Kurzgeschichten · Erinnerungen

Von:    Klaus Asbeck      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 22. April 2004
Bei Webstories eingestellt: 22. April 2004
Anzahl gesehen: 3141
Seiten: 6

Ich saß, 21-jährig, im Zug und heulte still vor mich hin. Eine ältere Dame mir gegenüber erkundigte sich besorgt nach dem Grund meiner Tränen. Hinter diesem nassen Vorhang sagte ich ihr, daß man mich zum Wehrdienst eingezogen habe, daß ich soeben meine Mutter und meine Verlobte zum Abschied umarmt hätte, und daß mir nun eine eintausend Kilometer weite Trennung bevorstünde.



Später hatte man mich dann in den Alpen zum Offizier gemacht, und ich weinte nicht mehr. Auch nicht an dem Tage, der kein Tag wie alle anderen war.



Ich stand kurz vor meiner Entlassung, einundzwanzig Monate nach meinen Abschiedstränen seinerzeit im Zug. Ich fragte meinen Stellvertreter, einen Heeresbergführer, ob er sich zutraue, mich alpinen Anfänger durch die Watzmann Ostwand zu führen - zum Abschied. Im Hinblick auf meine gute Kondition willigte er nach kurzem Zögern ein.



Als wir dann freitags darauf zum Königssee aufbrachen, hatte sich uns ein bergerfahrener Stabsunteroffizier aus unserer Stabskompanie angeschlossen. Aber am Königs-see war bereits die letzte Fähre nach St. Bartholomä abgefahren, wo wir in einer Berghütte übernachten wollten, um dann anderntags in aller Frühe zur "Eiskapelle" am Fuß des Watzmanns aufzubrechen. Aber da noch andere nach St. Bartholomä übersetzen wollten, wurde noch ein Boot für uns eingesetzt.



Wir Drei sprachen kein Wort, als das Elektroboot lautlos über die dunklen Wasser des tiefen Sees vorbei an hochaufragenden, glatten Felswänden glitt. Ich hielt innere Rückschau auf diese schier unendlich scheinende Pfadfinderzeit bei dieser militärischen Spezialtruppe mit ihren bayrischen Besonderheiten, fernab jeglichen preußischen Drills. Ich wäre gerne in dieser männlich-kameradschaftlichen Geborgenheit geblieben, wo jeder seinen Platz hatte. Aber eine innere Stimme sagte mir deutlich, daß mein Lebensabenteuer ein anderes sein würde. In dieser Stunde, am Vortage des 24. September 1961, nahm ich wieder einmal Abschied von einem für mich wichtigen Lebensabschnitt.



Am Landungssteg von St. Bartholomä sprangen wir an Land und marschierten zur nahe gelegenen Übernachtungshütte. Nachdem wir unsere einfache Lagerstatt für die Nacht hergerichtet hatten, verbrachten wir die Dämmerung an einem Tisch vor der Holzhütte. Dabei diskutierten die beiden Stabsunteroffiziere den Aufstieg zum Gipfel über das "Kaserer Eck", mit Rücksicht auf mich eine mittelschwere Route, die wenig Technik, aber eine solide Kondition abverlangte.
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Hans Holleis, der Heeresbergführer, war ein ruhiger, bescheidener Mann, der es mich nie hatte spüren lassen, daß man mich Neu-ling ihm Experten zum Vorgesetzten gegeben hatte. Zu einem "Du" mit mir hatte er sich allerdings nie durchringen können, denn ich war und blieb Preuße und Offizier oder umgekehrt. Heute nach über 40 Jahren habe ich erfahren, daß er schon vor längerer Zeit gestorben ist.



Der Dritte im Bunde, Josef Stachl, war geradezu verschlossen. Er respektierte mich, wie es ihm sein Rang vorschrieb. Einen irgendwie gearteten Gedankenaustausch brachte ich mit ihm jedoch nicht zustande. Er war es allerdings, der am folgenden Tag nicht selten hinter oder unter mir in der Wand meinen Fuß festhielt, damit ich nicht abrutschte.



Bevor wir uns dann auf unserer Lagerstatt ausstreckten, schrieben wir uns noch in das Hüttenbuch ein, in dem auch die Gesamtzahl der bisher tödlich abgestürzten Bergsteiger vermerkt war: 71.



Am nächsten Morgen, als es noch dunkel war, machten wir uns dann auf den dreistündigen Weg zur "Eiskapelle" am Fuße der Watzmann-Ostwand. Unterwegs fragte ich Josef, ob seine Verlobte von dieser Tour wisse, die doch für mich so aufregend und so wichtig war. Er antwortete belustigt, daß sie dies noch früh genug erfahren würde. Der Aufstieg begann dann an einem kleinen aber steilen Gletscher, der "Eiskapelle". Der kleine aber steile Gletscher war um diese spätsommerliche Zeit an seinen Rändern über einen Meter von der Felswand abgeschmolzen. Meine beiden Kameraden kletterten diesen glatten Gletscher mühelos in der direkten Linie und zwar ohne Gletschereisen hoch. Ich hangelte mich am scharfen Gletscherrand nach oben, mit dem rechten Auge ständig in den Abgrund spähend, wo sich die Farben des Eises von weiß über grünlich bis hin zu bläulich und sodann schwarz tief nach unten abstuften. Als ich dann endlich oben auf der plattgetretenen oberen Gletscherkante angekommen war, warteten die beiden bereits auf mich in der Felswand mit einem Anflug von Belustigung.

Gut einen Meter vor mir war also die Felswand mit einem kleinen Vorsprung, auf den eineinhalb Bergschuhe paßten, und auf dem eine Sandhaube lag. Auf diesen galt es also zu springen, und zwar über besagten tiefen Gletscherspalt. Mal abgesehen davon, daß man tunlichst von diesem kleinen Vorsprung nicht abzurutschen durfte, mußte man auch das Gleichgewicht wahren.
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Denn der vollgestopfte Rucksack drohte einen bei der Landung nach hinten zu ziehen. All dies ging mir in dieser Lage durch den Kopf. Und außerdem war ich mir bewußt darüber, daß mich zwei Augenpaare beobachteten, und daß man später im Unteroffizierskasino mich, den Reserveoffizier, beurteilen würde. Das immerhin 40 Meter lange Seil, das Hans über seinen Rucksack geschnallt hatte, wollte ich an dieser Stelle - noch nicht - anfordern. Also sprang ich, und suchte mit ausgebreiteten Armen an der Wand Halt.



Für diese Route, den Kederbacher Weg mit Schwierigkeitsgrad IV, die Hans ausgewählt hatte, brauchte man keine speziellen technischen Hilfsmittel, wie z. B. Haken. Abgesehen von einer soliden Kondition und absoluter Schwindelfreiheit mußte man beim Klettern nur für festen Halt mit den Händen und unter den Füßen sorgen, wobei man brüchiges Gestein erkennen mußte. Auch galt es tunlichst zu vermeiden wieder rückwärts zu klettern, weil man die falsche Route eingeschlagen hatte und dann nicht weiterkam. Das passierte uns zweimal, wobei Josef unter mir darauf achtete, daß ich nicht abrutschte. Hans ging mit einer Ausnahme immer als erster vorweg.



Wir hatten an diesem Tag Glück. Es war windstill, und die Sonne strahlte am wolkenlosen Himmel. Der Fernblick war weit und klar, sofern ich ihn überhaupt bewundern konnte. In einer solch selten stabilen Wetterlage war es nicht verwunderlich, daß man auch andere Gruppen in diesem launischen Felsmassiv hörte oder sah.



Wir waren guter Dinge. Die Bergdohlen schossen über unsere Köpfe und zeigten Luftakrobatik pur, so, als seien sie schwerelos. Und was mich betraf, so machte mir meine gute, unverbrauchte Kondition jetzt nach den ersten drei Stunden Kletterei Freude. Meine bangen Zweifel, ob ich durchhalten würde, waren verflogen. Immerhin lagen noch ca. sechs Stunden Mühsal vor uns, wenn es so zügig weiterging.



Gegen 11.00 Uhr erreichten wir das "Kaserer Eck", die schwierigste Passage. Da mußte man im rechten Winkel um den Felsen herum. Außerdem mußte man genau an der Stelle, wo der Felsen um 90 Grad nach rechts weg-wich auf ein höheres Band hochgrätschen. Dies wurde dadurch weiterhin erschwert, daß genau an dieser Stelle einem der Blick und das Fortkommen durch eine spitze Felsnase verwehrt bzw.
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erschwert wurde.



Als ich diese Situation wahrnahm, war es mir plötzlich gänzlich egal, ob ich ein prachtvoller Offizier war oder nicht. "Hans, gib mir das Seil, ich gehe als erster," habe ich gesagt. Der Offizier saß mir in der Hose, und zwar unauffindbar tief. Hans entnahm seinem Rucksack das Seil und reichte es mir wortlos. Ich knüpfte mir mit dem einen Ende ein Brustgeschirr, so wie ich es gelernt hatte. Das andere Ende schlang ich mehrfach um die Felsnase. Dabei mußte ich allerdings ausreichend Seil für die andere Seite des Felsens freilassen. Der freie Fall hätte also noch etwa 10 Meter betragen. Dann schaute ich meinen beiden Kameraden, diesen Profis, in die Augen und begab mich ans Werk. Ich umschlang mit beiden Armen die Felsnase, darauf hoffend, daß es wahr ist, daß auch Steine eine Seele haben. Dann suchte ich mit dem linken Fuß den nächst höheren Absatz um die Ecke. Was mir gelang. Ich war in Sicherheit.



Hans folgte mir ohne besagtes Seil, zwang sich an mir vorbei und verschwand um eine nächste Ecke. Ich wartete auf Josef, der nicht kam. Er befand sich etwa zwei bis drei Meter rechts unterhalb von mir. Wegen der Felsnase konnte ich ihn nicht sehen. Da hörte ich ge-stöhnt die Worte von ihm: "Ich könnte das Seil gebrauchen." Das war klar ein Alarmzeichen von einem solch stolzen Mann. Ich knüpfte also hastig mein Brustgeschirr auf. Als ich gerade das freie Ende in Händen hielt, fiel sein Körper in mein Gesichtsfeld, wo-bei er ihm eine Drehung gab, so daß er mit dem Rücken zum Felsen in ein leicht abschüssiges Kahr etwa fünf Meter unter mir fiel. Er konnte sich jedoch nicht halten und stürzte ins Bodenlose, lautlos sich mehrmals in der Luft kopfüber drehend, bis er meinen Blicken hinter einem Vorsprung entschwunden war. Mit dem freien Ende des Seils in der Hand schlugen meine beiden Knie derart aneinander, daß ich hinterher zu fallen drohte. Dabei muß ich wohl auch einen gellenden Schrei ausgestoßen haben. Denn Hans meldete sich unsichtbar, was denn passiert sei. Und ich schrie zurück, daß Josef tödlich abgestürzt sei. Einer etwa einhundert Meter seitlich von uns kletternden Gruppe, die offensichtlich durch meinen Schrei auf den Absturz aufmerksam geworden war, rief ich zu, sie solle unsere Kaserne verständigen, was sie dann auch getan hat.

Hans erschien mit kalkweißem Gesicht und begann wortlos das 40 Meter lange Seil zum Abstieg fertig zu machen.
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In diesem Augenblick kam mein Offizier wieder zutage oder mein Selbsterhaltungstrieb, wie man will. Ich sagte mit gefestigter Stimme: "Stabsunteroffizier Holleis, ich gebe Ihnen hiermit den dienstlichen Befehl, mich lebend aus dieser Wand herauszubringen. Sie können darauf vertrauen, daß ich alle Verantwortung dafür übernehme. Stabsunteroffizier Stachl liegt in mindestens 200 Metern unter uns, tot." Hans packte das Seil wieder zusammen und stöhnte. Er war zu sehr Soldat, um zu realisieren, daß ich ihm auf dieser Privattour gar nichts zu befehlen hatte. Er hat mich am Seil aus der Wand regelrecht rausgezogen und er hat mich jedes Mal umgeworfen, wenn dieses Sausen von Steinschlag zu hören war. Ob ich ihm mein Leben verdanke? Denn schlagartig hatte mich alle Kondition verlassen. Meine Fingerkuppen waren dann blutig, derart ängstlich klammerten sie sich in den Fels. Doch brachte ich es fertig, etwas zu essen und zu trinken. Der Tote unter uns war für mich endlos weit entfernt. Eine Seilschaft überholte uns und machte sich lustig über uns "lahme Enten". Einer von ihnen hat sich dann später bei mir schriftlich entschuldigt, wie er meinte.



Um 18.00 Uhr haben wir den Gipfel erreicht. Doch ein erhabenes Gefühl wollte sich bei mir nicht einstellen. Gegen 20.00 Uhr sind wir dann an der Watzmann Hütte angelangt und wurden dort schweigend empfangen. Man wußte bereits Bescheid. Mein Vorgesetzter war ver-ständigt. Man hatte viel rumtelefoniert. Ich schaute aus einem Fenster in den nächtlichen Sternenhimmel und wählte sodann die Nummer zu unserer Einheit. "Herr Hauptmann, ich melde den tödlichen Absturz von Stabsunteroffizier Stachl." Es entstand eine Pause. "Leutnant Asbeck, ich frage Sie, müssen wir jetzt Rettungsmaß-nahmen einleiten?", hörte ich am anderen Ende eine väterlich vertraute Stimme. "Nein, Herr Hauptmann, der Sturz hat mindestens 200 Meter betragen," antwortete ich. "Asbeck, eine Rettungsaktion jetzt wäre ungeheuer aufwendig. Von den vagen Erfolgsaussichten ganz abge-sehen. Können Sie für Ihre Aussage die Verantwortung übernehmen?" "Herr Hauptmann, das kann und tue ich hiermit." "Gut Asbeck, dann werde ich für morgen alles Notwendige veranlassen. Ach, ich dachte Sie seien es gewesen, wo ich doch Ihre Eltern kenne. Denn Stachl hatte sich nicht in unserem Bergtourenbuch eingetragen. Bis morgen."



Früh am nächsten Morgen landete ein erfahrener Pilot der Heeresflieger mit einem Hubschrauber neben der Berghütte und lies sich von Hans einweisen.
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Der Pilot flog dann so nah an die Absturzstelle heran, daß er neben dem Toten noch ein Skelett eines verschollenen Bergsteigers ausmachen konnte. Hans und ich schritten auf einem Wanderweg zu Tal und meldeten uns bei der nächsten Polizeistation, wo Hans wegen seines Status als Heeresbergführer zum Verhör festgehalten wurde.



Gegen Mittag betrat ich das Dienstzimmer meines Vorgesetzten, des Hauptmannes. Vor seinem Schreibtisch saß eine in schwarz gehüllte junge Frau, die Verlobte von Josef, die nun "früh genug" von dieser Bergtour erfahren hatte. So gut es ging, habe ich in militärischer, d. h. strammer Haltung meinen Bericht abgegeben, wobei ich mir jedoch ganz unsicher war, was hier überwog, das Persönliche oder das Militärische.



Die Unteroffiziere haben mir als Offizier sodann gestattet, den Sarg von Josef mit zu Grabe zu tragen.



P. S.: Zwei Wochen später haben mich meine Eltern in der Garnison besucht und mir berichtet, daß in den Alpen schon wieder einer tödlich verunglückt sei. Schon merkwürdig, irgendwie war ich stolz darauf, ihnen berichten zu können, daß ich Zeuge gewesen sei.



Diese damalige gröbliche Herausforderung des Schicksals und meine folgende Unbekümmertheit konnte ich mir mittlerweile verzeihen allerdings erst, nachdem ich begriffen hatte, daß ich nicht so schlank davon komme.



19.IV 2004
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Kommentar von "Unbekannt" zu "Violett"

schöö :-)

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