Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Daniel Freedom      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 17. Oktober 2013
Bei Webstories eingestellt: 17. Oktober 2013
Anzahl gesehen: 3349
Seiten: 5

Sie hatten sich mal wieder gestritten, er und sein Vater. Worum es dabei eigentlich gegangen war? Wie immer um die Arbeit. Seine, Marius Einstellung zur Arbeit auf ihrem Hof und im Haus, seine Aufgaben und Pflichten hier. Irgendwie war an diesem Morgen alles aus den Fugen geraten und er hatte eine Dummheit begangen. Eine fürchterliche Dummheit.

Es war alles so schnell passiert, obwohl er es gar nicht gewollt hatte.

Bei ihren Streitereien ging es immer nur um seine Aufgaben auf dem Hof. Sein Vater war immer am schuften. Jede Stunde und Minute des Tages, außer den sechs Stunden in denen er schlief. Natürlich gab es jede Menge zu tun. Die Tiere waren zu versorgen, der Stall in Ordnung zu halten, die Felder mussten bestellt werden und es gab jeden Tag etwas zu reparieren. Egal ob es der Traktor, ein Zaun oder etwas am Haus war.

Seit seine Mutter gestorben war, fehlte natürlich jemand und sein Vater hatte jetzt noch mehr zu tun, als er es ohnehin schon immer hatte. Marius vermisste seine Mutter jeden Tag. Sie war morgens sein erster und abends sein letzter Gedanke. Sie war vor einem halben Jahr an Krebs gestorben.

Sein Vater, er hieß Bernd aber alle riefen ihn nur Bernie, gab sich alle Mühe aber er war oft einfach überfordert mit allem. Er war jemand, der seine Gefühle nicht zum Ausdruck bringen konnte und das machte Marius zu schaffen. Nachts, wenn er manchmal noch heimlich in seinem Zimmer ein Buch las, hörte er seinen Vater unruhig in seinem Bett hin und her rollen und Marius wusste, dass auch er sie vermisste.

An diesem Morgen war mal wieder ein Disput ausgebrochen, weil er nicht wie sein Vater war, sondern wie sie, seine Mutter. „Marius, du bist ein verdammter Träumer“, hatte er ihn beim Frühstück angefahren. „Hier gibt es jede Menge Arbeit und ich brauche deine Hilfe und kann mich nicht um alles alleine kümmern. Im Leben bekommst du nichts geschenkt, du musst es dir erarbeiten. Lerne das endlich. Je früher desto besser".

Er hatte vergessen die Post wegzubringen und stattdessen mal wieder draußen am Bach gesessen und sich Geschichten ausgedacht oder wie sein Vater es ausdrückte, sich in seine Fantasiewelt geflüchtet. Meine Güte er war doch erst zwölf. Er hatte seine Mutter verloren und er hing oft seinen Gedanken nach. Das musste er ja zugeben und er liebte den Hof und seinen Vater, aber manchmal wollte er einfach nur noch fort von hier.
Seite 1 von 5       
Weg von seinem Vater und dem Hof, weg von all den Erinnerungen. So gab ein Wort das andere und als ihre Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreichte schrie er seinem Vater entgegen: „Ich hasse dich, ich hasse dich“. Noch bevor er die letzte Silbe hinausgebrüllt hatte, bereute er es schon. Doch es war zu spät. Marius sprang von seinem Stuhl auf, der knallend auf dem Dielenboden landete, rannte hinaus und ließ seinen verdutzten Vater alleine in der Küche zurück.



Nun stand er hier oben auf dem Berg. Wie war er hier her gekommen? Die letzten Stunden waren an ihm vorbeigeflogen. Er war einfach losgerannt, nachdem er seinen Rucksack, den Hut mit der schönen bunten Feder und seinen Wanderstock geschnappt hatte. Die Feder, die er von ihr bekommen hatte. Er lief über die Felder den Berg hinauf und immer weiter und weiter bis sie aufhörten. Dann rannte er immer noch weiter und jetzt sah er nur noch Steine und Felsen um sich herum. Er war wirklich verdammt weit hinaufgekommen. Er hatte geweint, an sie gedacht, an all die schönen Momente vor der Krankheit und dann hatte er geweint, weil er an all die schrecklichen Momente danach dachte. An das Krankenhaus, seine Mutter, abgemagert und todkrank in diesem schrecklichen Bett. Er hatte diesen Geruch gehasst. Dieser abscheuliche Geruch im Krankenhaus und in ihrem Zimmer und manchmal hatte er sich gewünscht, er könnte zu Hause bleiben aber dann hatte er sofort ein schlechtes Gewissen bekommen und wäre am liebsten Tag und Nacht bei ihr am Bett geblieben. Ihre eingesunkenen traurigen Augen, würde er nie vergessen. Sie hatte immer versucht für ihn zu lächeln und fröhlich zu sein aber am Schluss konnte sie es einfach nicht mehr. Dann die Beerdigung, an der all diese fremden Menschen ihm etwas gesagt hatten und ihn getätschelt hatten. Er dachte daran, wie sein Vater ihn in den Arm genommen hatte und er da gestanden hatte auf dem Friedhof. Überhaupt nicht begriff was geschehen war und sich nur wünschte, endlich wieder zu Hause zu sein.



So waren die Stunden des Tages verflogen in einer Mischung aus Tränen, Augeblicken der Verzweiflung, Wut und Trauer und dazwischen immer wieder kleine Momente des Lachens und der Liebe, die Gedanken an seine Mutter, die ihm fasst das Herz brachen.

Das Tal mit ihrem Hof konnte er überhaupt nicht mehr sehen.
Seite 2 von 5       
Natürlich kannte er sich hier ein wenig aus und er wusste auch ungefähr, wie er wieder nach Hause kommen würde, aber so hoch war er selten mit seinem Vater gekommen.

Früher hatten sie das oft gemacht. Waren einfach mal losgegangen und hatten einen Tag zusammen verbracht aber heute? Nichts mehr machten sie zusammen außer arbeiten und streiten.

Das Wetter sah auch nicht mehr besonders gut aus. Im Osten türmten sich hohe, dunkle Wolken und der Wind hatte aufgefrischt. Es würde mit Sicherheit Regen geben und er hatte nicht mal eine Jacke dabei und wenn es hier oben dunkel wurde, könnte er sich wirklich verirren oder zu Tode stürzen. Er inspizierte seinen Rucksack: ein alter Schokoriegel, etwas zu trinken in seiner alten ledernen Trinkflasche, ein Taschenmesser, die kleine LED-Taschenlampe, eine kleine Decke und natürlich sein Lieblingsbuch „Die Schatzinsel“. Wie wäre wohl das Gefühl einen Schatz zu finden, fragte er sich einen Moment aber selbst er wusste, dass jetzt keine Zeit für Träumereien war. Es war an der Zeit eine Entscheidung zu treffen. Was sollte er tun? Was hätte sein Vater ihm geraten? Marius orientierte sich noch einmal, sah sich um, wischte die letzten Tränen aus seinem Gesicht und machte sich auf den Rückweg. Nach einer Stunde sah er ein, dass er es vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr schaffen würde. Es regnete bereits in Strömen und dadurch wurde es auch viel schneller dunkel, als er gedacht hatte. Zum Glück erinnerte er sich an die alte Bärenhöhle, die sein Vater ihm mal gezeigt hatte und jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als bei ihm unten auf dem Hof zu sein. Er brauchte jetzt ein Lager für die Nacht, sonst würde er sich wirklich noch verirren oder sich bei einem Sturz verletzen. Wieder sah er sich um, suchte vertraute Punkte im Dämmerlicht. Er wich von seinem ursprünglichen Weg ab, machte einen Schlenker nach links und fand nach einer halben Stunde die Höhle. Zum Glück hatte er im Rucksack auch die kleine Picknickdecke dabei. Er wäre zwar nicht erfroren, aber in der Höhle war es verdammt kalt, wenn auch trocken. Er kroch so tief hinein wie es ging, wickelte sich in die kleine Decke ein, kramte sein Buch und die Taschenlampe aus dem Rucksack und las. Er versuchte einfach an nichts zu denken.
Seite 3 von 5       
Nicht daran was passiert war oder noch passieren könnte. Er ignorierte den fauligen, modrigen und irgendwie tierischen Geruch um sich herum. Bären gab es hier zum Glück schon lange nicht mehr, wenn er auch immer wieder verängstigt zum Eingang der Höhle blickte. Man wusste ja nie.



Im Traum sah er seine Mutter, die schöne Version von ihr, vor der Krankheit. Ihre blonden offenen Haare, ihr gutmütiges Lächeln und die kleinen Fältchen um ihre leuchtenden Augen. Ihr Mund formte Worte, die er nicht verstand aber das war egal, sie war da, das zählte…

Als er aufwachte, wusste er zuerst nicht wo er war, doch dann fiel ihm alles wieder ein. Der Streit…, wie er stundenlang einfach vor sich und der Welt weggerannt war und an die Bärenhöhle. Sein erster Gedanke an diesem Morgen war nicht seine Mutter, sondern sein Vater. Er wollte nur noch so schnell wie möglich zu ihm und ihm sagen, dass ihm alles furchtbar leid tue. Selbst wenn er eine Tracht Prügel beziehen würde. Er hätte sie wohl verdient gehabt, aber sein Vater hatte ihn noch nie geschlagen.

Alles tat ihm weh. Er war über dem Lesen eingenickt und sein Körper war steif von der Kälte und dem harten Boden auf dem er geschlafen hatte. Das alles war ihm egal, er packte seine Sachen zusammen, zog den Rucksack über und machte sich auf den Weg. Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne kam von Osten und verscheuchte die letzten Nebelschwaden. Es würde ein schöner sonniger Tag werden. Nach zwei Stunden erreichte er endlich wieder die Wiesen und Felder und eine weitere Stunde später stand er auf dem Hügel über ihrem Hof. Er sah hinunter und lächelte. Sah ihr Haus mit den alten Ziegeln, von denen einige ausgetauscht werden müssten. Sah den Stall, die Zäune, die von hier oben gar nicht so schlecht aussahen. Sah den Rauch aus dem Kamin aufsteigen und zum ersten Mal, seit seine Mutter gestorben war, freute er sich darauf wieder nach Hause zu kommen.

So stand er da mit seinem Rucksack, den dreckigen Hosen, seinem Hut mit der Feder und einem Lächeln im Gesicht.

Er sah seinen Vater, der den Hügel hinauf kam. Auch Marius lief los. Ihm wurde jetzt klar, dass sie beide sich zusammenraufen und füreinander da sein mussten und wusste in diesem Moment auch, dass sie das konnten. Sie hatten beide jemanden verloren, den sie geliebt hatten und nun hatten sie nur noch sich.
Seite 4 von 5       
Marius hatte in den letzten Stunden Abschied genommen, versucht seinen Weg zu finden und beschlossen weiter zu machen. Er hatte jemanden verloren, dieser Schmerz würde für immer bleiben. „Man vergisst nicht, man lebt nur weiter“, hatte sie immer gesagt. Das Leben ging einfach weiter und da war sein Vater, den er liebte und den er nicht auch noch verlieren wollte. Das wurde ihm in diesem Augenblick klar, als er ihm entgegenlief und in seine Arme sprang.
Seite 5 von 5       
Punktestand der Geschichte:   256
Dir hat die Geschichte gefallen? Unterstütze diese Story auf Webstories:      Wozu?
  Weitere Optionen stehen dir hier als angemeldeter Benutzer zur Verfügung.
Ich möchte diese Geschichte auf anderen Netzwerken bekannt machen (Social Bookmark's):
      Was ist das alles?

Kommentare zur Story:

  Hallo Gerald, freut mich wenn die Geschichte gefällt, auch dir danke fürs Lesen und Kommentieren.  
   Daniel Freedom  -  23.10.13 22:09

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Gefällt auch mir. Ergreifend und überzeugend.  
   Gerald W.  -  23.10.13 09:18

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Danke Doska.  
   Daniel Freedom  -  18.10.13 12:44

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  Mir kamen die Tränen. Eine sehr gelungene Kurzgeschichte.  
   doska  -  18.10.13 11:01

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

Stories finden

   Hörbücher  

   Stichworte suchen:

Freunde Online

Leider noch in Arbeit.

Hier siehst du demnächst, wenn Freunde von dir Online sind.

Interessante Kommentare

Kommentar von "darkangel" zu "Stein in der Mauer"

gefällt mirt auch gut!

Zur Story  

Aktuell gelesen

  In Arbeit

Funktion zur Zeit noch inaktiv. Über ein Konzept zur sicheren und möglichst Bandbreite schonenden Speicherung von aktuell gelesenen Geschichten und Bewertungen, etc. machen die Entwickler sich zur Zeit noch Gedanken.

Tag Cloud

  In Arbeit

Funktion zur Zeit noch inaktiv. In der Tag Cloud wollen wir verschiedene Suchbegriffe, Kategorien und ähnliches vereinen, die euch dann direkt auf eine Geschichte Rubrik, etc. von Webstories weiterleiten.

Dein Webstories

Noch nicht registriert?

Jetzt Registrieren  

Webstories zu Gast

Du kannst unsere Profile bei Google+ und Facebook bewerten:

Letzte Kommentare

Kommentar von "Wolfgang Reuter" zu "Das Gullydeckel-Lied"

Vielen Dank für 300 "Grüne"! Demnächst teile ich hier mit, wo man mein Lied hören kann, versichert der

Zur Story  

Letzte Forenbeiträge

Beitrag von "Redaktion" im Thread "Winterrubrik"

Das wünsche ich euch. Ein gesundes Neues Jahr. Habt viel Spass heute.

Zum Beitrag