Nachdenkliches · Kurzgeschichten

Von:    Ivonne      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 8. Juni 2007
Bei Webstories eingestellt: 8. Juni 2007
Anzahl gesehen: 1588
Seiten: 2

Der Flur ist dunkel. Draußen höre ich dich vorbeifahren, um die Ecke, bis die Motorengeräusche leiser werden und schließlich der bedrückenden Stille der Nacht weichen. Ich bin alleine, stehe noch vor der Haustüre und starre in die Dunkelheit. Und dann, ganz langsam, ganz sachte, löst sich meine Maske und ich senke den Blick. Keiner sieht sie, meine Maske, keiner weiß, das sie existiert. Keiner hört, wie sie in jenem schreckhaften Augenblick des Alleine-seins von meinem Gesichte rutscht und mit einem scheppernden Geräusch auf die Fließen fällt. Sie ist robust und zerbricht nicht, denn mein zweites Ich ist nicht tot. Es liegt zu meinen Füßen und starrt mit leeren, ausdruckslosen Augen zu mir empor und wartet, am nächsten Tag erneut von mir getragen zu werden. Ich werde niemals die Kraft haben, sie abzulegen. Etwas erschrocken spüre ich, wie sich eine Träne aus meinem Auge löst. Ich halte meinen Blick gesenkt. Ich weine, wenn ich Ich selbst sein darf, in kurzen, stillen Momenten.



Die Sehnsucht, die Zeit zurückzudrehen, Dinge ungeschehen zu machen, ist so mächtig und überwältigend, dass es mir die Luft zum Atmen raubt. Der Wunsch, noch einmal den Tag zu erleben, als ich mich selbst in Verzweiflung und Einsamkeit verlor und mir als Halt meine unsichtbare Maske erschuf, um mich von bösen und bohrenden Blicken zu schützen, verkrallt sich in meinem Herzen, so fest, dass ich dem Druck und dem Schmerz nicht standhalten kann. Das betäubende Pochen in meiner Brust treibt mir Tränen in die Augen. Es ist dunkel und ich bin alleine, ich lasse sie fließen. Doch kaum, als ich das erste Mal meine Maske trug und mein wahres Ich mit grauenhafter Brutalität verdrängte, da lernte ich dich kennen und du lerntest nicht mich, sondern jemand anderen kennen. Jemand, der ich nicht war. Ich konnte es nicht fassen – war das etwa Glück, das ich in mir fühlte? War es gar Zuneigung? Ich sah dich lächeln, mit Mund und Augen, ich blickte dich durch meine Maske an, wollte sie von mir reißen und mich dir wirklich zeigen, doch es war nicht ich, den du mochtest, es war der, den ich vorgab, zu sein. Ich zuckte zurück, als mir jene Tatsache wie ein Peitschenhieb ins Gesicht schlug. Nein, ich konnte nicht Ich sein. Würdest du es verstehen? Ich hatte so viel Angst, so unglaublich viel Furcht, dass du gehen würdest, sobald du meine wahre Persönlichkeit kanntest.
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Schüchtern, sensibel, verängstigt und doch war ich im Herzen ein warmer Mensch; ich kenne Gefühle, doch behalte sie meist für mich. Mein zweites Ich dagegen war immer gut gelaunt, immer scherzhaft, froh und trinkfreudig. Ich machte Späße, klopfte gern auf Schultern und war für jeden Tag. So kanntest du mich. Doch so war ich nicht.



Als mich die Stille im Flur niederdrückte, ließ ich mich auf die kalten Fließen sinken. Einen Monat trieb ich dieses Spiel nun schon. Jeder Tag war schwerer zu verkraften, jeden Tag stieg der Ekel, die Furcht und die Lustlosigkeit an allem. Mein Lächeln reicht nicht mehr zu den Augen, selbst mit dem Mund kostet es mich viel Kraft.



Ich weiß wieso.



Meine Maske beginnt zu bröckeln.



Nach und nach merken es auch meine Freunde, meine Familie. Mein Zustand hat sich in den letzten Tagen tragisch verschlechtert. Ich halte es nicht auf, vielleicht ist es besser, wenn alles zerbricht und ich mich wieder frei in meiner Einsamkeit bewegen kann. Egal, welchen Weg ich wähle – beide heißen Verlust, Angst und Traurigkeit. Doch will ich weder dir noch mir weiterhin etwas vormachen – du bist mein Freund, ich will dich nicht verletzen. Ich kann es dennoch nicht verhindern, denn du hast nie mein Leid gesehen und kannst es schlecht verstehen. Es tut mir Leid, flüstere ich in die Dunkelheit. Ich habe dich verloren, und unsere Freunde. Ich danke dir von ganzem Herzen, dass ich mit dir einige Momente der Sorgenlosigkeit und Freude hatte.



Ich habe meine Spur, ein Leben auf Suche, gesetzt.
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Punktestand der Geschichte:   35
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Kommentare zur Story:

  Hallo Ivonne,
ohne Zweifel, diese Geschichte geht unter die Haut. Ich spüre eine unendliche Sehnsucht nach Nähe und trotzdem kann Dein "Ich" diese Nähe, die ihr angeboten wird, nicht ertragen, sie versteckt sich hinter der Maske, damit ihr niemand zu nahe kommt.
Ich bin sehr beeindruckt, aber wie auch schon bei Deinen "Stimmen", möchte ich von einer Bewertung absehen, da keine Punkte spiegeln können, was Dein "Ich" erlebt.
Liebe Grüße
Christa  
CC Huber  -  10.06.07 11:35

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Kommentar von "Sabine Müller" zu "Die Lebenswippe"

Hallo, sehr schöne, wahre Gedankengänge! 5 Punkte von mir. lg Sabine

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