Schauriges · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester

Von:    Renate Neff      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 13. Februar 2012
Bei Webstories eingestellt: 13. Februar 2012
Anzahl gesehen: 3061
Seiten: 8

Eine eiskalte Geschichte





Der Wert des Geldes



Meine Beine zitterten, denn ich war ausgepumpt. Ausgepumpt und ganz erfüllt von dem klaren, kalten Wintertag in den Bergen und den Abfahrten im Pulverschnee. Allein war ich aufgestiegen, hatte mich vom Pulk des Skizirkus’ abgesetzt und die Einsamkeit genossen inmitten des Gipfelmeers, das weiß und schroff in den stahlblauen Himmel ragte. Nichts war zu hören in der sonnigen Stille bis auf die Schleifgeräusche meiner Skier im Schnee. Doch die länger werdenden Schatten des fortschreitenden Tages hatten mich an die letzte Abfahrt des Lifts erinnert.

Ich hatte mich also auf den Weg gemacht, hatte die richtige Abzweigung gefunden und war rechtzeitig an der Bergstation angekommen. Dort entdeckte ich verwirrt und verärgert ein Schild, das den Einstieg verbot. Warum, konnte ich nicht ergründen. Andere Fahrgäste waren nirgendwo zu sehen. Zu spät gekommen war ich auch nicht. Was also sollte ich tun? In meinem ausgepowerten Zustand graute mir davor, auf Skiern ins Tal zu fahren. Die Pisten vereisen ja, sobald es abends kälter wird. Was, wenn ich stürzte und mich verletzte? Dort unten würde mich heute niemand mehr finden. Mein Handy hatte ich dummerweise zu Hause vergessen. In die Skikanten hätte ich beißen können deswegen!

Letztlich entschied ich mich, das Verbotsschild zu ignorieren und kletterte in einen der an der Wendescheibe des Stationshäuschens entlangklappernden Sessel. Entspannt lehnte ich mich zurück, baumelte mit den Skiern und gab mich der sanften Gleitfahrt hin. In wenigen Minuten würde mich der Lift ins Tal getragen haben.

Die Baumgrenze war schon erreicht, die Sonne hinter den höher werdenden Gipfeln verschwunden. Letzte schräge Strahlen ließen die Felsen noch einmal rotgolden aufglühen, bevor sie endgültig verschatteten. Vom Tal her kroch blau die Dämmerung herauf und unter mir wuchsen die ersten Fichtenwälder die Steilhänge empor. Es wurde spürbar kälter.

Da ruckte es und der Lift stand.

Ein tiefer Schreck durchzuckte mich. Verdammt, es war doch noch nicht sechzehn Uhr. Was war geschehen? Ein Defekt? Ein Stromausfall? Man würde ihn sicherlich schnell beheben. Mach dir keine Sorgen. In wenigen Minuten wird es weitergehen.

Doch Minute um Minute zerrann, nichts geschah.
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Einzig eine Schar Krähen fiel in die Fichtenwipfel ein. Einer schwarzen Wolke gleich kreisten die Vögel krächzend in der Luft, bevor sie ihr Nachtlager aufsuchten. Jetzt gab es nichts Erhebendes mehr. Ich fühlte mich ausgeliefert in luftiger Höhe, ohne Boden unter den Füßen.

Unter mir wedelten die letzten Skiläufer mutig abwärts; ich konnte sie im Dämmerlicht noch erkennen. Da fing ich an zu rufen, aber sie hörten mich nicht. Oh, wäre ich doch bloß auf der Piste geblieben!

Nun hing ich da, viel zu hoch über der Schneedecke, um abzuspringen. Nichts zu essen. Nichts zu trinken. Kein Handy, mit dem ich hätte Hilfe herbeirufen können und es wurde unerbittlich dunkler.

Was haben die Leute eigentlich früher ohne Handy gemacht?, schoss es mir durch den Kopf. Offenbar haben sie deutlich gefährlicher gelebt. Steinzeit! Hilflos hing ich zwischen Himmel und Erde und fühlte mich in die Steinzeit zurückkatapultiert, nur weil versagende Technik und meine Vergesslichkeit eine unheilige Allianz eingegangen waren.

Ein Gedanke schlich sich in mein Bewusstsein: Vielleicht hatte die Technik gar nicht versagt? Vielleicht hatte das Liftpersonal einfach Feierabend gemacht in der Gewissheit, dass niemand mehr kommen würde? Natürlich! Die waren gar nicht darauf eingestellt, dass noch jemand unterwegs war. Geballte Wut erfasste mich. Mir steht eine eiskalte Nacht im Sessellift bevor, nur weil die vor Feierabend zu faul sind, die Strecke noch einmal abzufahren. Wenn ich erst mal hier befreit bin, kriegen die eine Klage an den Hals, die sich gewaschen hat. –

Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Über mir wölbte sich ein klarer Sternenhimmel, untrügliches Zeichen für eine eisige Nacht; die Milchstraße zog als ungleichmäßiges Band von Horizont zu Horizont. Von Südosten her begann Orion allmählich, den Zenit zu erobern. Beteigeuze strahlte hell, nur von Sirius übertroffen. Unter anderen Umständen hätte ich mich wohl faszinieren lassen. Jetzt aber war der Anblick Grund für höchste Besorgnis. Ich stellte mir vor, wie man mich in den Morgenstunden steifgefroren finden würde. Panik überfiel mich, denn ich fühlte, dass es ernst war.

Ich bäumte mich auf: Hilfe! Hilfe!

Herrgott nochmal, hört mich denn keiner? Es muss mich doch jemand hören! Ich schrie mir die Seele aus dem Leib.
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Ich wollte leben!

Ich glaube, meine Mutter würde es nicht überstehen, ihren einzigen Sohn zu verlieren. Wie eine Wolfsmutter hatte sie mich mein ganzes Leben lang bewacht, mich bevormundet, mich unter eine Käseglocke gestellt. Manchmal hatte ich sogar die Schule schwänzen müssen, damit ich eine Zeit lang unbehelligt draußen spielen konnte.

Meine Freunde und Studienkollegen fielen mir ein. Was würden sie wohl sagen? Ich sah sie schon mit den Schultern zucken. Armer Kerl, Pech gehabt? Selber schuld?

Durch meinen mehrlagigen, polargetesteten, atmungsaktiven Skianzug fühlte ich bereits die Kälte kriechen. Stell dich nicht so an! Beweg dich! Denk an deine Freundin, an ihre Wärme! An dein Kind, wie es seine Ärmchen um dich schlingt. Das wird dich warm halten. Ach, wenn ich sie nur herbeirufen könnte!

Das ist es: Telepathie! Fühlt nicht ein Angehöriger die Not eines geliebten Menschen, die Gefahr, in der er schwebt, auch wenn er weit entfernt ist? Also, konzentriere dich! Richte deine ganze Aufmerksamkeit auf deine Freundin! Auf deine Eltern! Rufe ihre Namen so laut du kannst ins Weite! Vielleicht spüren sie ja, wie es um dich steht.

Quatsch! Aberglaube! Man würde mich auch so vermissen. Sicherlich beunruhigten sich meine Eltern und meine Freundin längst. Meine Freundin erwartete heute Abend meinen Anruf. Vermutlich war die Bergwacht längst alarmiert. Tröstlich stieg dieser Gedanke in mir auf und ich wurde ruhiger.

Diese Finsternis! Was knackt da in den Bäumen? Wahrscheinlich sprengt gerade der Frost einen Ast ab oder irgend ein Wild streift durchs Unterholz.

Langsam kroch Müdigkeit in meinen Kopf, in meine Glieder. Etwas schlafen. Die Zeit schlafend überbrücken. Die Kälte spüre ich gar nicht mehr so sehr. Mir ist sogar ein wenig wohlig, träumerisch.

Doch da schrak ich hoch. Du darfst nicht schlafen. Hast du nicht immer gelesen, dass man bei Frost nicht einschlafen darf? Dass man sonst erfriert? Mir fielen meine Jugendbücher von Jack London, von den Goldsuchern am Yucon in Alaska ein. Ach was, beruhigte ich mich, dein sündhaft teurer Thermo-Anzug hält dich warm.
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Mütze und Kapuze fest um den Kopf gezurrt, die Fäustlinge an den Händen, so kann ich mir ein Nickerchen doch leisten, oder? Träge sackte ich wieder in mich zusammen.

Wenn ich nur die Skier abschnallen könnte! Sie hingen mittlerweile wie Klötze an meinen Füßen. Ich werde sie abwerfen. Vielleicht kann ich sie hier ja irgendwie aufstellen? Ich muss sie doch dem Skiverleih zurückbringen. Jetzt war ich wieder ganz wach. Auch mein Hintern war schon ganz taub. Wann merken die im Hotel endlich, dass ich nicht zurückkomme? Nun könnte die ängstliche Besorgnis meiner Mutter einmal von Nutzen sein.

Ich beugte mich über den Bügel, der mich festhielt, um an meine Skibindungen zu kommen, versuchte, die linke vorsichtig zu lösen und gleichzeitig den Ski mit der rechten Hand festzuhalten. Tatsächlich, das gelang, trotz der dicken Handschuhe. Jetzt den Ski schwenken, in den Liftsessel bugsieren, senkrecht stellen, mich weit nach hinten setzen, ihn mit dem Rücken festhalten und dann den anderen Ski lösen. Da rutschte der erste Ski weg und stürzte in den Abgrund.

Himmelkreuzdonnerwettersakramentnochmal!

Ist ja auch klar, wenn ich keinen Riemen habe, um den Ski am Sessel festzuschnallen. Aber den anderen Ski muss ich auch los werden. Egal, ob er abstürzt. Meine Füße fühlen sich an wie Eiszapfen. Meine Zehen schmerzen schon. Wenigstens haben die Turnübungen meinen Kreislauf wieder in Schwung gebracht.

Wie lange hänge ich denn schon hier oben? Drei Stunden? Meine Uhr zeigt Sieben. In der Dunkelheit sehe ich die Leuchtzeiger. Wie die Zeit dahin schleicht! Grausiger Gedanke, dass ich noch eine ganze Nacht vor mir habe. Wie stehe ich das bloß durch?

Ich könnte heulen! Wie sagt man doch? Auf See und vor Gericht in Gottes Hand? Hier oben ganz sicher auch. Wenn dir sonst niemand hilft, vielleicht hilft dir ja Gott. Aber wer ist das? Die Unbekannte in einer Gleichung? – In welcher Gleichung? Heutzutage sind wir aufgeklärt und der Kosmos ist so was von erforscht. Das ist alles Sache von Physikern und Kosmologen. Da wird beobachtet, vermessen, berechnet. Für Wunder oder Gott ist da kein Platz. Genauso gut kannst du an Astrologie glauben. Eher schon glaube ich an den Satz: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.

Meine Herren, wie viele Menschen auf der Welt sind jetzt wie ich in Lebensgefahr und betteln um ihr Leben? Kleine Würmer sind wir angesichts der Unendlichkeit des Kosmos.
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Nimm dich nicht so wichtig! Trotzdem: Irgendwie ... ist es schon schön, mir etwas Höheres vorzustellen als mich selbst, etwas Schützendes. Man fühlt sich so ... so ... getragen, wie ein Kind auf den Schultern des Vaters ...

Meine Gedanken trieben ab.

Lieber, lieber Gott, bitte, bitte, mach, dass ich hier weg komme!

Ach Scheiße! Soll er mir Flügel wachsen lassen? Vielleicht gibt mir ja dieser Gott noch einen klugen Gedanken ein?

Was hab ich noch in meinem Rucksack? Blind in der Dunkelheit und voll hektischer Unruhe streifte ich die Schultergurte ab, bugsierte ihn vorsichtig, vorsichtig! nach vorne und tastete nach Brauchbarem. Ist noch Kaffee in der Thermosflasche? Wenigstens ein winziger Schluck? Trotz der klobigen Handschuhe an den Händen öffnete ich den Schraubverschluss, setzte die Flasche an den Mund, aber nichts als warmer Kaffeedunst stieg mir ins Gesicht. Doch hier: Mein Feuerzeug. Probehalber schlug ich es durch meine Fäustlinge hindurch an. Es flammte auf. Ein wenig schwand das Gefühl des Ausgesetztseins. Das Feuerzeug half, meine Panik im Zaum zu halten. Es war ein Funke, etwas Vertrautes.

Da sah ich unter mir in einiger Entfernung Schneeraupen den Hang hinaufkriechen. Ich sah ihre Lichter, ich hörte ihre Motoren. Sie präparierten die Piste für morgen. Vielleicht kannst du sie irgendwie auf dich aufmerksam machen?

Und ich rief und wedelte mit den Armen, ich suchte noch einmal im Rucksack nach Dingen, mit denen ich mich bemerkbar machen konnte. Wenn es doch nur etwas Mondlicht gäbe! Wenn in der Schwärze doch nur jemand heraufblickte! Im Rucksack fand ich nichts als mein Portmonee. Aber was sollte ich damit anfangen?

Verzweifelt brach ich zusammen. Nun fing ich wirklich an zu heulen. Die mögliche Rettung in greifbarer Nähe und trotzdem hoffnungslos. Keine Chance, auf mich aufmerksam zu machen. Stattdessen hielt ich mein Geld in den Händen. Dieses Scheißgeld!

Wieder begann ich zu schreien, zu rufen, meine Stimme krächzte nur noch: Hilfe, Hilfe!

Die Raupen fuhren aufwärts, abwärts, planierten den Boden, gleichmäßig eine Bahn nach der anderen ziehend. Allmählich kamen die Scheinwerfer und der Motorenlärm etwas näher.
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Inzwischen war der Zeiger meiner Uhr weitere zwei Stunden vorgerückt, der Frost beißender, meine Lage verzweifelter geworden. Damit ich nicht ganz steif vor Kälte wurde, schlug ich meine Arme um meinen Körper, immer wieder, immer wieder.

Ich zermarterte mir mein Hirn. Was musste ich anstellen, um mich bemerkbar zu machen? Ich stellte mir vor, ich wäre einer der Fahrer da unten. Was müsste geschehen, damit ich trotz Motorenlärms nach oben blickte? – Es müsste etwas sein, das ich aus den Augenwinkeln sehen, das mich interessieren würde, etwas Bewegtes, etwas, das mich überraschte. Etwas Helles, Blitzendes. Etwas, das nicht hierher gehörte. Eine Sternschnuppe zum Beispiel. Aber wie eine Sternschnuppe jetzt hierher zaubern? Ach, hätte ich doch nur eine Leuchtrakete!

Ich könnte ja ... Einen Versuch war es wert. So etwas wie eine Leuchtrakete könnte ich mir vielleicht selbst bauen. In verrückter Hoffnung dachte ich plötzlich mein Feuerzeug und meine Geldscheine zusammen. Die Wirkung wäre zwar mit einer Leuchtrakete nicht vergleichbar, aber einen Versuch wäre es wert ...

Feierlich und ängstlich zugleich zog ich meine Handschuhe aus. En Kälteschock durchfuhr meinen Körper, als meine Finger ihr Futteral verließen; ich begann heftig zu frieren, die Zähne klapperten. Unbeholfen, denn die Finger waren längst klamm geworden in den Handschuhen, zählte ich meine Geldscheine, es waren acht. Jeder einzelne Schein könnte meine Rettung sein. Ließen sie sich überhaupt anzünden? Und brannten sie genügend lange? Würden sie nicht ausgehen während ihres Falls zu Boden? Wenn das gelänge! Dies wäre DIE Investition meines Lebens. Lieber, lieber Gott, lass das Experiment gelingen, bitte!

Ich griff den Schein mit dem geringsten Format und schlug mit zitternden Fingern das Feuerzeug an. Mein ganzer Körper bebte. Mann, nimm dich zusammen! Endlich gelang es mir, den Schein an einer Ecke anzuzünden. Er brannte. Ich schwenkte ihn hin und her, er brannte weiter. Die Flamme war nicht sehr hell, aber der Schein brannte, langsam, bedächtig, kein Strohfeuer. Ich ließ ihn los. Langsam schwebte er – nein, nicht zu Boden, sondern durch die Hitze aufwärts getrieben, in die Höhe.
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Dort sprühte er Funken, entfaltete sein Licht und sank dann erst, schwächer brennend, langsam in die Tiefe. Mehr konnte ich mir nicht wünschen.

Wieder fing ich an zu brüllen. Mit dem brennenden Geldschein musste ich doch gesehen werden. Das musste doch auffallen. Dann wartete ich ein Weilchen. Mit den Geldscheinen musste ich sparsam umgehen, durfte mein Pulver nicht zu schnell verschießen, auch wenn ich inzwischen von einer wahnwitzigen Ungeduld getrieben wurde.

Was machen die Schneeraupen jetzt? Immer noch arbeiteten sie gleichmütig weiter. Niemand hatte anscheinend etwas Auffälliges wahrgenommen.

Wenn ich alle zehn Minuten einen Geldschein verbrenne, rechnete ich, bleiben mir knapp eineinhalb Stunden. Dann muss ich gefunden worden sein. Wenn nicht, war das mein sicherer Tod.

Pünktlich nach zehn Minuten zündete ich den zweiten Geldschein an. Wieder zog ich meine Handschuhe aus, hauchte in die Hände, rieb sie aneinander, um sie warm und geschmeidig zu halten. Schließlich gelang es mir, auch diesen Geldschein zum Brennen zu bringen. Er brannte gleichmäßig, nicht zu stark und nicht zu schwach, auch er schwebte zunächst in die Höhe, dann sprühte er eine Anzahl Funken, wahrscheinlich verbrannte der Sicherheitsstreifen aus Aluminium, und sank schließlich im Schwächerwerden der Flammen allmählich in die Tiefe. Da er aber größer war, brannte er auch länger.

Warten. Warten auf Reaktionen. Und rufen. Sich die Seele aus

dem Leib brüllen. Es war ein innerer Zwang, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war und obwohl meine mittlerweile geschwollenen Stimmbänder nichts als ein heiseres Krächzen hervorbrachten.

Nichts. Wieder nichts. Ich stürzte in tiefe Verzweiflung. Mein Tod war wohl schon beschlossene Sache.

Wieso hatte ich nur mein Handy liegen lassen? Es hatte eine Meinungsverschiedenheit mit meinen Eltern gegeben. Sie nahmen mir meine Extratour, wie sie es nannten, übel. Sie meinten, es wäre leichtsinnig, allein, ohne Gruppe im Gebirge. Sie hatten von Lawinen gesprochen und von Gletscherspalten. Sie trauten mir einfach nichts zu. Es war immer das Gleiche. – Grotesk war nur, dass ich den ganzen Tag nie in Gefahr gewesen war. Erst der vermaledeite Lift hatte mich in Lebensgefahr gebracht. Je mehr sich meine Eltern aufregten, desto schneller wollte ich los.
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Nur für einen Tag lang. Im letzten Augenblick ließ mich die Anspannung mein Handy vergessen. Diese Unachtsamkeit sollte jetzt mein Tod sein.

Ich war so müde. Wenn ich nur schlafen dürfte! Blick auf die Armbanduhr, zehn Minuten vorbei, der nächste Geldschein. Wieder der Kälteschock, wieder das kleine Feuerwerk, wieder keine Reaktion. Und noch einmal und noch einmal. Die Raupen arbeiteten und nichts änderte sich.

Tatsächlich musste ich wohl einige Minuten geschlafen haben. Mit einem Ruck erwachte ich, schaute auf die Uhr. Höchste Zeit, den nächsten Geldschein zu verbrennen.

Fünf Geldscheine waren verbraucht. Jetzt konnte nur noch ein Wunder geschehen. Ich versank in Apathie. Das Nichts verlor auf einmal seinen Schrecken. Ist doch egal. Die bemerken mich ja doch nicht. Was macht das schon, wenn ich weg bin? Du bist alles los: die Kälte, die Not, du kannst schlafen, auf ewig. Sterben müssen wir alle. Die einen früher, die anderen später. – Und dein Mädchen? Und dein Kind? flüsterte es in meinem Inneren. Willst du sie wirklich allein lassen? Der Gedanke mobilisierte meine Lebenskräfte aufs Neue. Also, Geldschein verbrennen. Mit den Augen folgte ich seiner Leuchtspur.

Und wirklich! Unten drehte sich eine der Schneeraupen mit

ihrem Lichtkegel kurz in meine Richtung. Plötzlich war ich wieder ganz da. Vor lauter Hoffnung brüllte ich wild los:

Hilfe! Hilfe! Hier bin ich! Es kam aber nur ein heiseres Flüstern zustande.

Ich konnte es fast nicht glauben: Aber es musste denen etwas aufgefallen sein. Schnell den nächsten Geldschein hinterher. Bitte, bitte! Schaut in meine Richtung. Stellt den Motor ab!

Und wirklich: Ein Lichtkegel wanderte wieder in meine Richtung. Suchte am Lift entlang, sah mich aber nicht.

Hilfe! Ja, hier bin ich! Hier oben!

Mit meinen zitternden Händen fingerte ich den letzten Geldschein aus der Tasche. Der letzte Geldschein. Wenn sie den nicht beachten, dann bin ich geliefert. Ich küsste ihn, flüsterte ihm zu wie irre: Tu deine Arbeit! Mach sie gut! Bitte! Du bist ein ganzes Leben wert! Und er brannte, schwebte wie alle anderen, schickte Funken nach unten und zeichnete im Fallen eine dünne Leuchtspur.

Da drehten sich die Schneeraupen um, die Motoren wurden abgestellt und alle Lichtkegel wurden auf mich gerichtet.
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Ich konnte es nicht fassen.



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Kommentare zur Story:

  Also, Gott sei Dank, erlebt habe ich die Geschichte nicht.
Aber ich habe in unserer Zeitung eine ca. 10-zeilige Notiz
gelesen über jemanden, dem das passiert ist und der dank
seiner Geldscheine überlebt hat.  
   Renate Neff  -  16.02.12 00:30

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  Da musste ich doch auch mal diese tolle Story lesen. Sehr lebensecht das Ganze. Ich muss Dieter recht geben. Klingt als hätte jemand das erlebt oder vielmehr überlebt! Übrigens: ein exzellenter Schreibstil.  
   Gerald W.  -  15.02.12 21:55

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  Bin der gleichen Meinung wie Doska. So mitreißend geschrieben, dass mir ein Gänseschauer bei deiner Kälte kommen wollte. Der arme Kerl. Ich hätte da nicht hängen wollen. Ausgedacht oder erlebt?  
   Dieter Halle  -  14.02.12 19:37

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  Große Spitze. Deine Kurzgeschichte hatte mich so gepackt, dass ich am Schluss ganz befreit auflachen musste. Toller Schreibstil und trotz der Spannung auch amüsant.  
   doska  -  13.02.12 20:01

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Kommentar von "Marie" zu "optimistischer Pessimist"

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