Romane/Serien · Spannendes

Von:    Pia Dublin      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 28. April 2009
Bei Webstories eingestellt: 28. April 2009
Anzahl gesehen: 2332
Seiten: 19

Diese Story ist Teil einer Reihe.

   Teil einer Reihe


Ein "Klappentext", ein Inhaltsverzeichnis mit Verknüpfungen zu allen Einzelteilen, sowie weitere interessante Informationen zur Reihe befinden sich in der "Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht":

  Inhaltsangabe / Kapitel-Übersicht      Was ist das?


Point Hope





PROLOG



Er hat sein ganz persönliches Totem fertiggestellt, eine grobe furchterregende Holzfigur, mit roter und schwarzer Farbe bemalt. Er weiß sofort, wo er sie aufstellen soll im qalgi, im Zeremonienhaus der Tlingits, es gehört einfach in die schmale Lücke gegenüber der Tür. Dort wird er darüber wachen, wer hineinkommt und wer hinausgeht.

Während er den Jungs ein paar algagruun gibt, sie ihm aufmerksam zuhören und dann versichern, es beim nächsten Mal besser zu machen, kommt George Koonook zu ihm und sagt, dass er ein Geschenk für ihn habe. Er kann es kaum glauben, aber George hat ihm einen Welpen mitgebracht. Einen Malamute.

Er sagt: „Er heißt Malik. Er ist dein neuer Leithund.“

Er ist oft auf dem Eis der Südseite von Point Hope, längst erkennt er die Beschaffenheit des Eises auf einen Blick: sarrik, qinu, tuvaq, sikuliaq.

Ist er mit dem Kanu, dem umiaq draußen, sieht er voraus, wo sich qinu gebildet hat, das Eis, das stark genug ist, das Kanu fest und erbarmungslos einzukeilen und festzuhalten, aber nicht fest genug, um es betreten zu können.

Er ist zufrieden, wenn er in der Tundra oder auf dem Eis ist, das ist seine Heimat, die ihn beschützt. Nur nachts träumt er noch manchmal von den Dingen, die geschehen sind und dann weckt ihn Carla und flüstert: „Shshsht, schon gut, schon gut, du hast nur schlecht geträumt. Es ist alles in Ordnung.“

Er wird wohlmöglich nie wieder eine richtige Stadt betreten, nie wieder in einem Auto fahren oder einen Fahrstuhl betreten, einen Pizza-Service anrufen oder Sandstrand unter den nackten Füßen spüren, aber das ist in Ordnung.

Den Brief, den er von Nick bekommen hat, trägt er immer bei sich, ebenso wie das alte Foto seiner Familie und darauf kann er alles andere wieder aufbauen.



Kapitel 1 – Point Hope- Alaska

Nach drei Tagen und Nächten ließ der Schneesturm über Point Hope endlich nach. Die Menschen wagten sich wieder aus ihren Behausungen, daran gewöhnt, das die Natur alles tat, um die menschliche Ansiedlung wieder zurück ins Meer zu spülen. Alle gingen ihren Tätigkeiten nach und nur in wenigen Köpfen formte sich der Wunsch, Alaska den Rücken zu kehren, nur wenige konnten sich nach Monate der Dunkelheit, der Kälte und Einsamkeit nicht mehr daran erinnern, was es genau gewesen war, was sie hergetrieben hatte.
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Die meisten blieben, weil es trotz allen Umständen ein guter Ort zum Leben war.

Von der Küste aus konnte man bis nach Sibirien sehen an guten Tagen, konnte dort stehen und dem Feind winken, der hier nur Nachbar war. Die russischen Kutter und Frachtschiffe, die den Hafen von Point Hope anliefen, solange er eisfrei war, brachten Wodka und Lebensmittel im Tausch gegen alles andere, bevor sie sich wieder auf die Reise machten.

Bo Svensson, Officer in Point Hope aus freien Stücken, nein, Herrschaften, nicht strafversetzt, ehrlich, verließ seine Hütte morgens gegen neun und marschierte rüber in das Gemeindehaus. Er musste die Außentür aufschließen, war der Erste an diesem Morgen und in seinem Büro stellte er fest, dass das Telefon mal wieder tot war. Bo war fast fünfzig, sein eigener Herr am northern slope, und entschied sich erstmal einen Kaffee zu trinken. Es gab für ihn nicht wirklich etwas zu tun und eigentlich hätte er nicht mal früh aufstehen müssen, aber er mochte es, seinen festen Zeitplan einzuhalten.

Auf dem Weg zum Hydes traf er Ian, der vor etwa fünf Jahren mit einem der Handelsschiffe angekommen und geblieben war. Sie hoben die Hände, die in dicken Handschuhen steckten, zum morgendlichen Gruß.

Vor Point Hope gab es einen kleinen Flugplatz, ein selten genutzter Ersatz für feste Straßen, sah man von den Post- und Warenlieferungen einmal ab, denn Flüge bis ans Ende der Welt konnte sich kaum jemand leisten und auch das Wetter machte dem Flugverkehr von und nach Kotzebue meist einen Strich durch die Rechnung. Ian war auf dem Weg in den Hafen, hatte es aber nicht eilig. Wozu auch.

An diesem Ort der Welt schien die Sonne entweder den ganzen Tag oder gar nicht, allerdings mit geringen Abweichungen und fließenden Übergängen dazwischen. Ständige Begleiter waren nur der raue Wind und das ewige Bellen und Heulen der Schlittenhunde.

Carla erwartete die Kinder erst wieder für den nächsten Morgen, wenn man sich sicher sein konnte, dass ein letzter Ausläufer des Sturms sie nicht doch noch erwischte. Sieben der zehn Kinder waren Tlingits, deren Familien in Point Hope oder etwas außerhalb der Siedlung lebten, Carla unterrichtete sie in einem kleinen Raum des Gemeindehauses, konzentrierte sich weitgehend darauf, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, denn die meisten von ihnen würden kaum eine weiterführende Schule besuchen.
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Die drei weißen Kinder im Alter zwischen sieben und elf gehörten zu einer Forschergruppe, die das halbe Jahr vor Point Hope verbrachten, komische Untersuchungen durchführten und dann wieder heimreisten, um ihre Ergebnisse in nature zu veröffentlichen. Point Hope hatte ein paar Jugendliche, aber die vertrieben sich die Zeit auf ihren Ski-doos, waren arbeitslos und würden abwandern, wenn sie schlau waren.

Es war George Koonooks Aufgabe, die jungen Mädchen und Männer in der Gemeinde zu halten, ihnen die alten Riten und Überlieferungen zu vermitteln in der Hoffnung, sein kleiner Clan würde nicht ausbluten.

Carla brachte das Klassenzimmer in Ordnung, summte nebenbei zu den alten Songs der Radiostation. Unter dem Fenster hörte sie Ian mit seinem Motorschlitten, er tuckerte die Straße hinunter und verschwand in Richtung Hafen. Er holte Bauholz, lieferte Lebensmittel bei den Hydes ab und manchmal transportierte er auch die Postsäcke vom Flughafen. Die Schneemobile waren unerlässlich, wo es in Point Hope keine befestigten Straßen gab, selbst zwischen den Häusern verliefen nur schmale Holzstege. An die Schneemobile hängte man Schlitten und konnte Lasten transportieren. Im vergangenen Winter war Ian mit seinem Mobil verunglückt und hatte sich das Bein gebrochen, er hinkte noch immer ein wenig. Einer seiner Schlittenhunde hatte ihn vor dem Erfrieren gerettet.

Hätte Carla einen Blick aus dem Fenster geworfen, hätte sie ihn in seinem roten Parka und mit der blauen Wollmütze gesehen.

Nachdem der Sturm nachgelassen hatte, war er vor ihr aufgestanden, sie hatten sich an diesem Morgen noch nicht zu Gesicht bekommen.



Das Gemeindehaus stand im Zentrum von Point Hope und war das einzige mehrstöckige Gebäude am Ort. Carla hatte einen freien Blick auf den Hafen und auf den einzigen Laden direkt gegenüber. Kurz vor jedem Unterrichtsbeginn stand sie am Fenster und sah hinaus, wartete darauf, dass Ian vorbeifuhr; manchmal sah er zu ihr hinauf und winkte, während er mit einer Hand das Schneemobil lenkte. Praktisch gleich am ersten Tag hatte sie sich in ihn verschossen, es aber lange nicht gewagt, ihn anzusprechen, denn sie hatte sich damals geschworen, sich nicht mehr auf Männer einzulassen.
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Sie hatte ihre Gründe dafür gehabt.

Point Hope war angefüllt mit Aussteigern und Idealisten, mit verkrachten Existenzen und einigen harmlosen Spinnern; die wenigen Frauen, die es hier her verschlagen hatte, waren nicht anspruchsvoll. Ian war ein netter hilfsbereiter Kerl, über den man nichts Schlechtes sagen konnte und es lief ganz gut zwischen ihnen. Roberts, der alte Knochenflicker, behauptete zwar, sie sei ein viel zu nettes Persönchen für einen Herumtreiber wie Ian, aber solche Sprüche gab er ständig von sich. Er war der einzige Arzt und ein gut beschäftigter Mann, nicht einmal Officer Svensson mit dem komischen norwegischen Akzent brachte es annähernd auf die Arbeitsstunden. Es gab weder Verbrecher noch Verkehrssünder, ab und zu löste der Alkoholkonsum Schlägereien aus, aber sowas hatte er schnell im Griff. Roberts versorgte jede Wunde und jedes Zipperlein. Bei Svensson gab es manchmal Krach wegen der Hunde oder wenn die Jugendlichen etwas angestellt hatten, ab und zu beschwerten sich die Polarforscher bei ihm, dass wieder irgendwelche Messgeräte geklaut worden seien. Meist waren es die Tlingitkinder, die beim Spielen die Sonden und Sender entdeckten und einfach mit nach Hause nahmen, dann bedurfte es nur einen kurzen Besuch bei den Familien, um den teuren Spielkram wiederzubeschaffen. Diese ungewollten Diebstähle hatten allerdings aufgehört, nachdem die Forscher die Kinder in ihr Camp eingeladen und ihre Arbeit erklärt hatten. Dazu hatten die Frauen in Hydes Laden soviel Süßigkeiten gekauft und an die Kinder verteilt, dass diese noch Wochen später davon träumten.

Point Hope hatte viele Saisonbewohner, die nur für einige Monate im Jahr nach Hause kamen, Seeleute, die ihr Geld auf den großen Handelsschiffen verdienten und irgendwo ein festes Heim brauchten. Die Tlingits waren die einzige Konstante in Point Hope.

In Hydes Supermarkt trank Ian einen Kaffee und genehmigte sich einen Donut dazu, störte sich nicht daran, dass seine Finger ungewaschen waren. Er rieb sich die Augen mit den Fingerspitzen und stöhnte, worauf der alte Percy Hyde ihn von unten her musterte und unaufgefordert Kaffee nachschenkte.
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„Harte Nacht gehabt?“

„Lass dem Mann seine Privatsphäre“, rief seine Frau zwischen den Regalen hervor.

„Zwei Stunden hab ich geschlafen“, sagte Ian und grinste, „und das war schon viel für den Wochendurchschnitt.“

„Nimm noch etwas Zucker in den Kaffee. Zucker ist gut für die Nerven.“

„Nicht für meine.“

Ian trank den Kaffee, wie er gerade in seiner Tasse landete, mal mit Milch, mal schwarz oder mit Zucker, er war nicht anspruchsvoll, solange es starker Kaffee war.

Percy Hyde, Ende sechzig und nicht mehr so rüstig, wie er gerne vorgab, klopfte mit den Handflächen auf die Theke und ging zurück an seine Arbeit.

Nachdem Ian am Hafen zwei Kartons abgeholt und ausgeliefert hatte, gab es für ihn nichts mehr zu tun. Er konnte nach Hause fahren und versuchen den Schlaf nachzuholen, aber er blieb im Hydes sitzen und wartete auf die stündlichen Nachrichten im Radio. Helen Hyde fragte ihn, ob er ein paar Kartons aus dem Lager holen könne, die Konserven seien zu schwer für ihren Rücken. Er trug ihr die Konserven, ging ihr beim Einsortieren in die Regale zur Hand.

„Hast du deine Hunde schon abgeholt?“ fragte sie, eine Faust in die füllige Seite gestemmt.

„Noch nicht“, sagte Ian.

„Es ist eine Schande, dass du Duke verloren hast.“

Duke war ein Malamute, der ihn vor dem Erfrieren bewahrt hatte, einundzwanzig Stunden lang. Ian seufzte statt einer Antwort. Officer Svensson kam herein, rief ein „Morgen zusammen“ und steuerte auf die Ecke mit den Plastikplanen und Holznägeln zu, brummte nur, als Percy hinter der Theke wissen wollte, was er vorhabe.

„Ich muss was absperren“, erklärte er dann, „der dumme Junge der Myers hat etwas hinter dem Hafen gefunden.“



Das Polizeiabsperrband, das Svensson zum allerersten Mal zum Einsatz gebracht hatte, flatterte im heftigen Wind, hatte sich an einer Seite bereits gelöst und drohte davon zu wehen. Das eingezäunte Areal war nicht größer als drei mal drei Meter, auf dem ersten Blick war nichts weiter zu sehen als Schnee und Eis auf dem freien Gelände abseits der Häuser.

Die Hydes und Ian hatten Bo Svensson begleitet, halfen ihm, die Nägel einzuschlagen, was im Permafrost nicht ganz einfach war.
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Um die Nägel knoteten sie neues Absperrband, die mitgebrachte Plane legten sie über den abgesperrten Boden, wobei Svensson ihnen sagte, sie sollten keinen Fuß hineinsetzen, nur die Plane auslegen und die Ränder in den Schnee drücken, während er mit weiteren Nägeln und Hammer hantierte.

Der April in Point Hope war die Zeit des Übergangs zum kurzen Sommer hin; etwa um sieben ging die Sonne auf und verschwand so gegen neun Uhr abends, aber bereits im Juni ging sie nur noch für knappe zwei Stunden richtig unter. Der November, der schon wieder weit hinter ihnen lag, beglückte sie mit drei Stunden Helligkeit am Tag und mit Temperaturen, die bis -30°C runtergehen konnten. Der Sturm, der über sie hinweggefegt war, hatte das Thermometer auf -10°C sinken lassen, aber es wurde bereits wärmer, der dicke Eispanzer vor der Küste wurde dünner.

„Was ist da drunter?“ fragte Helen Hyde, hielt die Plane, während Bo die Nägel in Plastik und Eis schlug, die Kapuze ihres Anoraks drückte sich im Wind gegen ihren Hinterkopf. Sie dachte an so etwas wie Walknochen, die Jimmy Myers gefunden haben konnte, aber Walknochen hatten sie genug in Point Hope. Draußen an der Küste waren Walskelette von den Tlingits aufgestellt worden, Rippen hoch wie Häuser senkrecht in den Boden gerammt. Vielleicht Dinoknochen. Um Wale (erst recht um tote) machte niemand einen Aufstand.

Svensson schlug den letzten Nagel auf den Knien hockend ein, langte über das Absperrband und schob mit der ausgestreckten Hand Schnee unter der Plane beiseite.

„Das da“, sagte er mit tonloser Stimme, das Gesicht zu Percy und Ian gewandt. Er blinzelte in den Wind.

Was da durch den Schnee schimmerte, waren keine Dinosauriereier oder seltene Steine, es war der Schaft eines Stiefels, von der Sorte dicker isolierter Boots, die hier jeder an den Füßen hatte.

„Der kleine Myers hat ihn gefunden?“ fragte Ian, beugte sich nach vorn, um den Stiefel zu begutachten.

„Bo“, sagte Percy zaudernd, „sag mir nicht, dass da noch jemand drinsteckt. In diesem Stiefel.“

„Ich hab das Stück Bein gesehen, tief gefroren, aber eindeutig ein Bein.“

Bo Svensson schlug sicherheitshalber noch zwei Nägel ein, als bespanne er einen widerborstigen Polstersessel, richtete sich dann auf.
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„Wenn wir da eine Leiche haben, sollten wir sie nicht irgendwohin bringen?“

„Percy Hyde, du wirst doch keine Leiche anfassen wollen“, zeterte Helen und stupste ihren Mann hart an.

„Wir sperren die Fläche ab und warten, bis die Behörden irgendjemanden herschicken. Der läuft uns nicht weg.“

„Mich interessiert viel mehr, wer das da überhaupt ist“, sagte Percy, „haben wir einen Vermissten?“

Bo sah Ian an und schüttelte den Kopf.

Schneller als ein Grippevirus war die Neuigkeit herum und besonders die Kinder pilgerten immer wieder zu dem Fundort, um in den Schnee zu starren. Sie standen mit traurigen Gesichtern vor dem abgesperrten Stück und obwohl dort von seinem Leichnam nichts zu sehen war, verlor der Fundort sehr lange nichts von seiner Anziehungskraft. Carla beantwortete ihre Fragen so gut sie konnte und einige der größeren Kinder lieferten sich heftige Diskussionen. Einer der Jungs sagte, sein Großvater habe auch eines Tages tot im Schnee gelegen, aber sie hätten ihn einfach genommen und beerdigt. Er wollte wissen, weshalb man jetzt erst noch die Polizei, die richtige Polizei holte. Sein Kontrahent erwiderte, es sei ein Fremder und den könne man nicht einfach so beerdigen wie einen alten Opa und außerdem habe sein halber Kopf gefehlt. Carla konnte das nur als Vermutung und Gerücht abtun, aber auch sie fragte sich, ob mit dem Toten sonst noch etwas nicht stimmte.

Einen Nachmittag entdeckte sie Jimmy Myers heulend in der Nähe der Fundstelle auf einem Felsbrocken, auf dem er sich die Blase verkühlen würde und Carla nahm ihn an die Hand, brachte ihn ins Hydes, um Ian zu fragen, ob er ihn nach Hause fahren könnte.

Jimmy hatte eine Rotzfahne, beruhigte sich langsam und ließ sich ergeben die Nase putzen und das Gesicht abwischen. Während Helen ihn mit Lakritze fütterte, nahm Carla Ian beiseite und flüsterte: „Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte da draußen? Eines der Kinder befürchtet, der Weihnachtsmann könnte gestorben sein.“

Carla sah zu Ian hinauf, die Augenbrauen hochgezogen.

„Vielleicht ist es auch bloß ein Eisbär, der sich einen herumliegenden Stiefel angezogen hat.“

Carla sah ihn an, in einer Mischung aus Tadel und Belustigung, machte eine Geste in Jimmys Richtung.
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„Fahr ihn nach Hause. Wir sehen uns dann heute Abend.“

Der Himmel war strahlend blau. Die Sonne ließ die Temperaturen klettern, auf den höher gelegenen Ebenen schmolz der Schnee, legte hier und da die weiten Wiesen der Tundra frei, die schnell aufblühten und die Karibus anlockten.

Jimmy klammerte sich wie ein Äffchen an Ians Rücken, als er ihn mit dem Ski-doo nach Hause brachte, jedes andere Kind hätte seinen Spaß bei der Fahrt gehabt, aber Jimmys Mutter hatte ihrem Sohn eingetrichtert, er würde sich ganz fürchterlich wehtun, wenn er von einem Motorschlitten fiel und er bibberte vor Angst.



Begünstigt durch das gute Wetter kam das Flugzeug mit dem Ermittlungsbeamten gerade noch rechtzeitig, bevor der Körper des Toten vom Eis befreit war. Um das zu verhindern, hatte Svensson immer wieder eimerweise Eis und Schnee nachgepackt, wie ein Fischverkäufer auf einem städtischen Wochenmarkt. Der Polizist, der aus der Piper Navajo stieg, sah sich zunächst nur irritiert um, wurde von Svensson begrüßt und sagte, er wolle als erstes die Barracke sehen, in der er untergebracht war. Es gab kein Hotel oder Bed&Breakfast in Point Hope.

„FBI“, sagte Svensson ehrfürchtig, „hätte nicht gedacht, dass wegen einer einzigen unbekannten Leiche gleich die Behörde ans Ende der Welt kommt.“

„Um ehrlich zu sein, Officer, haben wir gewürfelt, wer nach Point Hope fliegt und ich war der Verlierer. Agent Nick Reining.“

„Herzlich willkommen, Agent Reining, trotzdem – herzlich willkommen. Bo Svensson.“

Officer Svensson packte den schweren Koffer des FBI Agenten und schleppte ihn bis zum Schneemobil am Ende der Lande- und Startbahn. Er warf einen vorsichtigen Seitenblick auf den Anzug und die Schuhe des Mannes und sagte: „Ich werde mich auch darum kümmern, dass sie bei uns nicht erfrieren, Sir.“

Reining hatte sich nach einigen Telefonaten das Hotel und den dazugehörigen Service angeschminkt und hatte sich während des Fluges die ganze Zeit gefragt, was wohl „Hütte“ und „Barracke“ zu bedeuten habe. Die Barracke, die von außen kaum bewohnbar aussah und vor der sie jetzt standen, rüttelte deutlich an seinem Verständnis.

„Was ist das?“ fragte er und betonte dabei jede Silbe, „eine Lagerhalle? Bitte sagen sie mir, dass sie hier die Leiche drin haben, die sie mir erst mal zeigen wollen.
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Schon die kurze Fahrt mit dem Schneemobil war ihm komisch vorgekommen, seine Nerven waren angespannt und gereizt nach den neunzehn Stunden von Atlanta nach Point Hope.

In Seattle, Anchorage und Kotzebue hatte er Zwischenstops eingelegt, war dabei von Boing der Continental Airlines auf Piper der Bering Air umgestiegen und fühlte sich danach wie mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. In Flugzeugen konnte er weder entspannen noch schlafen, also hatte er sich ein wenig über Alaska informiert und was er da in den Reiseführern und Prospekten fand, ließ seinen Mut sinken. Er hasste die Einöde. Er wollte keine Bekanntschaft mit Moskitos machen, die so groß waren wie junge Hunde. Nick Reining war Stadtmensch, er brauchte Lärm unter dem Fenster, um einzuschlafen und Feuerwehrsirenen am Sonntagmorgen. Diesen Trip würde er so schnell wie möglich hinter sich bringen, denn im Grunde interessierte es niemanden, wer der Tote in Point Hope war und was ihn in Jenseits befördert hatte. Solange er nicht über die Beringstraße gekommen war. Stellte er einen Unfall als Ursache fest, konnte er bereits morgen wieder abreisen. Lästige Routinearbeit.

Wanzenjagd, wie Hudson gesagt hatte. Agent Reining liebte den Film Aliens unter den Gesichtspunkten des Aufräumens.

Während des Fluges mit der Bering Air hatte er sich die ganze Zeit mit dem Piloten unterhalten, der schon jede erdenkliche Route geflogen war und behauptete, in Alaska zu fliegen sei das aufregendste, was er je gemacht habe. Es schien ihm Spaß zu machen, seine Passagiere in Angst zu versetzen, in dem er von schlagartig umschlagendem Wetter und Schneestürmen erzählte, in denen er fast mit seinem Flieger abgestürzt war. Als er von seinen Flügen in Südamerika berichtete, die er in den 70ern gemacht hatte, brauchte Reining nur kurz anzudeuten, dass er vom FBI war und schon hatte er seine Ruhe.

„Von außen dürfen sie die Hütte nicht beurteilen, Sir“, sagte Svensson, öffnete die unverschlossene Tür und trat als Erstes ein, „sehen sie sich um. Das bekommen sie in keinem Hotel der Welt.“

Aber dort haben die Türen wenigstens ein Schloss, dachte Reining.

Bei eingeschaltetem Licht sah die Hütte wohnlich aus, gediegen mit dem Charme einer Holzfällerunterkunft.
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Die Wände waren mit Holzpaneelen verkleidet, einige indianische Webarbeiten hingen von der Decke herab. Der schwarze Leuchter unter der Decke war ein wahres Monstrum, einige der Birnen durchgebrannt und nicht ausgewechselt. Der runde Kanonenofen an der imitierten Backsteinmauer würde ihm vermutlich beim ersten Benutzen um die Ohren fliegen.

Die Polstermöbel mit hohen Rücken und Armlehnen erinnerten an die sechziger Jahre, der Bezug an die siebziger. Nun, wie gesagt, das hier war das Ende der Welt und Polstermöbel mochten bei ihren Wanderungen sehr langsam vorankommen. Er fand die Gegenwart des Kühlschranks komisch und fragte danach.

„Sie können es auch alles draußen in den Schnee legen“, sagte Svensson, „aber dann füttern sie die Bären damit.“

Im Kühlschrank fehlte nichts, er war frisch aufgefüllt worden von Helen Hyde und er würde nicht verhungern. Zumindest eine gute Nachricht. Er drehte sich vom Kühlschrank weg und fragte: „Gibt es hier wenigstens ein Restaurant oder ähnliches?“

„Offiziell ist es kein Restaurant, aber Helen Hyde kocht jeden Mittag unter der Woche für die Schulkinder und ich kann sie gerne fragen, ob sie sie mit einplant. Sie ist eine hervorragende Köchin.“

„Ich komme gern darauf zurück“, sagte Reining, „jetzt würde ich mir gern die Leiche ansehen.“



Ian kaufte einem Russen, der wie ein Fünfzehnjähriger aussah, noch auf dem Landungssteg zwei Flaschen Wodka ab und drohte ihm gut gelaunt Prügel an, solle er von dem Gesöff blind werden. An diesem Mittag trug er nur eine alte Jeans und ein T-Shirt mit Jack-Daniels-Werbeaufdruck. Bereits jetzt waren die ersten Mückenschwärme unterwegs. Das beiläufige Schlagen auf Hals und Arme würde schnell wieder zur gewohnten Bewegung werden.

Eigentlich war es den Besatzungen der russischen Eisbrecher nicht gestattet an Land zu gehen, aber kaum jemand hielt sich an dieses Verbot. Ian gab dem Russen noch eine filterlose Zigarette aus und salutierte zum Abschied. Die Flaschen hatten keine Labels, aber der Selbstgebrannte, den die Russen handelten, war von guter Qualität. Während der Sommermonate konnte Ian seinen Wodkaverbrauch einschränken, da trank er nur ab und zu einen Schluck mit Carla, aber wenn die Sonne gar nicht mehr richtig aufging, wurde es heikel.
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Manchmal konnte er dann kaum noch Schneemobil fahren.

Vor dem kleinen Laderaum am Hafen stapelten sich ein paar Holzkisten, die an den Officer adressiert waren, Ian schob sie mit dem Fuß an, um zu prüfen, wie schwer sie waren. Von dem Schiff, das wie ein altes rostiges Hochhaus im Hafen lag, klang russische Volksmusik und das Lachen und Grölen der Seeleute. Sie feierten selten an Land, das überließen sie den anderen, die in Point Hope einliefen, den Isländern und Japanern. Mit den Wodkaflaschen, in jeder Hand eine, marschierte Ian in Hydes Laden.

„Irgendjemand lässt seine Hunde nachts herumlaufen“, rief Helen, „unsere Mülltonnen sind wieder umgekippt und geplündert. Percy meinte schon, wie hätten wieder einen Bären, aber das glaube ich nicht. Es sind nur wieder die Hunde.“

„Ich werde die Augen offen halten.“

„Hast du den Mann vom FBI gesehen? Bo hat ihn heute vom Flugzeug abgeholt.“

„Bin ihm noch nicht begegnet.“

Die farblose Flüssigkeit hinterließ an den Flascheninnenseiten einen öligen Film, was Ian überlegen ließ, wem er das Zeug als Erstes anbieten sollte, um sich nicht selbst zu vergiften. Über das FBI verlor er keinen weiteren Gedanken.

Die Vorbereitungen zur ersten Jagd des Frühjahrs nahmen ihn sehr in Anspruch, dass er keine Lust hatte, sich auch noch mit dem Eismann zu beschäftigen und mit dem Stress, der um ihn gemacht wurde. Die Tlingits nahmen die festen Rituale der Jagd sehr ernst und Ian war seit Jahren darin eingebunden, da blieb ihm für andere Dinge keine Zeit. Und außerdem hatte George noch immer seine Hunde und er musste bald wieder mit dem Training beginnen.



Agent Reining stand abwartend vor dem Toten, betrachtete die Fußspuren, das schändlich vernachlässigte Absperrband.

„Ich wollte ihn nicht ausgraben lassen“, beeilte Svensson sich zu erklären, „ich dachte dabei an die Spuren, die man dabei vernichten könnte.“

„Hier kommen viele Leute vorbei.“

„Die Kinder sind immer mal wieder hergekommen.“

„Sie haben Kinder an den Toten gelassen?“

Bo zuckte mit den Schultern.
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Er trug nur eine Windjacke über seiner Uniform, die nachlässig und verwaschen aussah und Reining an den Mangel von chemischen Reinigungen denken ließ; er selbst fror noch immer, obwohl er eine Thermojacke mit Pelzkragen trug, nagelneu aus Hydes Laden.

„Jeder weiß, dass er hier liegt, es war nicht geheim zu halten. Aber ich schwöre, dass niemand unter die Folie gesehen hat.“

Im Augenwinkel sah Reining jemanden im T-Shirt durch den Hafen marschieren und fuhr innerlich zusammen. Die Mücken und die Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt nahmen ihm die Konzentration und die Tatsache, dass die Leiche hier fast schutzlos unter freiem Himmel lag, machte ihn unleidig.

„Gibt es keinen Kühlraum, in den sie ihn hätten stecken können? Ich will nicht hoffen, dass die Hunde ihn angeknabbert haben.“

Officer Svensson folgte den Blicken des FBI Mannes und sah Ian mit zwei Flaschen von dem russischen Schiff kommen. Ein alter Eisbrecher, die einzigen Schiffe, die im Moment im Hafen einlaufen konnten.

„Hier bei uns läuft alles etwas anders, daran müssen sie denken, Sir. Ich hab keine Erfahrung in Sachen Spurensicherung und es sprach nichts dagegen, die Leiche hier zu lassen, wo sie schon seit Monaten gelegen hat.“

„Seit Monaten?“

„Den ganzen Winter, denke ich.“ Svensson kratzte sich den Schädel. „Erst, als das Eis in den letzten Tagen abgeschmolzen ist, kamen seine Haare am anderen Ende zum Vorschein, vorher war nur ein Stiefel zu sehen. Ein Junge aus dem Forschercamp hat ihn entdeckt, einen Tag nach dem Sturm.“

Gut, dass ich den Sturm hier nicht miterlebt habe, dachte Reining. Er stopfte die Hände in die Jackentaschen, zog dabei die Schultern hoch.

„Die Untersuchungen kann ich nicht unter freiem Himmel abhalten, also werde ich unseren unbekannten Freund aus seinem Eisblock schlagen und ihn irgendwo unterbringen. Lassen sie sich was einfallen. Keine Kinderbesuche mehr. Okay?“

„Brauchen sie einen Kaffee?“ Bo Svensson hatte Mitleid mit dem verfrorenen blassen Gesicht des Mannes, dessen Mimik nur ausdrückte, dass er sich ganz weit weg wünschte. Er hatte diese spezielle Grimasse schon in vielen Gesichtern gesehen und meist schon Wochen später waren diese Gesichter aus Point Hope verschwunden.

Agent Reining nickte ergeben.
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In Hydes Laden wurde er vorgestellt und genoss den handgebrühten Kaffee. Er lächelte, als Helen ihm zurief, die Jacke würde ihm gut stehen und dass sie ihn „junger Mann“ nannte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals besseren Kaffee getrunken zu haben und es störte ihn schon gar nicht mehr, dass er die neugierigen Fragen der Einheimischen beantworten musste. Die Alten fragten nach seiner Ausbildung und seinem Werdegang, die Jüngeren interessierten sich brennend dafür, ob er schon mal eine wirklich ekelige Sachen erlebt habe bei seiner Arbeit. Sie wollten etwas hören von Leichenteilen, von aberwitzigen Verbrechen und schaurigen Fundorten, die üblichen Fragen, auf die die üblichen Antworten folgten. Dann wollte Percy Hyde wissen, weshalb er allein nach Point Hope gekommen war.

„Es besteht noch immer die Möglichkeit Verstärkung anzufordern. Sollte sich die Sache als Unfall herausstellen, kann ich die Akte schnell schließen und bin wieder verschwunden.“

Hoffentlich, setzte er in Gedanken hinzu.

Officer Svensson zuckte kurz und unauffällig mit den Mundwinkeln. Es gab da etwas, was er niemandem in Point Hope gesagt hatte. Kurz nachdem Jimmy ihn alarmiert hatte, hatte er einen kleinen Teil der Leiche freigeschaufelt – sein eisiges Gesicht hatte ihn angestarrt, und dieser erstarrte Blick war schlimmer gewesen als das Einschussloch in der Brust des Mannes. Aus seiner Sicht war das keine natürliche Todesursache oder ein Unfall, selbst ohne viel Erfahrung in Spurensicherung. Deshalb hatte er seine Vorgesetzten angerufen und um Unterstützung gebeten. Nur, weil er den Kerl nicht hatte umdrehen wollen, konnte er nicht sagen, ob die Kugel noch steckte oder durchgeschlagen war. Nun, selbst wenn er ihn hätte umdrehen wollen, hätte es nicht geklappt. Der Eismann war eingefroren in der Eisschicht des langen Winters.

Zumindest schien dem Agent der Kaffee zu schmecken; sollte er die Schusswunde entdecken und sich darauf einstellen, noch etwas länger zu bleiben. Um wieder von den Gruselgeschichten der Jugendlichen wegzukommen, rief Percy Hyde: „Wie auch immer, Sir, in unserem Laden bekommen sie alles, was sie brauchen. Wir sind auf alles eingerichtet. Aspirin, Hundehalsbänder, Trockenhauben, Gummistiefel, Pflaster, Konserven aller Art. Wenn sie Glück haben, bekommen sie sogar frisches Obst.
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Die Metallglöckchen über der Tür schlugen an, Ian kam herein, in T-Shirt und mit Wollmütze auf dem Kopf, steuerte auf das Regal mit den Konserven zu. Er nahm einen Armvoll heraus und rief zu Percy hinüber: „Sechs mal Ravioli und zweimal Hamburger in roter Sauce.“

Hyde nickte, suchte nach Block und Bleistift und notierte in unsicheren Buchstaben, die wohl niemand außer ihm entziffern konnte.

Ian plant ein Festessen, dachte er.

Nick Reining drehte sich halb zu Ian herum, aber da war dieser bereits wieder aus seinem Blickfeld verschwunden.

„Wenn sie irgendwas transportiert haben wollen, Sir, kann Ian ihnen helfen. Er handelt auch mit den Seeleuten, also, egal, was sie brauchen, kommen sie zu uns oder zu Ian. Sein Haus ist das vorletzte die Straße runter.“

Ian zeigte auf Helens Angebot keine Reaktion, schob mit dem Rücken die Ladentür auf und verschwand mit dem Arm voll Dosen.

Nicht sehr gesprächig, dachte Nick Reining.

Der Officer schien sich entschuldigen zu wollen.

„Er ist nicht immer so unfreundlich, Agent Reining“, und Helen Hyde meldete sich zu Wort: „Er schläft nicht besonders gut.“



Ian und Carla aßen gemeinsam zu Abend, im Hintergrund lief der Fernseher. Sie hatte die Kaninchen zubereitet, die er mitgebracht hatte und war zufrieden, dass er dem Essen mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Fernsehprogramm. Sie hatte ihr langes glattes Haar zu einem Zopf geflochten, der über ihrer rechten Schulter hing.

„Setz dich endlich“, sagte Ian.

Sie lief immer wieder in die Küche, um nach der Nachspeise zu sehen.

„Das FBI war heute in der Klasse“, rief sie und Ian hatte sofort den anzugtragenden Kerl vor Augen, in einer der Katalogthermojacken der Hydes. Breites Kreuz in Maßanzug, ein viel zu ordentlicher Haarschnitt, soweit er ihn im vorbeigehen gesehen hatte. Brauchte gar nicht erst seine Marke auszupacken, um sich auszuweisen.

„Was wollte er denn?“

„Hat sich mit Jimmy Myers unterhalten. Sehr nett und freundlich. Ich dachte erst, er würde ihm Angst machen.“

Carla erschien in der Tür, zwei Teller balancierend. Es roch nach gebackenen Äpfeln mit Zimt in Bierteig. Für Äpfel bezahlte man in diesem Teil von Alaska soviel wie in New York für hundert Gramm Heroin.
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„Aber er hat ihn vor sich auf den Tisch gesetzt, ihn ernst angesehen und gesagt...“

„Vor der ganzen Klasse?“

„Die anderen hatte er rausgeschickt.“

Die Teller waren heiß. Carla ließ sie von dem Küchentuch rutschen, schob die Kuchengabeln zurecht und goss den Kaffee nach. Ian hatte seinen Teller restlos abgeräumt.

„Er hat zu Jimmy gesagt: ‚Das ist jetzt ein Gespräch von Mann zu Mann und du brauchst keine Angst zu haben.’ Er hat sich vor ihm hingesetzt und erzählt, wo er sonst arbeitet. Und Jimmy sollte erzählen, was seine Eltern machen und ob es auch Gameboys in Point Hope gibt. Es war richtig interessant, ihn dabei zu beobachten.“

Sie setzte sich, teilte ein Stück Apfelscheibe ab und schob es auf dem Teller hin und her, während Ian schon die Hälfte gegessen hatte und mit Kaffee nachspülte.

„Glaubst du, man wird beim FBI geschult, um so mit Kindern umgehen zu können?“

„Nein“, murmelte Ian, „bestimmt nicht.“

Er streckte stöhnend sein rechtes Bein aus und verlagerte sein Gewicht von einer Arschbacke auf die andere.

„Der Apfel hat mich erledigt, restlos.“

„Danke für das Kompliment. Wieder dein Bein, Ian? Ich hab noch ein paar von den Tabletten, wenn du welche brauchst. Agent Reining sagte, dass Jimmys Aussage nicht viel Gewicht habe, aber er müsse jeder Spur...“

Er sah sie an, als habe sie etwas Falsches gesagt; sonst hatte er keine Probleme, ihr von einem zum nächsten Thema zu folgen. Er folgte ihren Gedankensprüngen und machte nicht so ein Gesicht.

„Was ist?“

Er starrte sie noch immer an, aber sein Blick war nach innen gerichtet, als überlege er wegen der Frage, die er stellen wollte, dann kam nur heraus: „Ich bin gleich wieder da.“

Er nahm seine Jacke und die Taschenlampe und war weg. Carla blieb sprachlos am Tisch sitzen, sah in den Fernseher und dann zur Tür und vergaß den Nachtisch auf ihrem Teller. Von draußen hörte sie das Schneemobil, dann riss Ian die Tür wieder auf, stand im Rahmen und rief: „Wo hat Bo ihn untergebracht?“

Carla war zusammengezuckt beim Aufreißen der Tür; sie starrte Ian entgegen. Nach Jimmys Befragung hatte sie sich noch mit Agent Nick Reining unterhalten, wie man sich mit Neuankömmlingen unterhielt und er hatte ihr lachend von seinen ersten Eindrücken berichtet.
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Beichten, hatte er es genannt.

„Bei Sergej“, antwortete sie.

Er verschwand wieder und ließ sie verwirrt zurück.

Ich hätte fragen sollen, was los ist, aber hätte er es mir erklärt? Vermutlich nicht.

Zu viele Fragen auf einmal hatte er noch nie leiden können, gewöhnlich verstummte er einfach und machte sich aus dem Staub.

Sergej kam erst zum Ende des Sommers zurück, wenn überhaupt, und es machte ihm nichts aus, wenn sich jemand in seiner Bude häuslich einrichtete. Er war ein freier Mann auf den Weltmeeren und ohne große Besitzansprüche.

Point Hope hatte nur eine Straße, die dieser Bezeichnung gerecht wurde, aber eine Straßenbeleuchtung gab es trotzdem nicht. Über einzelnen Hauseingängen waren Lampen angebracht, die bei Bedarf eingeschaltet wurden, aber die blieben aus, wenn der Bewohner nicht zu Hause war oder es nicht für nötig hielt, sie einzuschalten. In den Sommermonaten, die gerade anbrachen, wurde auch die Nacht nicht vollkommen dunkel, aber dunkel genug, um im nächsten Graben zu landen, wenn man die Lichter des Ski-doos nicht anmachte. Ian hätte laufen können, aber sein Bein tat wieder weh und einen Sturz auf dem Schnee wollte er nicht riskieren, also schwang er sich auf sein Schneemobil. Sergejs Barracke lag etwas zurückgesetzt zwischen Gemeindehaus und Albie Newton. Albies Hütte war stets zweifelsfrei zu identifizieren, er hatte das ganze Jahr über blinkende Weihnachtsbeleuchtung an seinen Fenstern. Wenn er nicht noch munter herumlaufen würde, hätte man meinen können, er sei um Weihnachten herum gestorben und niemandem sei es aufgefallen.

Der Motor des Ski-doos schaltete sich ab und Ian brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln. Er wusste nicht mehr, was er hier wollte, zitterte, aber nicht wegen der Kälte. Humpelnd trat er vor Sergejs Tür, klopfte an und horchte mit angehaltenem Atem und gesenktem Kopf. Seine Schulter begann zu pochen, was ein richtiger Brüller war, wenn er darüber nachdachte. Die Stimme rief ihn herein, er schwang die Tür auf und trat sich automatisch den losen Schnee von den Stiefeln.
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Sollte er sich verhört haben, war alles in Ordnung, dann konnte er sich mit einem Höflichkeitsbesuch herausreden und seine Hilfe anbieten. Eine Einladung zu einem Bier, eine Gelegenheit, um überflüssige Fragen über das beschissene FBI zu stellen.

Agent Reinings Fernseher lief ebenfalls, das gleiche Programm war eingeschaltet und er war dabei, seine Sachen auszupacken. Auf dem Tisch standen ein leeres Wasserglas und eine Flasche Whiskey, ungeöffnet.

„Ja?“ sagte Reining knapp.

„Ich wollte nur...“

Grab’s nicht aus. Grab bloß die alten Geschichten nicht aus. Was so lange so tief vertraben war, vergiftet dich, wenn du es der Sonne aussetzt.

„Ian?“

„Heilige Scheiße“, sagte Ian, drehte sich um und rannte nach draußen.

Sein Schädel dröhnte so sehr, dass er nicht einmal sein Bein mehr spürte, der alte Bruch, der sich immer wieder meldete. In der schmalen Einfahrt fiel er über das Schneemobil, stieß sich böse die Schienbeine an, fluchte und humpelte weiter; noch bevor er den Motor des Mobils wieder anwerfen konnte, erschien Nick Reining in der Tür vor Sergejs Hütte. Soweit man sein Gesicht im Halbschatten sehen konnte, war er fassungslos.

„Willst du nicht wieder reinkommen?“ rief er endlich, „du kannst mir hier doch nicht einfach wegrennen.“

Ian reagierte nicht, er konnte nicht antworten. Die Luft schien zu kalt zum atmen, das Bein, das ihm noch immer ab und zu weh tat, obwohl Doc Roberts behauptete, er würde sich das einbilden, knickte unter ihm weg.

„Ian?“

Reining hörte ihn hinfallen und angestrengt nach Luft keuchen, wie bei einem Asthmaanfall.

„Brauchst du Hilfe?“

„Nein. Mach die Tür hinter dir zu. Sonst hast du die Bude voll mit Mücken.“

In der Ferne begann ein Hund zu heulen, ein zweiter stimmte ein und es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigten.

„Sind das Wölfe?“ Hinter sich zog Reining die Tür ins Schloss.

„Schlittenhunde. Ich hab auch drei. Eigentlich vier, aber einer ist verschwunden.“

„Wie bist du hier gelandet?“

Ian kämpfte sich am Ski-doo hoch, schwang das zitternde Bein über den Sitz und tastete in der Dunkelheit nach dem Zündschlüssel, um statt einer Antwort auf die Straße zurückzusetzen.
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Dort schaltete er das Licht ein und verschwand.



Reining konnte nach dieser Begegnung nicht schlafen, nicht nur, weil er die halbe Nacht damit zubrachte mordsmäßig große Mücken an die Wand zu klatschen.





***

Der alte Duke heulte die ganze Nacht und Ian versuchte vergeblich ihn zu finden. Duke war sein erster Malamute gewesen, kein Husky wie die anderen, einen besseren Gespannführer hatte die ganze Region nicht gesehen. George Koonook hatte ihn als Welpe aus Kotzebue mitgebracht und schon zu dem Zeitpunkt gemeint, der Hund sei nicht wie alle anderen. Er wollte ihn für sich behalten, aber Duke kroch bei jeder Gelegenheit zu Ian.

Ein guter Hund sucht sich seinen Herrn selbst aus, hatte George gesagt.

Ian erwachte vom Geruch nach Kaffee und Toast, er lag verkrümmt im Sessel vor dem Fernseher.

„Wenn ich stark genug wäre, hätte ich dich ins Bett getragen.“

Sie machte Toast mit Honig, während Ian draußen in den Schnee pinkelte. Für ihn gab es nichts Besseres, um richtig wach zu werden und die Geister zu vertreiben. Die unruhige Nacht sah man ihm nicht an.

Es geschah nicht oft, dass Carla ihn mit Frühstück versorgte, selbst an Wochenenden nicht. Sie war da, weil er eine Menge zu erklären hatte.

„Ich versuch’s dir zu erklären“, sagte Ian, bevor sie das Thema anschneiden konnte. Sie sah ihn ernst an und erwiderte: „Ich bin gespannt.“



Die kleine Lagerhalle mit Temperaturregler war ideal für die Leiche, die Reining als John Doe bezeichnete, aber von allen anderen in Point Hope nur der Eismann hieß. Sie hatten ihn aus dem Eis gehackt und auf den Tisch gelegt, der für die Untersuchungen ein wenig zu niedrig war. Doc Roberts wollte versuchen, einen medizinischen Untersuchungstisch zu organisieren, meinte aber, dass selbst er für die Lebenden so etwas nicht zur Verfügung hatte. Im Katalog konnte er einen bestellen, aber würde das FBI das Ding auch bezahlen? Jedenfalls rechnete Reining stark mit Rückenschmerzen am Ende des Tages.

Den Agenten aus Atlanta sah man ihm nicht mehr an. Er trug Cordhosen, den Anorak und gefütterte Stiefel, eine Sonnenbrille baumelte von seinem Hals herab, weil Doc Roberts etwas von Schneeblindheit erzählt hatte.
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John Doe taute langsam auf – er wurde gesprächig, wie Reining bemerkte, und sie machten sich an die übliche Obduktion. Roberts wollte wissen, ob er schon öfters bei sowas dabei gewesen sei, live und in Farbe, und er erwiderte, dass er es gewöhnt sei, es aber nicht sonderlich mochte.

„Uns erwarten hier keine Überraschungen“, murmelte Roberts während des Schneidens, „Schusswunde in der Brust, mitten durchs Herz. Entweder ein guter Schütze oder ein unglücklicher Zufall. Das werden sie rausfinden müssen.“

In seiner Praxis warteten drei Patienten mit Grippesymptomen, denen er brandheiße Neuigkeiten versprochen hatte, sie würden ruhig und gesittet auf ihn warten.

Nick Reining notierte in seinen Bericht: Herzschuss, Projektil fehlt. Liegt schon den ganzen Winter an der Fundstelle, war sehr dick angezogen. Lag in sauberem Eis, das sich über ihm während der Monate verdichtet hat, Schicht für Schicht, Proben genommen fürs Labor. Keine Papiere.

„John Doe war ein fröhlicher geselliger Typ“, meldete Doc Roberts und kicherte. Im Rücken des Eismanns war ein schönes sternförmiges Loch und auch, als Reining die Umgebung der Fundstelle noch einmal persönlich umgrub, blieb das Projektil verschwunden.

„Wie kommen sie darauf?“

„Es ist die höfliche Umschreibung für einen Säufer. Möchten sie einen Blick auf seine Leber werfen?“

Reining trennte alle Etiketten aus den Kleidungsstücken, ebenso wie die eingenähten Waschanleitungen.

„Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass unser Freund kein Russe ist.“

Roberts kicherte wieder, unterbrach seine Arbeit für eine Zigarettenpause. Er machte sich nicht die Umstände, die verschmierten Gummihandschuhe auszuziehen, was Nick Reining an einen albernen Film mit Bud Cort als herumhampelnder Mediziner denken ließ; er wusste nicht, worum es da eigentlich gegangen war, hatte aber noch vor Augen, wie Bud mit blutverschmierten Händen etwas an eine Tafel skizzierte, mit dem bebrillten Gesicht einer Eule. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Doc Roberts, bis auf dieses nervtötende Kichern.

„Jeder in der Region trägt diese Klamotten, selbst die Russen.
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Wenn eines sicher ist, dann dass er kein Japaner ist.“

Der verstorbene John Doe mit dem Loch im Herzen war ein großer bulliger Kerl mit rotbraunem Haar und einer Neigung zur Stirnglatze. Er war in den Vierzigern, hatte einen Goldring am kleinen Finger, die übliche Blinddarmnarbe und einige Spuren von alten Schlägereien im Gesicht. Man konnte nichts Besonderes über ihn sagen, ein rauer Kerl, der mit seinen Händen gearbeitet hatte und öfters in Streit geriet. Die Welt war voll von diesen Männern.

„Ich dachte immer, alle Seemänner seien tätowiert.“

Reining hob einen Arm des Toten an. Die Haut war weiß, von blauen Adern und Flecken durchzogen, wo sich das geronnene Blut angesammelt hatte. Keine Spuren von Tätowierungen.

„Es gibt Männer, die was gegen Nadeln haben.“

„Vorsichtig ist er trotzdem nicht mit sich umgegangen.“

Doc klopfte die Asche seiner Zigarette in den mitgebrachten Aschenbecher, zog noch einmal und drückte die Kippe aus.

„Ich will noch einen Blick auf seine Zähne werfen.“

Agent Reining schloss die Augen und stellte sich John Doe vor, wie er durch Point Hope wanderte, etwas angetrunken, aber noch gut zu Fuß. Es ist bitterkalt und dunkel, er kommt von einem Schiff, das bald wieder auslaufen wird und ist auf dem Weg ins Hydes. Er notierte: Inhalt der Taschen: dreiundzwanzig Dollar, sorgfältig zusammengefaltet. Kein Kleingeld.

John Doe geht an Land, um etwas zu kaufen, dachte er, vielleicht Whiskey von der billigen Sorte oder auch nur Schokolade. Er ist gar nicht erst bis ins Hydes gekommen, sonst hätte er Wechselgeld in den Taschen gehabt.

„Ich muss mehr über die Schiffe wissen, die hier anlegen“, sagte er, „der Mann muss mit einem der Schiffe gekommen sein. Führt jemand ein Register, wann welches Schiff anlegt?“

Die grobe Obduktion war abgeschlossen, Roberts begann das Blut und die anderen Flüssigkeiten aufzuwischen, mit Bewegungen, als würde er nur das Badezimmer putzen.

„Nicht offiziell. Bo macht sich Notizen, Officer Bo Svensson, er macht das nur zum Zeitvertreib, notiert sich Schiffsnamen und unter welcher Flagge sie laufen. Aber Ian könnte ihnen auch weiterhelfen.“

Wenn er mit mir spricht, dachte Reining.
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Kommentare zur Story:

  @ Redaktion - sehr gerne sogar, allerdings habe ich auf die "Cover", die ich für jede Geschichte gemacht habe, nicht das Urheberrecht der Fotos. Ich werde aber meine eigenen Fotos durchsuchen und zur Story einstellen.
Liebe Grüße Dublin  
   Pia Dublin  -  30.04.09 07:48

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  Hallo Pia, möchtest du nicht mal ein Bild zu deinen schönen Geschichten posten? Dann könnten wir den Anfang von einem deiner Kapitel mal auch auf die Startseite bringen.Was hältst du davon?  
   Redaktion  -  29.04.09 21:57

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  Auch ich empfinde diesen Anfang als sehr spannend und lebensecht.  
   Petra  -  29.04.09 15:37

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  Ich staune immer wieder über deinen druckreifen Schreibstil. Du brauchst wirklich keinen Lektor. Außerdem hast du für diese Story wieder einmal sehr gründlich recherchiert. Gleich zu Anfang lernen wir ein paar Brocken aus der Sprache der Tlingits kennen.

Spannender Anfang über eine Leiche im Eis. Ein Mordfall den der eigenwillige Agent Nick Reining aufklären muss.  
   doska  -  29.04.09 10:45

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Kommentar von "Nausicaä" zu "frühling z2"

einfach toll, dieses frühlingsgedicht. du findest in deinen gedichten häufig ganz eigene, besondere bilder. wunderschön, ohne kitschig zu sein.

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