Spannendes · Kurzgeschichten

Von:    Hendrik Meyerhof      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 21. August 2007
Bei Webstories eingestellt: 21. August 2007
Anzahl gesehen: 2231
Seiten: 5

Grand Central Terminal. 19 Uhr und 42 Minuten.

Jason Abduct stand auf der anderen Straßenseite, vor dem berühmten New Yorker Bahnhof.

Er hatte es schon immer für ein beeindruckendes Bauwerk gehalten, doch heute Abend flößte es ihm Unbehagen ein.

„Seien Sie pünktlich um 20 Uhr dort“, hatte der Anrufer gesagt.

Jason schaute hinauf zur prächtig verzierten und aus florentinischem Glas bestehenden Uhr an der Außenwand des Bahnhofs.

Eine der größten Uhren der Welt machte ihm klar, dass es nur noch knapp zwanzig Minuten waren – knapp zwanzig Minuten, in denen das Leben seiner Tochter an einem seidenen Faden hing.

Er ging über die Straße und betrat die Bahnhofshalle.



Neun Stunden zuvor.

Lipstick Building, 53. Straße, Ecke Third Avenue, Manhattan.

10 Uhr und 26 Minuten.

Jason stand am Fenster seines Büros in der 30. Etage des 133 Meter hohen Hochhauses. Lipstick wurde es genannt, weil die ungewöhnliche, ovale Form des mit einer Fassade aus glänzendem Glas und rotem Granit versehenen Gebäudes an einen Lippenstift erinnerte.

Das geschäftige Treiben in Manhattan sah an diesem Vormittag besonders trostlos aus. Eine graue Wolkendecke ließ alles besonders düster erscheinen. Jason ahnte noch nicht, wie düster dieser Tag für ihn werden sollte.

Der Regen prasselte gegen die Scheibe, als das Läuten des Telefons Jason aus seinen Gedanken riss.

„Abduct“, meldete er sich.

„Mr. Abduct… ich sage kurz und knapp, was ich von Ihnen will: Eine Million Dollar, in unmarkierten Scheinen“, hauchte die unheimlich tiefe Stimme des Anrufers.

„Soll das ein schlechter Scherz sein?“, fragte Jason energisch.

„Kein Scherz. Heute Abend in der Eingangshalle des Grand Central. Seien Sie pünktlich um 20 Uhr dort, oder Sie sehen ihre Tochter nie wieder“, womit der Anrufer auflegte.

Aber war seine Tochter denn nicht in der Schule? Jason hatte sie doch selbst bis zum Schulbus begleitet.

Ein Anruf würde die ganze Sache klären, es konnte sich nur um einen schlechten Scherz handeln.

Jason kramte panisch in der Zettelwirtschaft seiner Schreibtischschublade, um die Nummer des Sekretariats der angesehenen Privatschule herauszusuchen.
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Als er sie endlich gefunden hatte, wählte er mit zitternder Hand die Nummer. Die Sekretärin meldete sich.

„Ja, guten Morgen, Jason Abduct hier. Es geht um meine Tochter…“, begann Jason. Doch weiter kam er nicht. „Ah, ja, wie geht es ihr denn? Jedes Jahr bekommt irgendein Kind die Windpocken und dieses Jahr war Cathy die Erste. Steht schon fest, wie lange sie krank geschrieben sein wird?“, erkundigte sich die Sekretärin.

„Krank geschrieben?“, fragte Jason verwundert.

„Ja, ihre Frau hat uns doch heute morgen schon darüber informiert.“, erwiderte die Sekretärin leicht irritiert.

„Meine Frau ist vor drei Jahren verstorben“, antwortete Jason und knallte den Hörer auf die Gabel.





Grand Central Terminal. 19 Uhr und 46 Minuten.

Jason befand sich im Zentralbereich des Terminals.

Er starrte an die dunkelblaue, mit einem Sternenhimmel und den Tierkreiszeichen bemalte Decke – das tat er instinktiv immer, wenn er hier war. Während seines Studiums der Kunstgeschichte und Architektur, hatte er nämlich eine kleine Kuriosität gelernt:

Der Himmel war von den Künstlern spiegelverkehrt abgebildet worden, und zwar so, wie Gott ihn von oben sehen würde.

Ruckartig wurde Jason aus seinen Gedanken gerissen, als ihn ein vorbeigehender Mann anrempelte.

Obwohl die Halle riesig war, war es dennoch ein Gewirr – kein Wunder, passierten doch täglich über 500.000 Menschen den Terminal.

Der perfekte Ort für eine Geldübergabe – und um danach schnell wieder in der Menschenmenge unterzutauchen, dachte sich Jason.

Nervös schaute er sich um. Sein Blick fiel auf die markante Messinguhr, die sich über dem zentralen Informationsschalter befand.

Noch acht Minuten.



Acht Stunden zuvor.

NYPD Hauptquartier, One Police Plaza. Avenue of the Finest, Ecke Park Row. 11 Uhr und 54 Minuten.

„Und Sie können sich wirklich nicht vorstellen, wer hinter der Entführung stecken könnte?“, fragte der Mann, der sich gegenüber Jason als Detective Miller vorgestellt hatte.

„Nein, beim besten Willen nicht“, entgegnete Jason.

„Nun denn, meine Männer werden inkognito in der Halle sowie an den Hauptausgangspunkten postiert, sodass wir den oder die Täter bei der Geldübergabe stellen können“, sagte Detective Miller.
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„In der Zwischenzeit sollten Sie Ruhe bewahren und das Geld bei ihrer Bank besorgen, zumal wir nicht wissen, ob Sie vielleicht vom Täter überwacht werden. Es muss alles möglichst echt erscheinen“, riet Miller.



Sechs Stunden zuvor.

Private Banking Office der Bank of New York, 706 Madison Avenue.

13 Uhr und 36 Minuten.

Eine so große Summe Geld abzuheben, gestaltet sich selbst für Leute, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen, nicht sehr leicht und benötigt entsprechende Formalitäten und Zeit.

Zeit, die Jason nicht hatte. Zeit, die Cathy wohlmöglich nicht mehr hatte. Doch es ließ sich nicht beschleunigen.

Um kurz vor Drei verließ er die tristen Büroräume der Bank mit einem Koffer voller Geld. Es war so klischeehaft, dass Jason die ganze Situation vollkommen unwirklich erschien. Doch bevor er sich zum Terminal aufmachte, um sich mit Detective Miller und seinen Leuten zu treffen, hatte er noch etwas vor. Er würde der NYPL, der New York Public Library in Manhattan, vorher noch einen Besuch abstatten.



Grand Central Terminal. 19 Uhr und 57 Minuten.

Jason beobachtete die vorbeiziehenden Menschenmassen.

Es waren Frauen und Männer, junge und alte Leute, manche in teuren Anzügen – pendelnde Geschäftsleute, vermutlich -, manche in Jeans und Regenjacke. Als sein Blick zufällig an der Oyster Bar, einem guten Fischrestaurant im Untergeschoss des Bahnhofs, hängen blieb, überkam ihn ein starkes Hungergefühl – ihm fiel ein, dass er seit heute Morgen nichts mehr gegessen hatte.

Die Alarmfunktion seiner Armbanduhr signalisierte ihm durch ein Piepen, dass es in einer Minute soweit sein würde. Er versuchte irgendwie die inkognito befindlichen Polizisten auszumachen, doch jeder hätte ebenso gut Polizist wie Entführer sein können.

Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Erschrocken drehte er sich um. Vor ihm stand ein Rabbi mittleren Alters.

„Eine milde Gabe für die Kirche?“, fragte der Rabbi.

Jason schaute den Rabbi sprachlos und irritiert an.
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„Oder liegt ihnen nichts an ihrer Tochter?“ – damit hatte sich der als Rabbi verkleidete Mann ihm als der Entführer offenbart.

„Wo ist sie, Mistkerl?!“, fragte Jason und zog den Mann an sich heran. „Nicht so grob“, erwiderte er, „Ist es da drin?“ und deutete auf den Koffer in Jasons linker Hand. „Ja, ist es. Und nun möchte ich wissen, wo meine Tochter ist“, sagte Jason.

„Das erfahren Sie, wenn ich das Geld habe und heil hier raus bin“, hauchte der Entführer unheimlich. „Na, so war das aber nicht abgema…“, Jason konnte den Satz nicht mehr vollenden. Er spürte einen dumpfen Schlag auf dem Hinterkopf und plötzlich wurde alles vor seinen Augen schwarz.

Als er wieder zu sich kam, war der Detective über ihn gebeugt.

„Na, geht’s wieder?“, fragte Miller. Jason rieb sich den Hinterkopf.

„Meine Männer verhaften die Bande gerade dahinten.“, sagte der Detective. „Die Bande?!“, fragte Jason erstaunt und traute seinen Augen kaum, als er ans Ende der Zentralhalle blickte: Vier Männer, alle als Rabbi gekleidet, wurden von den Polizisten in Zivil verhaftet und hergeführt. „Offenbar ein gut ausgeklügeltes Täuschungsmanöver, um die Flucht zu erleichtern“, sagte Detective Miller. „Ja, und offenbar sind Sie darauf reingefallen“, sagte Jason, als sich die Polizisten mit den Rabbis näherten.

Der Mann, der Jason angesprochen und das Geld abgenommen hatte, war nicht dabei.



Vier Stunden zuvor. New York Public Library, Fifth Avenue.

15 Uhr und 58 Minuten.

Jason betrat eine der größten Bibliotheken der vereinigten Staaten. Die berühmten steinernen Löwen am Eingang ließen ihn erschaudern und gleichzeitig gaben sie ihm irgendwie Mut.

Patience („Geduld“) und Fortitude („Tapferkeit“) wurden sie genannt.

Genau das, was Jason heute dringend nötig hatte.

Er steuerte schnurstracks auf die Abteilung für New Yorker Architektur zu. Hier würde er hoffentlich fündig werden. Allein der Polizei zu vertrauen, war ihm zu wenig. Er würde alles dafür tun, um Cathy wieder in seine Arme schließen zu können.



Grand Central Terminal. 20 Uhr und 7 Minuten.

Jason quetschte sich durch die Menschenmassen, rannte die Treppen hinauf bis zur Absperrung.
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Der Absperrung des in Restauration befindlichen alten Dachgewölbes des Terminals, welches seit Jahren nicht mehr öffentlich genutzt wurde, aber immer noch alle Gleisebenen und Ausgänge miteinander verband. Die perfekte Möglichkeit zur Flucht. Wie gut, dass er sich vorher über alle Wegoptionen informiert hatte.

Er sah den Mann gerade noch um die Ecke huschen. Jason rannte so schnell wie er noch nie in seinem Leben gerannt war.

Hoffentlich hatte Miller die Order, an welchen Ausgang er seine Leute schnellstens zu schicken hatte, korrekt über Funk weitergegeben. Erleichtert sah er, wie Millers Männer den Fake-Rabbi in Empfang nahmen und ihm Handschellen anlegten.

Noch völlig aus der Puste ging er auf den Ganoven los: „Wo ist sie, verdammt?!“, schrie Jason den Entführer an.

„Draußen im Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Bei Mary.“, keuchte der ebenfalls außer Atem geratener Kidnapper.

Und tatsächlich, Cathy war unverletzt bei der Komplizin.

Die selbe Komplizin, die sich am Telefon gegenüber der Schule als Ehefrau und Mutter ausgegeben hatte.



Es stellte sich heraus, dass besagte Mary keine Unbekannte der Familie war. Sie war bis vor ein paar Monaten Cathys Nanny gewesen, weswegen die Kleine wohl auch sofort zutraulich gewesen und mitgegangen war. Ihr Bettgefährte war der Drahtzieher der Entführung gewesen, der anonyme Anrufer. Er hatte den Plan ausgetüftelt und sie ihn über die Details des Appartements und der Tagesabläufe informiert, wie das Kindermädchen gestand.

Doch das alles spielte nun keine Rolle mehr. Jason schloss die Arme um seine achtjährige Tochter und war einfach nur noch froh, dass alles gut ausgegangen war.
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Punktestand der Geschichte:   6
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Kommentare zur Story:

  Merci für den Input - und stimmt, ich hatte in der Tat Schwierigkeiten, was die emotionale Lage der Hauptfigur angeht, diese plausibel darzustellen, ihn aber eben gleichzeitig nicht aus dem Fokus zu verlieren.  
Hendrik Meyerhof  -  21.08.07 23:40

   Zustimmungen: 0     Zustimmen

  hallo hendrik,
die idee als solche ist nciht schlecht, die zeitsprünge gefallen mir auch, man muss mitdenken und langsam verdichtet sich alles zu einem bild. dennoch meiner meinung nach zu einfach gestrickt;) der pro nimmt hin, dass seine tochter entführt wurde, geht zur polizei und denkt voraus... er ist mir irgendwie zu gefasst. du solltest mehr beschreiben, wie er sich nach dem anruf fühlt etc.. wenn du seine gefühle au0en vor lassen willst, dann aber bitte ganz;)
lg darkangel  
darkangel  -  21.08.07 23:28

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