen Liebschaften"   299

Romane/Serien · Spannendes

Von:    Michael Kuss      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 2. November 2013
Bei Webstories eingestellt: 2. November 2013
Anzahl gesehen: 2498
Seiten: 16

17. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Dominique".

*

„Ich habe nie wirklich deine Gründe verstanden, warum du mich verlassen hast!“ Nach unzähligen Jahren saß ich Dominique zum ersten Mal wieder gegenüber. ‚Verlassen’ war schmeichelhaft ausgedrückt. Sie hatte mich damals einfach vor die Tür gesetzt. Noch konkreter: Sie hatte mich rausgeworfen!

„Vielleicht hast du nie richtig darüber nachgedacht?!“ Dominique hatte die Kaffeetasse abgesetzt und schaute mich aufmerksam an. „Außerdem war es zwischen uns so ausgemacht. Wir hatten eine klare Vereinbarung. Hast du das vergessen...?“

„Ich weiß“, antworte ich einsichtig. „Es war so vereinbart! Trotzdem...!“

*

In Marseille war ich nicht zur Verabredung in das italienische Café gegangen. Ich wollte mich nicht mit der Mafia einlassen. Die Richtung war zu offensichtlich und die Angebote der Italiener waren mit Sicherheit nicht koscher und würden irgendwann im Knast oder gleich im Sarg enden. Warum sollte ich mich plötzlich mit Illegalem befassen? Von gelegentlichen Abenteuern, zum Beispiel Liebesabenteuern oder mal eine Weile ohne Job sein, war ich zwar nicht abgeneigt, aber bitte keine krummen Sachen, bei denen ich vollkommen den Überblick und die Kontrolle verlieren würde. Kontrollverlust ist so ziemlich das Schlimmste für mich. Selbst in der größten Scheiße muss man sich ein Stück Autonomie und Würde erhalten.

Jetzt konnte ich zumindest außerhalb Deutschlands einigermaßen frei leben und brauchte keine halbseidenen Mafia-Angebote. Nach allen bisherigen Lebenserfahrungen würden sich bestimmt andere Lösungen finden. Man muss eben ein paar Tage von Brot und Leberwurst leben und ein paar Nächte im Freien im Schlafsack verbringen. Bisher war das Leben letzten Endes immer gut zu mir gewesen und hatte Lösungen und Auswege parat…

Mit dem Bus war ich kreuz und quer durch Marseille gefahren, hatte Haken geschlagen, um eingebildete oder tatsächliche Verfolger abzuhängen, kam auf die Autobahn, nur so schnell wie möglich raus aus Marseille! So landete ich mit dem restlichen Mafia-Geld erst bei der Obst- und Gemüseernte in Mittelfrankreich und dann bei der Weinlese in der Gegend von Cognac und nach der Weinlese schließlich in La Rochelle in einem Hafencafé an der Stadtmauer, wo, anders als in den Spelunken von Marseille keine Schiffbrüchigen und Halunken, sondern Touristen, Müßiggänger und brave Bürger saßen.
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Dominique hatte mich in dem Café eine Weile fixiert, dann angesprochen und in ein Gespräch verwickelt, hatte nach meinem Alter und meinem Sternzeichen gefragt; wollte wissen ob ich Nazi oder Nazigegner sei, was ich lese, welche Musikrichtung ich liebe und welche Krankheiten es in meiner Familie gibt. Amüsiert und auch neugierig auf das seltsame Spiel einer verrückten Künstlerin gab ich bereitwillig Auskunft. Schließlich sagte Dominique freundlich aber mit Bestimmtheit: „Monsieur, Sie gefallen mir! Sie entsprechen meinen Vorstellungen. Ich würde gerne mit Ihnen Liebe machen!“

Na also! Da waren wir doch endlich mit klaren Worten auf den Punkt gekommen! Warum diese langen Vorreden? Von Paris war ich die einfache Frage gewohnt: „Gehen wir zu dir oder zu mir?“ Also antwortete ich „Ich habe auch Lust auf Sie!“ und rückte näher an Dominique heran. Aber mit freundlicher Stimme brachte sie mich in die Realität zurück.

„Wenn wir zusammen schlafen, Monsieur, möchte ich, dass vorher zwischen uns etwas klar ist: Ich suche keine Liebesbeziehung und keine feste Partnerschaft! Sie sollen mich zwar lieben und befruchten, aber nicht besitzen! Verstehen Sie was ich meine?“

„Nein!“ sagte ich und meinte tatsächlich ‚Nein’! Bei diesen modernen Frauen wunderte mich zwar keine ihrer Philosophien mehr, aber Dominique hatte in Rätsel gesprochen. Was meinte sie damit, ich soll sie „lieben und befruchten“? Sie hat Lust auf einen Fick. Okay! Ich auch! Ich war ausgehungert und bedürftig. Warum also viele Worte?

„Ich will überhaupt niemand besitzen“, sagte ich irritiert. „Egal ob es für eine Nacht oder für länger ist!“ Verwundert schaute ich dieses bizarre Wesen an und hoffte, aus ihrem Gesicht eine Antwort zu lesen. Da sie schwieg, sagte ich „Sie suchen also nur einen Liebhaber für eine Nacht?“

„Aber Nein!“ Dominique lachte glockenhell. „Sie haben mich total missverstanden, Monsieur! Das wird wohl etwas länger dauern. Einige Tage und einige Nächte! Vielleicht sogar Wochen! Am liebsten bei Sonnenschein nachmittags in den Dünen am Meer! Es klappt nicht gleich beim ersten Versuch.
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Und es soll ein schönes, ein besonderes Baby werden!“

„Ein was...?“

„Ein Baby, Monsieur! Ich möchte, dass Sie mir ein Baby machen! Aber Sie lassen mich ja nicht ausreden! Ich will es Ihnen gerne in Ruhe erklären…!“

Dominique war Malerin. Sie liebte ihre Arbeit, die Menschen, die Liebe und am meisten sich selbst. Mit einem festen Typen konnte sie nichts anfangen. Vergeblich hatte sie sich schon auf mehrere Versuche eingelassen. Zum Leidwesen Ihrer noblen Familie hatte sie sich in den nachrevolutionären Jahren von vielen Fröschen küssen lassen, wie es nach Achtundsechzig Mode geworden war. Ihre betuchten Eltern und großbürgerlichen Geschwister begleiteten hohe Posten in Ministerien oder waren Eigentümer von Fleischfabriken und Tiefkühlkost und den dazugehörigen Ländereien in ganz Frankreich. Dominique war das schwarze Schaf der Familie und wurde Künstlerin. Sie vertrat diese Position mit Vehemenz und Dickköpfigkeit. Ein Horror für die braven Familienmitglieder, im Rhythmus von ein paar Wochen immer wieder neue Liebhaber vorgestellt zu bekommen. Schwarz und gelb, arabisch, afrikanisch oder europäisch, kraushaarig oder schlitzäugig, Dominique ließ keine Provokation aus.

Dann hatte sie beschlossen, möglichst vor ihrem dreißigsten Geburtstag Mutter zu werden. Ein Kind, aber bitte ohne Vater! Jedenfalls ohne festen Typen, der nachher Ansprüche stellt und Dominiques Individualismus und Leben durcheinander bringen würde. Nach der Zeugung musste der Spender sich entsorgen! Über ein Jahr lang hatte sie gesucht. Schließlich saß ich wie eine Schicksalsfügung im Café in La Rochelle vor ihr. Groß, blond, blauäugig, ziemlich sportlich, nicht allzu dumm, nicht allzu überheblich, einigermaßen fantasievoll in der Liebe. Unterwegs und frei, leicht zu entsorgen und im Hintergrund keine Familie, die später Rechtsanwälte in Erbschaftsangelegenheiten bemühen würde. Für Dominiques Vorhaben perfekt! „Sie können bis zur Schwangerschaft oder auch bis zur Geburt bei mir leben!“ erklärte Dominique. „Ich habe in La Rochelle und auf der Ile de Ré ein Haus und in Paris eine Stadtwohnung. Aber es muss ganz klar sein, dass Sie keinerlei Rechte über mich oder das Kind haben und mich nach der Geburt in Ruhe lassen! Ob wir dann Freunde werden und uns gelegentlich sehen oder noch einmal zusammen schlafen, das werde ich zu gegebener Zeit entscheiden.
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In jedem Fall ist unsere Vereinbarung nach der erfolgreichen Geburt beendet!“

„Und wie soll das in Einzelheiten ablaufen?“ fragte ich mehr amüsiert als ungläubig. „Machen wir darüber einen schriftlichen Vertrag?“ Ich tat erheitert, aber Dominique blieb ernst. „Wir brauchen keinen schriftlichen Vertrag!“ sagte sie leise, aber bestimmt. „Wenn Sie mir Ihr Wort geben, das genügt! Wenn Sie nicht fähig sind Ihr Wort zu halten, dann hätte meine Intuition mich schrecklich enttäuscht! Verstehen Sie?“ Ich nickte. Obwohl, vorläufig verstand ich hier nicht viel. Schließlich gehörten solche Angebote nicht zum Alltag. „Ich lade Sie heute Abend zum Essen in ein Restaurant ein!“ fuhr Dominique fort. „Danach schlafen Sie bei mir! Wir sollten doch vorher schon ausprobieren, ob wir auch körperlich zusammen passen! Oder nicht, Monsieur...?“

Noch in der gleichen Nacht wusste Dominique, dass auch körperlich ihre Planung aufgeht, und ich Liebeskasper war wieder einmal überzeugt: Das ist die Frau meines Lebens! Die klare Abmachung, dass ich nur Erzeuger sei, und danach wäre Schluss mit lustig, hatte ich als großzügig interpretierbare Floskel abgetan und einfach verdrängt.

Unser Kind kam zehn Monate später. Ich liebte Dominique und ich liebte den Jungen. Die beiden waren über Nacht für mich der Inbegriff des Lebens geworden. So, als hätte ich nie nach etwas anderem gesucht. Ich arbeitete halbtags in einem Damenfriseursalon als Schamponist und wusch mit Fingerspitzengefühl geschwätzigen Frauen die Haare. Da die Arbeit eines Schamponisten in einem Damensalon äußerst erotisch ist, hätte ich die Auswahl zum Fremdgehen haben können. Angebote und unverbindliche kleine verbale Flirts gab es täglich. Aber ich liebte nur Dominique!

Dominique malte ihre Aquarelle oder bereitete ihre Kunstausstellungen vor und ich führte den Haushalt. Dominique hielt einen Küchenherd für Teufelszeug und ein Bügeleisen für eine gefährliche Waffe. Umso besser konnte ich mit dieser Technik umgehen. Im achten Monat war Dominique grantig geworden und ich führte es auf die Schwangerschaft zurück.
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Einen Monat nach der Geburt warf mich Dominique hinaus und ich suchte voller Selbstzweifel und Enttäuschung nach den Gründen.

„Ich kann es dir nicht genau sagen!“ Dominique legte ihre Finger auf meinen Handrücken. „Es waren so viele Dinge zusammengekommen. Du bist mir auf die Nerven gegangen, wie du immer mehr versucht hast, dich in mein Leben zu drängen. Ich wollte ein Kind und danach mit dem Kind alleine sein. Stattdessen hast du dich wie ein Dienstmädchen, fast wie ein Sklave aufgeführt! Du hattest keine eigene Persönlichkeit mehr, und gerade darauf hatte ich am Anfang gesetzt! Jeden Wunsch hast du mir von den Augen abgelesen! Es war schrecklich! Ich war zur Statistin verurteilt! Ich hielt es nicht mehr aus! Zum Schluss konnte ich nicht einmal mehr deine Berührungen ertragen!“ Als wolle sie mich Jahre später um Verzeihung und Verständnis bitten, streichelte Dominique nun über mein Gesicht.

„Aber an diesem Abend gab es doch gar keine direkte Veranlassung!?“ bohrte ich. „Wir saßen beim Essen, zwanzig Freunde um uns herum, alles war in Ordnung..., und dann stehst du auf und kippst mir deinen Nachtisch ins Gesicht...! Was hatte dich gerade an diesem Abend so an mir gestört? Ich saß doch den ganzen Abend ruhig da, habe kein Wort gesagt, du und Charles und Betty, ihr habt die ganze Unterhaltung fast alleine gestaltet...“

„Das war es ja gerade...!“ unterbrach mich Dominique. „Du hattest wieder einmal da gesessen wie ein Trottel...!“

„Wie ein Trottel...? Also hör’ mal!“ Ich tat entrüstet.

„Ja, wie ein Trottel!“ Dominique lächelte dabei und sagte ruhig: „Du hast mich vor meinen Freunden blamiert! Du hast nur da gesessen und konntest bei keinem Thema mitreden! Wenn du es noch nicht gemerkt haben solltest, aber in Frankreich redet man beim Essen! Man treibt Konversation; man schiebt sich nicht nur das Essen in den Mund, als sei der Mensch eine Maschine! Kennst du diesen Begriff: Kon-ver-sat-ion!“ Dominique schlug mit dem Finger bei jeder Silbe den Takt auf meine Hand.

„Soo interessant war aber eure Kon-ver-sat-ion auch nicht!“ äffte ich nach. „Da ging es um den letzten und den nächsten Karibik-Urlaub deiner Mutter, um die Siegeschancen deines Onkels bei der Abgeordnetenwahl, um die letzten Modeentwürfe deines schwulen Freundes Maurice und ausgerechnet diese Lesbe Chantale ließ sich über Haltbarkeit und Nutzen von Kondomen aus, als hätte gerade sie davon Ahnung.
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Mein Gott, kannst du dich noch erinnern?“ brauste ich auf. „Dein Cousin Gregorie erzählte einen Witz vom Aktienmarkt, worüber alle nur gequält und müde lächeln konnten, und die Quasselstrippe Helene berichtete eine halbe Stunde über ihren Sonnenbrand im Skiurlaub. Und lauter so’n belangloses Zeug! Was in aller Welt hätte ICH denn zu eurer Art Konversation beitragen können? Hätte ich vielleicht von meiner Arbeit in den Schiffswerften erzählen sollen? Hattet ihr in eurer Familie schon einmal einen Gelegenheitsarbeiter oder Tagelöhner, der mit seinen Händen in einer Werft oder einer Fabrik schuftete? Oder dass ich ein paar Monate vorher noch das Brot aus Mülltonnen geangelt hatte? Oder dass Freunde deines Schwulen Modeschöpfers mich in Saint Tropez um meinen Arbeitslohn betrogen haben? Da werft ihr Franzosen euch geschickt die banalsten Bälle zu, formt eine Mücke zum Elefanten und schon ist ein Tischthema daraus geworden und das nennt ihr dann Kon-ver-sat-ion!“ Wütend betonte auch ich jetzt jede Silbe.

„Du lieber Himmel!“ Dominique hob beide Hände. „Wie viele Jahre lebst du jetzt in Frankreich, und du hast immer noch nicht begriffen, dass es bei diesen Tischgesprächen nicht um Weltbewegendes geht, sondern nur um Banales, um nette Nichtigkeiten!“ Dominique sah mich herausfordernd an. „Du hättest zum Beispiel erzählen können, dass die Metrostationen neu gekachelt werden und die Kachel dir nicht gefallen; das wäre der Beginn einer halbstündigen Diskussion über Architektur und Stil gewesen! Oder dass du in der Zeitung gelesen hättest, der Opernintendant hätte die Souffleuse in den Kulissen gevögelt; wir wären dann von Wagner über Mozart auf Kultur-Subventionen gekommen, oder sonst irgendeine Unwichtigkeit. Aber lasse mich nicht wie eine Idiotin neben dir sitzen und alle Welt merkt, dass du völlig verklemmt herumhockst! Das waren meine Freunde nicht von mir gewohnt! Sogar der letzte Buschneger aus dem Sudan konnte neben mir amüsantere Tischgespräche führen als du!“

Da saß ich nun, und wurde von der Vergangenheit eingeholt. Und wenn ich richtig darüber nachdachte: Sie hatte Recht!

„Dominique! Das darf einfach nicht wahr sein!“ verteidigte ich mich trotzdem.
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„Du willst mir heute erzählen, du hättest mich damals deshalb auf den Mond geschossen, weil ich verklemmt gewesen sei? Du hast deine Familie mit abgöttischer Freude bei jeder Gelegenheit provoziert und dann hast du dich angeblich ausgerechnet wegen mir geschämt?! Das nehme ich dir nicht ab!“ Wie viele Jahre hatte ich darauf gewartet, Dominique diese Frage zu stellen?!

„Okay!“ gab Dominique zu. „Mich hatte zum Beispiel auch gestört, dass du völlig ohne Ehrgeiz in den Tag hineingelebt hast. Du warst damit zufrieden, ein paar läppische Francs in diesem Friseursalon zu verdienen, für den Rest des Tages meinen Haushalt zu führen; alles andere drum herum war für dich uninteressant und ohne Bedeutung....“

„Ich wollte, dass du dich auf deine Arbeit konzentrierst! Du bist Künstlerin...! Ich wollte dir helfen berühmt zu werden!“ versuchte ich mit Nachdruck zu deklarieren.

„Aber Claude! Ich brauche keine Haushaltshilfe! Und ich brauche schon überhaupt niemand, der sich für mich aufopfert und dann den Preis von mir verlangt, in dem ich mit einem schlechten Gewissen in Abhängigkeit gerate! Ich bin eine selbstständige Frau und wenn mein Haushalt nicht hundertprozentig ist, dann ist mir das so scheißegal, als ob in China ein Sack Reis umfällt!“ Dominique nippte an ihrem kalten Kaffee. „Zum Schluss hast du so in der Wohnung herumgefuhrwerkt und wolltest alles perfekt machen, dass ich mich wie eine Fremde im eigenen Haus fühlte! Ich wollte beinahe das Kind nehmen und aus meinem eigenen Haus abhauen! Schau mal, Claude…“ Dominiques Ton wurde versöhnlich. „Schau mal, du wolltest selbst einmal malen, oder fotografieren, also kreativ sein, etwas Eigenes schaffen. Stattdessen hast du dich wie eine Klette an mich und das Kind geklammert. Es war zum Ersticken!“ Sie machte eine Pause und sah mir in die Augen. „Es war nur der Tropfen, der an diesem Abend das Fass zum Überlaufen brachte!“ lenkte sie dann lächelnd und mit einer abmildernden Handbewegung ein. „Ich wollte einfach nicht mehr. Ich wollte wieder alleine sein! Mit meinem Kind!“

„Mit unserem Kind!“ antwortete ich und bemühte mich auch lächelnd um Entspannung. „Möchtest du noch einen Kaffee? Oder wollen wir zusammen etwas essen? Bist du verabredet? Wir könnten…“ Ich wechselte das Thema, aber Dominique wehrte ab: „Ich habe Olivier versprochen, ihn mit dem Auto um vier von der Schule abzuholen.
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Er hasst die Metro!“

„Wie alt ist er jetzt?“ Ich spreizte die Finger, um zu zählen.

„Er wird Neun!“ Sie zeigt mir das Foto in ihrem Portmonee neben den Kreditkarten. Das Kind auf dem Foto hätte ich selbst mit neun Jahren sein können. Die Ähnlichkeit war frappierend. Ich sagte es nicht, sondern fragte: „Kommt er gut in der Schule zurecht?“

„Er ist ein Mathematikgenie, aber in Französisch und Geschichte läuft es nicht so gut! Zudem will er Komponist oder Orchesterdirigent werden. Was weiß ich, wie das zusammenpasst?!“ Dominique hob die Hände und zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen, na egal, es kommt wie es kommt...

„Mathematik? Seltsam! Von wem hat er das?“ Weder Dominique noch ich hatten mit dieser Materie etwas am Hut. Dominique lachte. „Wahrscheinlich vom Großvater. Mein Opa wollte immer die ganze Familie und das Firmenimperium zusammen halten. Das hat er ja auch getan, das weißt du ja! Und Olivier drängt mich sogar, unser Haushaltsbuch zu führen und endlich meine Steuerpapiere auf Vordermann zu bringen! Ich bin immer noch so unordentlich wie damals und Olivier ist ein kleiner Pedant in Vollendung. Weitaus schlimmer wie sein deutscher Papa! Wir haben Diskussionen, ich kann dir sagen...!“

„Lebst du alleine?“

„Mal so und mal so, momentan alleine. Und du?“

„Solo! Aber ich kann mich nicht beschweren. Es läuft so…“

„Sei mal ehrlich!“ sagte Dominique lächelnd, aber um Ernsthaftigkeit bemüht. „Du bist doch genauso wenig wie ich für eine feste Partnerschaft gemacht?! Ich wette, du hast es, von uns beiden einmal abgesehen, noch nie richtig versucht?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie mich erwartungsvoll an.

„Im Gegenteil!“ Ich wurde nachdenklich. „Aber es hat nie gepasst! Entweder war ich total verliebt und habe mir den Hintern dafür aufgerissen und mich zum Idioten gemacht, aber sie hat mich behandelt wie den letzten Dreck. Oder die Frau war in mich verliebt und wollte mir das Paradies vor die Füße legen, aber dann habe ich irgendeinen Mist gebaut oder sie mit einer Alibi-Ausrede zum Teufel geschickt und alles vorsätzlich abgebrochen…!“

Ich erzählte Dominique von Vera, der Schwedin, und von Charlotte, damals an der Côte d’Azur.
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Vera war Tänzerin in einem Nachtclub in St. Tropez. Sie war, trotz ihrer Alkoholexzesse, damals noch bildhübsch, aber sie kam fast jeden Morgen sturzbesoffen nach Hause. Dann schrie sie herum, sie sei mehr wert als nur vor diesen geilen Geldsäcken zu tanzen, und ich sei ein Versager, nur ein Kellner, der jedem kleinen Trinkgeld in einer mittelmäßigen Kneipe nachrennt. ‚Pfui Teufel!’ schrie sie. Dann legte ich kalte Kompressen auf ihre Stirn, wusch sie und brachte sie ins Bett. Nachmittags wachte sie auf, räkelte sich nackt vor mir herum, hatte alles vergessen und wir fielen wieder übereinander her. Irgendwann packte ich meine zwei Koffer und ging, noch während sie ihren Rausch ausschlief.

Oder Charlotte. Sie besaß sieben Schönheitssalons in Nizza, Cannes und Antibes. Charlotte schenkte mir abscheuliche Ringe mit unnatürlich großen Steinen, die ich nicht tragen wollte, sondern sie heimlich verscherbelte oder für schlechte Zeiten zurücklegte, und seidene Hemden und Manschettenknöpfe, in denen ich mich deplatziert fühlte wie ein Kuhhirte im Frack. Ich musste nicht wirklich arbeiten; nur von Salon zu Salon fahren, die Angestellten kontrollieren und abends die Kasse und die Abrechnungen holen. Charlotte besaß einen geräumigen Bungalow an den Hängen über Nizza. Aber ich hatte kein eigenes Zimmer bekommen, sondern musste jede Nacht in ihrem Schlafzimmer verbringen und ihre Wünsche erfüllen.

Eines Tages, wir waren ein knappes Jahr zusammen, kam Charlotte auf die Idee, in den Kosmetiksalons Fernsehkontrollkameras zu installieren. Ich hatte gerade ein Nachmittagsverhältnis mit Veronique, eine von Charlottes angestellten Visagistinnen. Als wir uns in einer der Massagekabinen auszogen, erzählte ich Veronique, um anzugeben, von den Einbauplänen der Kontrollkameras. Aber Veronique war Gewerkschaftsmitglied und berichtete es schwatzhaft und empört dem örtlichen Gewerkschaftssekretär. Es wurde öffentlich ein Skandal und in der Presse erschienen ein paar Berichte über die „Spione in den Schönheitssalons“. Charlotte kündigte Veronique fristlos und die Kündigung landete auf dem Arbeitsgericht in Nizza. Beim Arbeitsgerichtsprozess war ich als Zeuge geladen und musste mich entscheiden: Entweder zu Gunsten der Angestellten, aber dann gegen Charlotte.
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Ich berichtete von den geplanten Kameras und Veronique berichtete von unseren Liebestreffen in der Kabine. Charlotte verlor den Prozess und ich verlor mein Zuhause. Charlotte stellte meine Koffer vor die Tür. Zu Veronique konnte ich nicht ziehen, sie war verheiratet. „Und so ging das weiter, etliche Jahre, kreuz und quer durch Frankreich“, erzählte ich. „Auf der Suche nach der Liebe und dem Leben, letztlich auf der Suche nach mir selbst..."

„Na schön!“ stellte Dominique fest. „Das waren Affären im Vorübergehen. Davon hatten wir alle eine Sammlung. Aber ich meine mehr die Liebe! Ich meine, hast du dich für jemand verzehrt? Hast du schon mal so sehr geliebt, dass du einen Mord dafür begangen hättest oder mit allen Klamotten in die Seine gesprungen bist, weil sie es von dir verlangt hat? Hast du schon einmal mit einer Leidenschaft geliebt, die stärker war als deine fünf Sinne?“ Dominique sah mich ernst an. Ich dachte nach und suchte nach einer Antwort. „Einmal habe ich eine Wohnung auseinandergenommen und Möbel und Geschirr zertrümmert!“ erinnerte ich sie.

„Quatschkopf! War das Liebe?“ Dominique sah mich amüsiert an. „Oder nur deine Hilflosigkeit und deine verletzte Eitelkeit?“ Als ich nicht gleich antwortete, fügte Dominique hinzu: „Oder sind wir überhaupt nicht fähig, einen anderen Menschen zu lieben? Haben wir das nie gelernt? Sind wir zu sehr auf uns selbst fixiert?“

„Das ist mir zu philosophisch“, wich ich aus. „Ich habe keine Lust auf Seelenstriptease!“ Ich versuchte den Satz mit einem Lächeln und einer fahrigen, nichtssagenden Handbewegung abzumildern.

„Aber du scheinst dich doch recht gut mit deinem Leben arrangiert zu haben?!“ fragte Dominique. Sie kam mir entgegen und umschiffte die delikate Klippe. Nach so vielen Jahren hatten wir es bei diesem ersten Treffen beide nicht auf Konfrontation angelegt. Es schien, als hätten wir beide unterdessen ausreichend hinzu gelernt.

„Mein Leben ist nicht hundertprozentig, aber ich bin nicht unzufrieden“, sagte ich ausweichend. „Ich habe sogar ein Theaterstück geschrieben und wieder mit dem Fotografieren begonnen und für die Fotos einen Agenten gefunden! Aber am liebsten würde ich Schauspieler werden.
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In Billancourt arbeite ich mitunter als Statist. Manchmal mitten unter Romy Schneider oder Belmondo...!“

„Das ist harte Arbeit!“ stellte Dominique sachlich fest. „Du weißt ja, ich hatte es während meines Studiums gemacht. Warum meldest du dich nicht in einer Schauspielschule an, wenn du mehr willst als kleine Gelegenheitsrollen?“

„Ich weiß nicht, ob ich die Disziplin dazu aufbringe“, gab ich zu. „So wie jetzt gefällt mir mein Leben besser!“

„Du gehst Schwierigkeiten noch immer aus dem Weg!“ stellte Dominique fest, versuchte aber dem Satz mit einem Lachen eine milde Nuance zu geben. Ich überlegte, ob ich empört widersprechen sollte, sagte dann aber „Stimmt!“ und nach einer Pause: „Schwierigkeiten gehe ich nicht nur aus dem Weg, ich vermeide sie nach allen Regeln der Kunst! Ich rieche Probleme, egal welche, auf ein paar Kilometer Entfernung und sofort schalte ich auf Ablehnung oder stelle die Ohren auf Durchzug! Ich hatte Probleme in Deutschland genug, mit meinem Stiefvater, in der Fabrik, bei der Bundeswehr, und sogar meine ersten Jahre in Frankreich waren voller Probleme. Und heute? Weißt du wie ich heute reagiere? Wenn eine Frau vor oder nach dem ersten Fick von ewiger Treue und von Ehe und trautem Familienheim und Glück bis zum Lebensende spricht, dann seile ich mich schneller ab, wie die Dame das erste Essen gekocht hat! Oder wenn ein Kunde wegen fünf Francs meine Arbeit oder die Bezahlung diskutieren will, dann schenke ich ihm das Geld, haue ab und er kann sich seine Wohnung alleine renovieren!“ Ich holte Luft und sah Dominique abwartend an. Da sie schwieg, fuhr ich fort: „Oder wenn eine Frau von mir erwartet, ich solle sie erst dreimal in ein teures Restaurant ausführen, bevor sie mit mir in die Kiste steigt, dann halte ich das für schlimmere Prostitution, als wenn mir eine Berufshure in der Rue St. Denis gleich den Preis nennt. Ich habe keine Lust mehr auf Diskussionen, auf Erklärungen, auf Probleme! Mein Leben gefällt mir wie es ist, und ich habe auch keine Lust mehr, mir dafür ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen...!“

„Olala!“ Dominique lachte. „Das war schon eine ganze Philosophie! Da muss ich mich ja fragen, ob da noch der gleiche Mann wie vor zehn Jahren vor mir sitzt?!“ War das Ironie oder ernst gemeint? Schweigend musterten wir uns eine Weile.
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„Oder willst du mir nur imponieren? Soll das vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl für eine Neuauflage sein?“

„Wir hatten auch schöne Zeiten miteinander“, wich ich aus. „Meistens sogar! Nur zum Schluss ist es außer Kontrolle geraten...“

„Ich weiß...!“ Dominique wirkte ernst und nachdenklich.

„Außerdem habe ich dir viel zu verdanken!“ Ich wechselte das Sujet, wirkte aber offensichtlich nicht sehr überzeugend. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ fragte sie und sah mich überrascht an. „Was sollte ich dir schon gegeben haben, außer ein bisschen Sexvergnügen und danach eine Enttäuschung?“

„Nein, Dominique!“ Ich legte meine beiden Hände auf ihren Arm. „Das geht mir schon viele Jahre durch den Kopf; ich wollte es dir bei der ersten Möglichkeit sagen. Bitte glaube mir: Ich habe dir mehr zu verdanken, als du ahnen kannst!“ Da Dominique mich nur schweigend ansah, fuhr ich fort. „Kannst du dich an das Händel-Konzert in der Kirche von Sainte Germaine erinnern? Du hattest mich eingeladen, und ich bin mit, um dir einen Gefallen zu erweisen, nicht weil mich Kirchenorgeln interessierten. Es war mein erstes Kirchenkonzert in meinem Leben, und ich hörte zum ersten Mal Händel. Als ich die Musik hörte und neben dir saß und deinen andächtigen, in dir ruhenden Gesichtsausdruck sah, hätte ich weinen mögen, so sehr hat mich diese Musik und die ganze Situation beeindruckt. Ich habe meine Tränen nur vor dir zurückgehalten. Es war, als würde diese Musik und dieser ganze Abend in Sainte Germaine mein Leben verändern, weil du mir mehr gezeigt hast als ich bis dahin kannte...!“ Dominique sah mich fast liebevoll an. „Hättest du doch geweint…!“ sagte sie leise. „Warum konntest du nie weinen? Niemals deine Gefühle ausdrücken? Warum hast du nie Schwächen gezeigt? Warum wolltest du immer den starken Mann spielen?“ Ich ging nicht darauf ein. Wenn ich über Gefühle spekuliere, verliere ich die Kontrolle. Deshalb fuhr ich fort: „Oder die Filme! Ohne dich hätte ich mich wahrscheinlich nie tiefer mit bestimmten Filmen befasst! Die französischen Filme, in die du mich geschleppt hast, die französischen Schauspieler und Regisseure, die Frauen und Männer dieser Epoche, das waren doch nicht schlicht Geschichten die man konsumiert wie eine Portion Fritten.
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Das war keine bloße Unterhaltung und kein simpler Zeitvertreib! Das war Philosophie! Das war die Spiegelung des Lebens! Es war Emanzipation! Die Filme von Juliane Balasko und Luis Malle, sie eröffneten mir völlig unbekannte Lebenseinstellungen und Sichtweiten. Oder Michel Piccoli, durch dessen Filme habe ich erst das zweite Gesicht Frankreichs kennengelernt und mit ähnlichen Situationen in Deutschland verglichen. Die Heuchelei, das schöne Getue der Bourgeoisie....! Weißt du noch, wie beeindruckt ich aus der ‚Verlobten des Teufels’ mit Bernadette Lafont kam? Hast du denn damals nicht den Wandel bemerkt, der sich ganz langsam mit mir vollzog?“

„Doch! Ich weiß!“ Dominique sah mich aufmerksam an; ihre Hand lag noch auf meinem Arm. „Du hast Recht. Ich hatte es bemerkt. Aber gerade das machte mir Angst. Denn es betraf DEINE Entwicklung, nicht meine! Ich habe dir ein paar wenige Grundlagen gegeben, auf die du anscheinend aufgebaut hast. Und ich bin froh, dass du deinen Weg gefunden hast und auch dazu stehst, egal ob andere Leute diesen Weg gut finden oder nicht! Aber ich wollte diesen Weg nicht mit dir, sondern meinen eigenen gehen...!“

Wir sprachen noch eine Weile über Filme und Kunstgalerien und Musik, und was sie uns im Leben gebracht und bedeutet haben. Und es wurde mir deutlicher als je zuvor bewusst, welchen Einfluss Dominique in unserem gemeinsamen Jahr auf mich hatte. Sie war der entscheidende Impuls an einer Weggabelung des Lebens.

„Und du?“ fragte ich. „Was hast du jetzt vor? Feste Pläne für die nächsten Jahre?“

„Mit der Arbeit läuft es glänzend!“ Dominique holte einen Zeitungsausschnitt aus der Handtasche. Ein Bericht mit Fotos von ihrer letzten Vernissage in Bordeaux. Nun war sie nach München zur Kunstmesse und dann nach Brüssel zur Beaux Art eingeladen. Und in Paris war die Professorenstelle an der Kunstakademie hinzugekommen.

„Olivier ist das Wichtigste in meinem Leben, dann kommt gleich meine Arbeit! Das ist mir meistens Orgasmus genug!“ Dominique lachte gekünstelt. „Und wenn ich mal etwas mehr brauche, dann lasse ich mir das a la Carte kommen! Mein Adressbuch ist voll davon!“

Ich mustere Dominique. Sie musste jetzt so um die Vierzig sein. Die Haare noch immer wild und schwarz, braune Augen, die wie früher in Sekundenschnelle prüfend mustern und einschätzen und doch glänzen und strahlen konnten, ein weicher Mund mit ein paar Fältchen mehr, und die Klamotten noch immer selbstgeschneidert oder fantasievolle Umänderungen vom Flohmarkt.
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Heute könnten wir Freunde werden, überlegte ich. Die Kinderkrankheiten hatten wir hinter uns.

„Hast du noch einmal etwas von Rebecca gehört?“ Ich wechselte erneut das Thema, um Dominique noch eine Weile zu halten. „Rebecca?“ Dominique wurde nachdenklich. „Nach der Klinik wurde sie von ihrer Familie für ein Jahr an einer Universität in den USA verschwinden lassen. Bis Gras über die Geschichte gewachsen war. Ihren Vater hat es ohnehin die politische Karriere gekostet. Die Ehe wurde geschieden und er betreibt heute ein kleines Anwaltsbüro. Du weißt ja, dass ihre Mutter die Kurve bekommen hatte und Familienministerin wurde. Durch ihre Mutter hatte Rebecca gute Verbindungen in die USA. Rebecca hat dann drüben geheiratet, lebt jetzt angeblich glücklich in Kalifornien, hat zwei Kinder, ihr Mann ist Hochschulprofessor und sie arbeitet halbtags in einem Kindergarten! Ihre Mutter und der ganze Clan sind froh, dass Rebecca von Frankreich weggeblieben ist. Es hätte sonst noch weitere Karrieren kosten können!“

„Hat sie denn nie wieder Verbindung zu den deutschen Terroristen aufgenommen?“ fragte ich, in Erinnerung an meine Pariser Erfahrungen.

„Anscheinend nicht. Noch bevor sie drogenfrei wurde, war sie völlig abgeschirmt. Ich weiß, dass selbst wir beide damals bei unseren Besuchen im Krankenhaus von Geheimdiensten und politischer Polizei durchleuchtet wurden. Das hat mir nachher meine Mutter bestätigt. Und später, als Rebecca in den USA war, wurde einer der beiden Deutschen verhaftet. Er hatte in einem Dorf in der Bretagne unter falschem Namen gelebt. Er stand aber schon vorher monatelang unter Beobachtung von eingeschleusten Agenten, die sich als Feriengäste getarnt hatten. Zusammenarbeit von deutschen und französischen Geheimdiensten, so hieß es damals in den Zeitungen!“

„Ja, ich erinnere mich!“ antworte ich nur. „Das Leben geht schon seltsame Wege!“

Dominiques Mutter arbeitete 'irgendwo beim Staat’, - was ich nie in Einzelheiten wusste oder hinterfragte. Damals war ich lediglich überrascht, dass Dominique und Rebecca und die beiden Familien sich kannten.
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Eines Abends kam beim Familientreffen die Rede darauf. Ich erfuhr von Rebeccas Nervenzusammenbruch, dem Suizidversuch und dem Klinikaufenthalt. Dominique und ich besuchten sie ein paarmal in der Klinik in Neully. Rebecca war apathisch und konnte oder wollte sich nicht an die gemeinsamen Achtundsechziger Jahre erinnern und sprach nur davon, ein Kind zu wollen und Mutter zu werden. Meine Güte, wie lange war das her…

„Bist du noch irgendwie politisch engagiert?“ fragte ich Dominique.

„Nicht direkt politisch, aber gesellschaftlich schon...!“ Dominique zögerte. „Soweit es meine Zeit erlaubt..., ich bin viel unterwegs. Kennst du die Aktion ‚Stoppt Gewalt gegen Frauen und Kinder’? Da bin ich stark engagiert. Für die habe ich einen Bilderzyklus gemalt, der ist sogar in der Eingangshalle vom Unicef-Gebäude ausgestellt. Und ‚Künstler gegen Faschismus’ heißt eine andere Gruppe, in der ich mich an Aktionen beteilige. Erschreckend, wie viel Rechtstendenzen sich in Frankreich wieder breit machen. Junge Nazis schlüpfen aus den Eiern, als ob es nie ein Konzentrationslager und den Krieg und die Nazi-Kollaboration der Franzosen gegeben hätte!“ Mit diesen realistischen Einschätzungen war ich schon früher mit Dominique einig.

„In Deutschland auch...!“ sagte ich. „Sonnenwendfeiern, Heimatbünde, Ausländerhass. Damit fängt’s an...!“

„Hast du noch Verbindung nach Deutschland?“ fragte Dominique.

„Manchmal besuche ich meine Mutter. Ich habe schon seit Jahren meine Papiere in Ordnung und in Deutschland alles geregelt!“

„Glaubst du noch an den Sozialismus?“ Dominique schaute mich an

„Und du?“ fragte ich zurück und zog eine Stirnfalte.

„Ich bin mehr und mehr verunsichert!“ Dominique wurde nachdenklich. „Was uns die Sowjetunion als Sozialismus auftischt, hat nichts damit zu tun. Sozialismus ist Menschenwürde und Freiheit, Respekt vor Minderheiten...! Ich bin schon vor einigen Jahren aus der KP ausgetreten! Diese miefigen Stalinisten waren mir auf den Geist gegangen. Von wegen Freiheit und Sozialismus. Stalin und Hitler, wo ist da der Unterschied?! Wenn sich die Sowjetunion nicht erneuert, wird sie in ein paar Jahren zusammenbrechen!“

„Vielleicht schafft es Mitterand in Frankreich?“ warf ich ein.
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„Frankreich und die französischen Linken waren schon immer Motor bei Umwälzungen in Europa...?!“

„Und von was träumst du Nachts!“ antwortete Dominique bitter. „Wenn ich mir nur meine Nachbarn anschaue: Junge Leute, auf jeder Manifestation dabei, hoch erhoben die Faust und es lebe der Sozialismus! Gleichzeitig sind sie arbeitslos obwohl sie arbeiten könnten, aber sie drücken sich absichtlich und nehmen alle Vorteile der Sozialhilfe in Anspruch, sie jobben nebenher schwarz und kassieren doppelt. Aber das wird uns nicht in den Sozialismus führen, sondern in die Reaktion von rechts! Le Pen sitzt bereits in den Startlöchern!“ Dominique machte eine Pause. „Und Mitterand? Der hat sich schon nach Vichy vom Saulus zum Paulus gewandelt...!“ Dominique wurde verächtlich. „Er ist ein geschickter Blender, auf den viele hereingefallen sind!“

„Die Achtundsechziger waren dennoch eine wichtige Zeit für uns…, für unsere Entwicklung! Oder nicht?“ Fragend sah ich Dominique an. Sie nickte zwar, schaute aber unruhig auf ihre Armbanduhr. „Du meine Güte! Wir haben die Zeit verplappert. Ich muss weg! Ich gebe dir meine Nummer. Wir sollten uns ab und zu mal sehen! Oder, was meinst du?“ Ein abrupter Abschied, aber ich fügte mich mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Dominique legte Geld auf den Tisch. „Du bist eingeladen!“ sagte sie und stand auf. Für eine oder zwei Sekunden standen wir uns unschlüssig gegenüber. Dominique machte den ersten Schritt auf mich zu. Wir umarmten uns und küssten uns zweimal auf die Wangen. Die Umarmung und die Küsse waren wärmer und andauernder als die oberflächlich gehauchten üblichen Abschiedsküsse. Wenigstens hatte ich diesen Eindruck.

*

Dies war ein Auszug aus

Michael Kuss

FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.

Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.

Romanerzählung.

Überarbeitete Neuauflage 2013

ISBN 078-3-8334-4116-5.

14,90 Euro.

Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.

Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de

*

Auch hier bei Webstories: Französische Liebschaften (18) "Nazi-Theater in Paris".
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in Paris".
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Punktestand der Geschichte:   299
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Kommentar von "Marie" zu "optimistischer Pessimist"

Mir gefällt es, egal, was andere denken. Auch die berschrift lockt. Gruß marie

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