Mission Titanic - Kapitel 15   0

Romane/Serien · Fantastisches

Von:    Francis Dille      Mehr vom Autor?

Erstveröffentlichung: 2. Januar 2020
Bei Webstories eingestellt: 2. Januar 2020
Anzahl gesehen: 2251
Kapitel: 0, Seiten: 0

Diese Story ist die Beschreibung und Inhaltsverzeichnis einer Reihe.

Verfügbarkeit:    Die Einzelteile der Reihe werden nach und nach bei Webstories veröffentlicht.

Kapitel 15 – Das Gedicht



Samstag, 9:36 Uhr



Nachdem sich Ike im beengten Badezimmer seiner Kabine etwas erfrischt hatte, zog er sich eine braune Cordhose und sein weißes Arbeiterhemd an. Selbstverständlich durften die Hosenträger und seine Stiefel nicht fehlen. Er betrachtete sich im Spiegel und richtete seine Schirmmütze. Dann marschierte er nach nebenan, klopfte an die Kabinentür und ging hinein.

Marko hockte auf der Couch am Wohnzimmertisch und begutachtete nachdenklich das geöffnete Etui. „Was soll ich mit dieser weißen Perle bloß anstellen?“, fragte er sich immerzu. Doch Ike riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

„Ich brauche die Taschenuhr und den Ehering des Schiffsoffiziers. Komm schon Rijken, keine weiteren Faxen mehr. Rücks einfach raus“, forderte er ihn auf.

„Was?“, erwiderte Marko stirnrunzelnd und blickte ihn dabei überrascht an. „Ach so … Das. Ich hab’s nicht, sondern Piet.“

Ike rollte genervt mit den Augen.

„Und wo ist Piet? Marko, verdammt! Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Ich brauche Informationen … oder ich hau jetzt sofort ab!“, drohte er.

„Hey, schalt mal einen Gang runter. Als ich aufwachte, war er schon verschwunden. Was weiß ich, wohin. Ich bin doch nicht sein Babysitter.“

„Nein, das nicht. Aber er untersteht deinem Befehl und du meinem, zumindest so lange ich noch anwesend bin. Er hat dir Auskunft zu geben, was auch immer er vorhat und wo er sich zurzeit aufhält. Und du hast mich vorher zu fragen, ob ich damit einverstanden bin, was auch immer ihr beabsichtigt. Ihr beide seid verpflichtet, mich über Schritt und Tritt zu informieren. Wir befinden uns zwar auf einer Kreuzfahrt, aber nicht zu unserem Vergnügen. Die Titanic ist ein riesiges Schiff und nur spärlich ausgeschildert. Ich habe weder Lust und erst Recht nicht die Zeit dafür, euch zu suchen wenn ihr euch verlauft.“

Marko öffnete ein weißes Röhrchen, entnahm ein Nahrungspräparat und schluckte die Tablette mit einem Glas Wasser hinunter. Er blickte fragend drein und hielt ihm eine Tablette entgegen.

„Auch was frühstücken?“

Ikes Antwort darauf war, dass er nicht antwortete.

„Du brauchst uns nicht ständig daran zu erinnern“, fuhr Marko fort, „dass das hier kein Segeltörn ist.
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Piet wird sicherlich nur die Lage abchecken, schließlich geht es heute Abend los. Er wird sich ganz bestimmt nicht verlaufen, weil er sich längst eine Navigations-App heruntergeladen hatte. Und auch ich kenne mich mittlerweile auf der Titanic fast so gut aus, wie im Kolosseum. Also, alles im grünen Bereich.“

Ike schob seine Schirmmütze etwas zurück und kratzte sich die Stirn.

„Ich brauche unbedingt die Sachen von Murdoch, um sie ihm zurückzugeben. Hörst du, Rijken? Unbedingt!“

Marko lehnte sich in die Couch zurück und blickte ihn verwundert an.

„Wozu? Ich würde vorschlagen, dass wir seinen Schmuck einfach behalten. Nach Beendigung unserer Mission werden wir seinen Ehering und die Taschenuhr einem Museum übergeben. Überleg doch mal. Piet hatte recherchiert und herausgefunden, dass der Erste Schiffsoffizier William Murdoch während des Untergangs sowieso sterben wird. Diese persönlichen Gegenstände haben demnach einen historischen Wert und es wäre doch eine Schande, wenn das auch noch mit in die Tiefe des Atlantiks versinken würde. Jetzt haben wir die einzige Gelegenheit dazu, persönliche Gegenstände eines Hauptakteurs legal einzubehalten.“

„Du magst vielleicht Recht haben, aber ich habe es Murdoch versprochen.“

Marko musterte ihn und schüttelte verständnislos mit dem Kopf.

„Aha, soso … Du hast es diesem Mistkerl also versprochen. Verstehe. Ehrenkodex unter Akteure. Ein Gentleman hält schließlich sein Wort“, spottete Marko. „Du solltest dich mal reden hören und im Spiegel betrachten. Du verhältst dich, denkst und siehst wie ein waschechter Akteur aus, der hier im anfänglichen Zwanzigsten Jahrhundert geboren wurde. Das kommt davon, wenn man sich zu lange in der vergangenen Welt aufhält. Deine Erscheinung und Manieren sind zwar die perfekte Tarnung, aber dafür vermagst du meiner Meinung nach die Situation nicht mehr objektiv zu beurteilen. Es scheint mir nämlich, dass du für Willie etwas zu viel Sympathie empfindest. Nur weil du seine Lebensgeschichte studiert hast, glaubst du ihn zu kennen. Nur deswegen erscheint dir Murdoch vertraut. Er ist aber nicht dein Freund! Aber ich weiß, was mit dir los ist“, grinste Marko. „Sowas nennen wir Schleuser unter uns das „Buddy Syndrom“.
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Ging mir genauso, als ich mal vor dem Wikingerführer Ivar Ragnarsson stand. Ich war von ihm fasziniert, obwohl er eigentlich ein gnadenloser Mörder war und mich am Schluss sogar abmurksen wollte. Wie dem auch sei. Unterlasse ab jetzt jegliche Konversation mit Murdoch. Mach einen riesengroße Bogen um ihn, damit du ihn nicht ausversehen warnst und er morgen Nacht plötzlich ganz besonders aufmerksam zum Dienst erscheint. Sonst bist du noch am Ende der Schuldige, dass die Titanic nicht versinkt!“

Ike zeigte ihm einen Stirnvogel.

„Buddy Syndrom … So ein Schwachsinn. Murdoch bedeutet mir rein gar nichts. Aber es ist äußerst wichtig, dass er seine persönlichen Gegenstände von mir wiederbekommt, bevor er forensische Nachforschungen anordnet. Du darfst nicht vergessen, dass man ihn ermorden wollte, darüber er verständlicherweise die ganze Zeit nachdenkt und deswegen sehr nervös ist. Jetzt wurde auch noch obendrein in seine Kabine eingebrochen. Er glaubt mir zwar, dass ich ein Geheimagent bin und ihn beschützen will, aber trotzdem vertraut er mir nicht hundertprozentig, weil ich ihm nicht geheuer bin.“

Marko schnappte sich seinen hellen Hut, setzte ihn auf und sprach.

„Ach, du willst dich doch nur rausreden. Du leidest unter dem Buddy Syndrom, du merkst es nur nicht“, erwiderte er zynisch. „Ist dir eigentlich klar, dass nur aufgrund Murdochs Fehlentscheidung die Titanic untergehen wird? Murdoch wird: Ruder hart Steuerbord, Maschinen volle Kraft zurück befehlen, um den Eisberg backbord zu umfahren. Somit wird die Titanic genau mit der Breitseite darauf zusteuern. Ein Schiff darf man aber niemals mit der Breitseite auf ein Objekt lenken; das sagt einem doch schon der normale Menschenverstand. Dazu muss man kein erfahrener Seemann sein. Es wäre sinnvoller gewesen, hätte er die Titanic auf den Eisberg direkt darauf zusteuern lassen. Er hätte also stattdessen befehlen müssen: Maschinen volle Kraft zurück, mehr nicht, um die Wucht des Frontalzusammenstoßes wenigstens zu lindern. Der Versuch dem Eisberg auszuweichen, war ohnehin zu spät. Somit wäre das Schiff zwar schwer beschädigt worden, eine Weiterfahrt wäre sicherlich nicht mehr möglich gewesen und ja, es hätte bei dieser Kollision höchstwahrscheinlich einige Todesopfer gefordert.
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Aber es wären allerhöchstens nur zwei Abteile geflutet worden, womit sich die Titanic schlussendlich über Wasser gehalten hätte.“

„Verschone mich bitte mit deinem Seemannsgarn, den du irgendwo aufgeschnappt hast“, erwiderte Ike. „Kein erfahrener Kapitän konnte es zurzeit hundertprozentig abschätzen, wie sich dieses riesengroße Schiff in einer Notsituation bei einem Wendemanöver verhalten würde. Zudem wurde das Ruder der Titanic für ein Schiff mit solch einem Format etwas zu klein konstruiert worden, dies man aber erst nach der Katastrophe eingesehen hatte. Hinterher ist man immer schlauer, heißt es so schön.“

„Mag ja vielleicht sein, aber dann kommt der eigentliche Hammer, welchen sich der ehrenwerte Mister Murdoch geleistet hatte. Eher gesagt, sich morgen Nacht leisten wird. Anstatt sich ehrenvoll wie Kapitän Smith und die anderen Offizier zu verhalten, bis zum endgültigen Untergang auszuhelfen, hatte sich Murdoch plötzlich aus dem Staub gemacht, indem er sich einen Revolver gegen die Schläfe gehalten und sich selbst erschossen hatte. Einen kurzen, schmerzlosen Tod wird sich der Sir morgen Nacht gönnen. Und diesen Feigling willst du auch noch belohnen, indem du ihm seinen Krimskrams wiedergibst?“, fragte Marko provozierend.

Seine Ansage gefiel Ike ganz und gar nicht, und blickte ihn zornig an.

„Hör mir mal genau zu, Marko“, entgegnete er ihm mit einem bissigen Unterton, wobei er mit dem Finger auf ihn deutete. „Mister Murdoch mag vielleicht die falschen Befehle für ein Schiff dieser Größenordnung erteilt haben, aber es steht dir noch lange nicht zu, ihn einen Feigling zu nennen!“, zischte er. „Versetz dich mal in seine verhängnisvolle Lage. Nicht nur er war an dieser Katastrophe schuld gewesen, sondern noch viele andere Faktoren haben dazu beigesteuert, die ich jetzt aber nicht alle aufzählen werde. Aber als der Eisberg aus der Dunkelheit plötzlich vor dem Schiffsbug erschien, blieben Mister Murdoch nur wenige Sekunden, um zu entscheiden und zu handeln. Ihm war zwar klar, dass das Schicksal von über 2200 Menschen in diesem Augenblick in seinen Händen lag, aber einen Frontalzusammenstoß würde jeder instinktiv erstmal versuchen, zu vermeiden. Nach der Kollision hatte er sicherlich mit einem Schockzustand zu kämpfen gehabt.
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Und trotzdem hatte er bei der Evakuierung tatkräftig geholfen. William Murdoch war der einzige Schiffsoffizier, der jeden in die Rettungsboote hineingelassen hatte. Jeden! Ob nun Passagiere der Ersten-, der Zweiten- oder auch der Dritten-Klasse. Er ließ Männer, jugendliche Knaben und sogar auch die Hunde der Passagiere in die Rettungsboote einsteigen, obwohl dies gegen die Anordnung des Kapitäns verstieß. Nur Frauen und Kinder dürfen in die Rettungsboote einsteigen, lautete der ausdrückliche Befehl. Niemand hat das Recht dazu ihn für sein menschliches Versagen, dass er in dieser völlig aussichtslosen Situation letztendlich die Nerven verloren und sich kurzentschlossen selbst gerichtet hatte, zu verurteilen! Es grenzt an ein Wunder, dass William Murdoch in seiner psychisch angeschlagenen Lage, wo er sich überdies äußerst überfordert gefühlt haben musste, überhaupt noch fähig war, dutzende Menschen zu retten. Egal ob Mann oder Frau, ob Mädchen oder Junge, ob Hund oder Katze!“

Marko schmunzelte, hielt seine Hand in die Höhe und bewegte seine Finger wie eine schnatternde Ente.

„Jajaja. Bla-bla-bla. Ich kann mir nicht helfen, aber hier stinkt’s gewaltig nach Buddy Syndrom. Der Schiffsoffizier kann von mir aus die Hausdetektive beauftragen, überall rumzuschnüffeln. Sie werden die Gegenstände sowieso niemals finden, weil wir sie jetzt haben. Ich meine es ernst, Ike. Murdochs Taschenuhr und sein Ehering sollten wir im Centrum einem Museum übergeben.“

Ike zog seine Schirmmütze ab und strich sich durchs Haar.

„Jetzt versteh doch endlich. Das wäre äußerst unklug, Rijken. Murdoch vertraut mir, manchmal mehr, manchmal weniger. Er ist kein Dummkopf. Auf ihn wurde ein Mordanschlag verübt; wie lange glaubst du, dass er noch auf mich hören und schweigen wird? Ihn weiterhin mit abenteuerlichen Geheimagentengeschichten hinzuhalten, wird mir auf die Dauer nicht mehr gelingen. Er steht kurz davor, sich per Telegramm in Southampton über die Ermittlung seines Mordanschlages zu informieren. Das alles würde natürlich erheblich länger dauern als ein Telefonat, aber Murdoch müsste nur mit seinen Fingern schnippen, dann wäre ich unter Arrest gestellt. Die Akteure sind nicht blöd. Du und Piet, wir wurden schon miteinander gesehen und ganz schnell werden sie auch die TTA Zeitreisende mit uns in Verbindung bringen und ausfindig machen.
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Dann würden wir alle festsitzen und die Mission wäre ebenso gescheitert.“

Ike beugte sich zum sitzenden Marko runter, packte an seinen Schultern und rüttelte ihn.

„Mann, Rijken. Kapier es endlich! Der Ehering sowie die Taschenuhr werden Murdoch mindestens bis morgen Nacht beruhigen und ihn zum Schweigen bringen. Danach wird er bekanntlich ein anderes Problem haben und uns nicht weiter beachten. Nur darum geht es mir!“, versicherte ihm Ike.

Marko starrte vor sich hin und überlegte. Er kniff seine Lippen zusammen und nickte.

„Okay, na gut. Dann vergessen wir das mit dem Museum eben. Keine Ahnung wo Klaasen steckt. Ehrlich nicht. Ich geh mal davon aus, dass er das Fräulein Ruthie abchecken will. Meiner Meinung nach ist er verknallt in sie. Du solltest sie dir nochmal vorknöpfen, ich traue ihr nicht. Ich glaube nämlich, dass sie ein ausgebufftes Früchtchen ist, die uns nur das arme, unschuldige Mädchen vorspielt. Und Piet ist voll drauf reingefallen.“ Marko blickte ihn verschmitzt lächelnd an. „Tja, die Liebe raubt einem jeden Verstand. Aber das brauch ich dir ja nicht zu erzählen“, grinste er.

Ike blickte ihn nur wortlos an, richtete seine Schirmmütze und marschiert zur Tür.

„Hey, warte mal. Was genau ist denn überhaupt vorgefallen, weshalb sich Murdoch erschossen hatte? Ich meine, mir ist er letztens begegnet und schätze ihn äußerst kompetent und souverän ein. Er ist meiner Meinung nach ein solider Mann, dem man automatisch mit Respekt begegnet, selbst wenn er keine Uniform tragen würde. Ganz anders als ein Feigling. Weißt du da etwas Genaueres?“, fragte Marko plötzlich interessiert.

Ike öffnete die Kabinentür und hatte bereits einen Fuß in den Korridor gesetzt, blieb aber dann stehen.

„Bevor die letzten Rettungsboote abgefiert wurden, drohten die Davits überrannt zu werden. Daraufhin wurde Murdoch gezwungen, seine Schusswaffe zu gebrauchen, um die Panik wieder unter Kontrolle zu kriegen. Dabei hatte er zwei Passagiere erschossen. Möglicherweise hatte diese verhängnisvolle Tat bei ihm eine Kurzschlussreaktion ausgelöst.“ Ike drehte sich kurz um. „William Murdoch war schließlich kein Soldat, der zum Töten ausgebildet wurde, sondern war nur ein Schiffsoffizier.
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Dann schloss Ike die Kabinentür hinter sich und machte sich auf, um Piet Klaasen zu suchen.



Unterdessen lief Piet fröhlich pfeifend über das Achterdeck, wobei er einen kleinen Blumenstrauß in seiner Hand hielt. Diesen hatte er einfach im Speisesaal der Zweiten-Klasse aus einer Blumenvase entwendet, um sich bei Misses Ruthmilda Carter für die gestrige Vernehmung zu entschuldigen. Eher gesagt, um sich für Marko Rijkens ruppiges Verhalten während des gestrigen Verhörs zu entschuldigen. Aber eigentlich sollte der kleine Blumenstrauß nur ein Vorwand sein, um mit dem gleichaltrigen Fräulein ein Gespräch anzufangen, um ihr zu signalisieren, dass er sie mag. Dass er sie sehr mag. Letzteres war von ihm eher beabsichtigt.

„Blumen gehen immer. Klappt selbst in der Steinzeit, um eine scharfe Neandertalerin klar zu machen“, waren Markos letzte murmelnde Worte gewesen, bevor er gestern Nacht erschöpft eingeschlafen war, als Piet ihn gefragt hatte, wie man eine Akteurin im Zwanzigsten Jahrhundert beim ersten Date beeindrucken könnte.

Er wusste, dass Ruthmilda Carter nach der Frühstückszeit bis zum Mittag ihre Freizeit frei gestalten durfte. Doch wo hält sie sich bloß auf, fragte er sich? Wie verbringt eine junge Frau ihre Freizeit in diesem Zeitalter? Ruthie war zwar ein Dienstmädchen aus der gehobenen Gesellschaft, trotzdem hatte sie nur den Status eines Dritte-Klasse-Passagiers.

Er stieg die stählernen Treppen hinauf zum Oberdeck, dort wo sich bis zur Mittagszeit selbst die Dritte-Klassen Passagiere aufhalten durften. Er blickte mit leicht geöffnetem Mund hoch hinauf, zum letzten der vier monströsen gelben Schornsteine, dessen Endstücke jeweils schwarzlackiert waren. Er wunderte sich, weil dieser nur etwas qualmte, anstatt rabenschwarzer Rauch emporstieg, so wie bei allen drei vorderen Schornsteinen. Plötzlich hörte er eine liebliche Stimme rufen.

„Huhu! Hallo, Mister Klaasen! Hier oben bin ich! Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen!“

Piet runzelte die Stirn und entdeckte Ruthie, die auf dem Podest des letzten Schornsteins auf einer hölzernen Liege lag und ihm zuwinkte. Er hatte sie zuerst gar nicht wahrgenommen, weil auch dort oben einige Kinder herumtollten und kreischten.
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Aber sogleich weiteten sich entzückt seine Augen. Ein Lächeln verzierte sein Gesicht und sein Herz pochte etwas schneller als gewöhnlich, als er die junge Frau erblickte. Er winkte ihr fröhlich zu, während er mit der anderen Hand seinen ergaunerten Blumenstrauß hinter dem Rücken verbarg. Dann stieg er eilig die Stahltreppe hinauf.

Dieser vernebelte Morgen wirkte grau und trist, fühlte sich feucht und wesentlich kälter als die Tage zuvor an. Außerdem herrschte ein etwas stürmischer Seegang, weshalb man das Rauschen der Wasserwogen, die gegen den mächtigen schwarzen Schiffsrumpf aufklatschten, intensiv wahrnahm. Zudem spritzte hin und wieder eine Fontäne von Meerwasser über die Reling hinauf auf das Bootsdeck, woraufhin einige unvorsichtige Passagiere nassgespritzt wurden.

Ruthie lag mit einem grauen Herrenmantel gekleidet und mit einer Wolldecke zugepackt auf einer Holzliege, hielt ein Buch in ihrer Hand und lächelte ihn bezaubernd an. Piet eilte die Treppe hinauf und verscheuchte die Kinder sogleich mit einer unmissverständlichen Handbewegung. Ein frecher Junge aus der Dritten-Klasse hielt die Hände mit seinen Daumen wie ein Hirschgeweih gegen seinen Kopf, schnitt eine Grimasse und streckte ihm die Zunge raus. Der freche Bengel flitzte sofort lachend davon, als Piet ihm bedrohlich entgegenschritt.

„Macht, dass ihr wegkommt, ihr kleinen Mistkäfer! Lasst euch hier oben bloß nicht wieder blicken!“, schimpfte Piet sichtlich verärgert.

Ruthie kicherte, drückte heimlich ihre Zigarette aus und wedelte hektisch mit ihrer Hand, damit sich der Zigarettenrauch schneller auflöste. Es wäre ihr äußerst unangenehm und peinlich obendrein, wenn Piet sie beim Rauchen erwischen würde.

„Also früher, als wir noch Kinder waren, hätten wir uns solch eine Unverfrorenheit nicht erlauben dürfen. Stimmt’s, Mister Klaasen? Aber diese frechen Buben werden sich noch umgucken, wenn sie in Amerika in die Schule gehen müssen. Die Lehrer werden denen schon die Hammelbeine lang ziehen“, sagte sie und hoffte, dass Piet nichts bemerkt hatte. Als er direkt vor ihr stand, zog er die Augenbrauen zusammen und schaute sie verdutzt an.

„Warum haben Sie Ihre Zigarette ganz plötzlich ausgemacht? Doch nicht wegen mir, oder?“, fragte er verunsichert.
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Ruthie lächelte verlegen, hustete kräftig und wedelte erneut mit ihrer Hand durch die Luft.

„Oh, jetzt haben Sie mich ja doch ertappt“, antwortete sie hüstelnd „Na ja, es-es gehört sich doch für eine Dame nicht, in der Öffentlichkeit zu rauchen“, stammelte sie. „Ach, wissen Sie was? Eigentlich will ich damit sowieso nicht anfangen. Ich wollte nur mal probieren“, erklärte Ruthie, wobei sie ihn verschmitzt anlächelte. Sie zog die Schulter hoch und kicherte.

Piet stand vor ihrer Liege und war von der niedlichen Blondine völlig hingerissen. Er holte sein zerknittertes Zigarettenpäckchen aus der Brusttasche seines Jacketts hervor, zupfte die letzten zwei Glimmstängel heraus, zerknäulte das Päckchen und warf es hinunter zu den frechen Jungs, die unten an der Reling lümmelten, ihre Hälse reckten und sich über das Paar lustig machten: „Verliebt! Verliebt! Ihr seid verliebt!“, lachten die Bürschleins, schnitten Grimassen und streckten ihm die Zunge raus.

„Ja aber, das sind doch Ihre letzten zwei Zigaretten“, fuhr es Ruthie erstaunt heraus, als Piet ihr eine Fluppe entgegen hielt und die Streichhölzer zückte.

„Ach, mit Ihnen teile ich doch gerne. Und danach hören wir beide gemeinsam auf zu rauchen, noch bevor wir damit überhaupt erst richtig angefangen haben. Was halten Sie davon?“

Ruthie blickte ihn verführerisch an und schmunzelte, während Piet ihre Zigarette anzündete.

„Sie sind ja ein wahrer Gentleman, Piet. Das gefällt mir sehr. Jemand wie Sie ist mir noch nicht begegnet.“

Daraufhin hielt er ihr seinen ergaunerten Blumenstrauß stolz entgegen.

„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, Ruthie. Die Blumen sind für Sie, weil … weil Sie so nett sind“, bekundete er lächelnd.

Ruthmilda Carter zog einmal an der Zigarette und hielt sich dann das aufgeklappte Buch vor das Gesicht, sodass er nur noch ihre wunderschönen, ausdrucksvollen blauen Augen und ihre kurzen blonden Locken sehen konnte. An ihren Augen erkannte er, dass sie lächelte. Piet war entzückt.

„Sind die wirklich für mich?“, fragte sie glucksend, dann prustete sie.

„Selbstverständlich!“, antwortete Piet. Er roch kurz an dem Blumenstrauß und hielt ihr diesen wieder entgegen.
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Ruthie legte das aufgeklappte Buch auf ihre zugedeckten Beine, und sah ihn schmunzelnd an. Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette und drückte diese dann am Dielenboden aus.

„Das war jetzt aber nicht nötig, Piet Klaasen. So schöne Blumen …“, seufzte sie und kicherte wieder.

„Aber selbstverständlich war es das. Das gehört sich doch so, wenn man eine hübsche Dame anspricht“, fiel Piet ihr sogleich ins Wort, schnappte sich eine Liege und setzte sich darauf. Er starrte sie fasziniert an.

„Lassen Sie mich doch zuerst aussprechen. Ich meinte nämlich, dass es gar nicht notwendig war, aus dem Speisesaal einen Blumenstrauß zu stehlen, nur um sich mit mir zu unterhalten. Ich finde Sie ja auch nett, auch ohne Blumenstrauß.“

„Oh …“, entwich es Piet etwas erschrocken, woraufhin seine lächelnden Mundwinkel abrupt sanken. Er merkte wie sich sein Gesicht errötete, was ihm äußerst peinlich war. Mit der ungewohnten Unsicherheit, die er gerade gegenüber einer Frau verspürte, vermochte er nicht umzugehen.

„Das ähm … das war dann wohl etwas ungeschickt von mir. Verzeihe mir, Ruthie. Ich wollte dich keinesfalls beleidigen. Entschuldige, aber ich … Ach, vergiss es am besten“, stammelte er, legte den Blumenstrauß vorsichtig auf ihre Beine nieder, stand auf und es sah so aus, als würde er aufgeben und verschwinden wollen. Aber Ruthie erhob sich blitzschnell aus der Liege und hielt ihn am Arm fest.

„Aber nein, so war das doch gar nicht gemeint. Piet, bitte setzt dich wieder und bleibe bei mir“, flehte sie ihn mit einem treuen Blick an. „Ich freue mich wirklich über die Blumen“, beteuerte sie.

„Wirklich?“, fragte Piet unsicher.

„Ich schwöre es“, antwortete sie, erhob zwei Finger und blickte ihm verführerisch in die Augen.

Piet nickte und setzte sich wieder. Er wirkte sehr nervös und wusste jetzt erst recht nicht, wie er sich gegenüber einer Akteurin des Zwanzigsten Jahrhundert verhalten sollte. In seiner Heimat United Europe, wenn er in einer Großraumdisco oder einer Bar erschien, hatte er nie Probleme gehabt, eine Frau kennenzulernen. In seiner Gegenwart sind es nämlich die Frauen, die ihn umgarnen und ansprechen. Und der berühmte Sohn des Präsidenten konnte sich stets aussuchen, welche Frau ihn überhaupt bezirzen durfte.
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Piet holte einmal tief Luft.

„Okay, Ruthie. Ich will jetzt gar nicht lange Drumherum reden, sondern sage es geradeheraus. Ich-ich habe mich in dich verliebt. I-ich will mit dir zusammen sein. Was-was sagst du dazu?“, stotterte er.

Piet wirkte sichtlich unsicher, dies er selbst bemerkte und ihm selbst völlig fremd war. Er nahm andauernd seinen Bowler ab und fuhr sich ständig durch sein kurzes Haar. Ruthie starrte ihn einen Moment verdutzt an und errötete. Sie räusperte sich.

„Du-du bist wirklich sehr direkt, Piet. Damit habe ich jetzt ehrlich gesagt nicht gerechnet. Solche Männer trifft man heutzutage selten, die einer Frau klipp und klar sagen, was sie wollen. Ich finde dich ja auch sehr nett, aber …“

„Wie? Nur sehr nett – mehr nicht?“, hakte Piet schmunzelnd nach. „Tu mir das doch bitte nicht an, Ruthie.“

„Ach, Piet“, seufzte sie und blickte ihn verträumt an. „Doch, auch ich mag dich sehr, sehr gerne. Wenn wir uns unter anderen Umständen hier auf der Titanic kennengelernt hätten, hätte aus uns sicherlich eine Romanze ergeben. Aber du bist leider ein Polizist aus der Niederlande und ich, ich bin eine Amerikanerin und will nichts weiter als nach Hause. Sei doch ehrlich; sobald wir New York erreicht haben, werden wir sowieso wieder getrennte Wege gehen. Und auf eine Liebelei habe ich keine Lust“, erklärte sie ihm trotzig, wobei sie einen hinreißenden Schmollmund zog.

Piet kniete sich vor ihrer Liege, blickte ihr tief in die Augen und hielt ihre Hand. Und weil sie sich eiskalt anfühlte, rieb er sie vorsichtig.

„Es ist keine Liebelei, sondern echte Liebe. Da bin ich mir ganz sicher! Glaube mir, Ruthie. Ich habe schon einige Frauen kennengelernt, aber noch nie habe ich für jemanden so intensiv etwas gefühlt, wie für dich.“

„Aha … Soso. Du hast also schon einige Frauen kennengelernt“, schmunzelte sie und wankte mit dem Zeigefinger.

Piet verdrehte die Augen und blickte seitlich weg. – So ein Mist. Ich Vollidiot. Schönes Eigentor geschossen – fuhr es durch seine Gedanken und überlegte krampfhaft, wie er sie von seiner ehrlichen Zuneigung überzeugen könnte.

Ruthie war wie ein cleverer Fisch, der den Köder zuerst ständig umkreiste und nicht sogleich zuschnappte.
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Piet jedoch schien ein ungeduldiger Fischer zu sein, der ausgerechnet dann seine Angelrute aus dem Gewässer der Liebe zog, wenn das Fischlein kurz davor war, anzubeißen.

Er kniete vor ihrem Liegestuhl. Als er gerade seinen Mund öffnete, um ihr weiterhin seine Liebe zu bekunden, brachte Ruthie ihn zum Schweigen, indem sie ihm ihren kalten Zeigefinger auf dem Mund hielt.

„Pschscht … sag bitte nix mehr. Ich möchte dir nämlich jetzt gerne ein Gedicht vorlesen.“

„Ein Gedicht?“, wiederholte Piet verwundert.

Ruthie nickte und bat ihn freundlich, dass er seinen Bowler abnehmen und sich neben ihr setzten sollte. Piet gehorchte, denn das alles klang vielversprechend, immerhin hatte sie ihm nicht ausdrücklich einen Korb verpasst.

Ruthmilda Carter blätterte in ihrem Buch, stielte manchmal zu ihm rüber und lächelte ihn an. Als sie fündig wurde, räusperte sie sich auffällig und blickte ihn gespielt ernst an, um seine absolute Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Das Gedicht heißt: Herbstblatt.“

„Herbstblatt?“, fuhr es Piet erstaunt heraus, wobei er in ihre wundervollen Augen blickte und wiedermal dahinzerschmelzen drohte. Ruthie aber stieß ihn leicht in die Seite und ermahnte ihn, dass er endlich seinen Mund halten und nur zuhören sollte.

Plötzlich wurde Piet von einem abgenagten Apfelrest am Kopf getroffen, woraufhin er sofort aufsprang und verärgert nach unten auf das Bootsdeck blickte.

„AHAHAHAHA, die sind verliebt!“, lachten die Burschen und winkten ihm frech mit ihren Schirmmützen zu. „HAHAHAHA, die sind verliebt! Verliebt! Verliebt! Verliebt!“

„Verschwindet endlich, oder ich komm runter! Dann könnt ihr aber was erleben!“, brüllte Piet zornig, woraufhin die rotzfrechen Burschen ihm wiedermal laut lachend das Hirschgeweih zeigten und ihre Zungen rausstreckten. Aber diese blutjungen Burschen waren besonders dreist, ließen sich von Piets Drohung nicht beeindrucken, blieben einfach an der Reling stehen und lachten ihn weiter aus. Aber dann lachte Piet die Jungs laut aus, weil sie plötzlich vom Spritzwasser getroffen wurden und kreischend über das Bootsdeck flitzten.

„Das habt ihr nun davon, ihr mistige Kröten!“, rief er ihnen schadenfreudig zu.
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„Hör doch mal auf, ständig die Kinder zu beachten. Dann gehen sie auch von ganz alleine weg. Darf ich jetzt endlich vorlesen?“, fragte Ruthie ungeduldig, woraufhin Piet nickte.

Sie atmete einmal kräftig durch, schaute ihn nochmal ernst an und las vor: „Herbstblatt …



Die Liebe kommt und geht

Wie ein Herbstblatt mit dem Winde weht

Bleibt manchmal liegen, fegt manchmal mal fort

Hinüber zu einem anderen Ort



Nun warte ich auf frischen Wind

Bis auch ich mein Herbstblatt find

Bleibt dann liegen, weht nie wieder fort

Hinüber zu einem fremden Ort



Wahre Liebe wird nie vergehen

Wie Herbstblätter im Winde verwehen

Fegt es dennoch fort, zu einem anderen Ort

War die Liebe niemals dort



Im Windsturm hört man die Blätter sagen

Dich werde ich auf Händen tragen

Doch die Liebe kommt und geht

Ein Herbstblatt sich im Winde dreht.“



Ruthie schlug das Buch zusammen und beobachtete ihn, wie er dasaß und nachdenklich vor sich hinstarrte. Piet nickte stetig und meinte: „Das war ein schönes Gedicht. Klingt gut. Ehrlich gesagt kann ich damit jedoch nichts anfangen. Was genau bedeutet es?“, fragte er lächelnd.

„Ein Gedicht kann man deuten, wie man will. Ein Gedicht sagt für manchen sogar etwas ganz anderes aus, als der Dichter es gemeint hatte. Aber ich sehe es so … Ich war schon jahrelang im Ausland gewesen und habe schon einige Liebesschwüre und Heiratsanträge bekommen. Und immer wieder hatte ich mich darauf eingelassen und gehofft, dass mein Traumprinz endlich gekommen sei. Aber letztendlich wurde ich enttäuscht und befinde mich nun auf meiner Heimreise. Verstehst du jetzt?“

Piet nickte und blickte sie dabei verheißungsvoll an. Mit Poesie kann man also das Herz einer Akteurin in diesem Zeitalter gewinnen?, dachte er sich.

„Ach so, jetzt weiß ich, was du meinst und kann dich verstehen. Mir ergeht es in meiner Heimat nicht anders. Ich kann dir aber mit Gewissheit bestätigen, dass ich kein Herzblatt bin sondern eher wie die Rose von Jericho, die vom Wind einsam durch die Wüste getrieben wird, suchend nach einer fruchtbaren Oase.
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Und wenn sie dort ihre Wurzeln schlagen darf, weiß sie es zu schätzen und verweilt dort, bis zum Ende ihres Lebens. Aber nur dann, wenn sie dort nicht erblühen kann, so ist die Rose von Jericho nun mal und so bin auch ich, wird sie sich wieder zusammenrollen und wird sich vom Wind wieder zu einem anderen Ort wehen lassen.“

Ruthie lächelte sanftmütig und legte das Buch beiseite.

„Das hast du zwar schön gesagt, Piet, aber mir haben schon zu viele Männer ihre Treue geschworen. Wenn wir in New York anlegen, wirst du sowieso wieder zurück nach Europa reisen. So ist es doch, oder etwa nicht?“

Piet senkte traurig seinen Kopf und nickte sachte. Ruthie hatte insgeheim recht damit, dass ihre Liebe absolut keine Zukunft hätte. Sobald die Mission Titanic beendet wäre, müsste er sie sowieso verlassen. Also wäre es besser für ihn und Ruthie, wenn sie seine Liebe nicht erwidern sondern sich nur auf eine Freundschaft einlassen würde. So wie sie es mithilfe des Gedichtes ihm mitgeteilt hatte. Piet war zwar bis über beide Ohren in sie total verliebt, weil er solch eine Frau noch nie zuvor kennengelernt hatte, aber sogleich erinnerte er sich an Ikes Liebesverhältnis, so er auf gar keinen Fall enden wollte. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn er Ruthie einfach mit ins 25. Jahrhundert hätte mitnehmen dürfen.



„AHAHAHAHAAA! Verliebt! Verliebt! Verliebt!“, riefen die Jungs im Chor immer noch wieder und wieder. Doch plötzlich erschien ein Mann, der sie streng anblickte, woraufhin die Knaben sofort ihre Münder hielten und sogar respektvoll ihre Schirmmützen abnahmen.

„Los, ab mit euch! Auf der Stelle! Oder ich unterhalte mich mal kurz mit euren Vätern!“, sprach Ike autoritär in die Runde, woraufhin die Jungs demütig ihre Köpfe hängen ließen und anstandslos davon trotteten. Sie wagte es nicht einmal, hinter seinen Rücken Grimassen zu schneiden. Ike hatte schließlich, seitdem er bei Harland & Wolff an der Titanic gearbeitet hatte, genügen Erfahrung gesammelt, wie man mit jungen Lehrburschen umgehen musste, damit sie einem nicht auf dem Kopf rumtanzten. Dann stieg er gemächlich die Stahltreppe hinauf, hinauf zu Ruthie und Piet.

„Wer ist das denn jetzt?“, fragte Ruthie mit vorgehaltener Hand flüsternd, wobei sie etwas bedrückt wirkte.
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„Der sieht ja vielleicht grimmig aus. Ich mag ihn nicht.“

„Das ist nur van Broek, mein Boss. Er wird dir wohl ein paar Fragen stellen wollen. Hab keine Angst, ich bin ja bei dir.“

Als Ike vor Beiden stand, begrüßte er sie mit einer gewöhnlichen Floskel. Doch statt Ruthie nochmals zu verhören, zog er Piet zur Seite und verlangte Murdochs private Gegenstände von ihm. Piet übergab sie ihm auch ohne weitere Diskussionen, in der Hoffnung, dass er sogleich wieder verschwinden und Ruthie in Ruhe lassen würde. Doch als Ike gerade die Stahltreppe hinuntersteigen wollte, blieb er stehen und blickte sie an.

„Misses Carter, können wir Ihnen wirklich vertrauen? Sind Sie tatsächlich bereit, für uns heute Abend tätig zu werden? Wir werden Sie zu nichts zwingen. Falls nämlich nicht, müssten wir uns eine neue Taktik ausdenken. Ich persönlich versichere Ihnen, dass Ihnen nichts geschehen wird und Sie sich für die richtige Seite entschieden haben.“

Ruthie schluckte einmal und nickte hastig mit dem Kopf.

„Das geht schon klar“, schaltete sich Piet dazwischen. „Wir tüfteln gerade einen Plan für heute Abend aus. Überlasse das alles mir.“

Ike nickte aber blickte Ruthie mit gekniffenen Augen scharfsinnig an. Er öffnete seine Hand und hielt ihr die Taschenuhr und Ehering entgegen.

„Ich verstehe zwar und glaube es Ihnen auch, dass Sie gezwungen wurden in die Kabine des Schiffsoffiziers Murdoch einzubrechen, um unseren Apparat zu stehlen. Aber weshalb haben Sie auch diesen Schmuck entwendet? Geöhrte das etwa auch zu Ihrem Auftrag?“

Ruthie blickte verschämt zu Boden, und schüttelte leicht mit dem Kopf.

„Nein. Das hatte ich für mich gestohlen. Wenn wir New York erreichen, liegt noch ein sehr weiter Weg nach Colorado vor mir. Ich wollte die Sachen dann irgendwie verkaufen, um mit der Eisenbahn nach Hause zu fahren“, erklärte sie ihm kleinlaut.

Ike seufzte und grinste Piet dabei schelmisch an.

„Ich habe vorerst keine weiteren Fragen an Sie. Mein Kollege wird für Sie zuständig sein und alles Weitere mit Ihnen besprechen. Es wird aber nicht rumgeknutscht, Kollege!“, ermahnte er Piet mit wankendem Zeigefinger.
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Ike stieg die Stahltreppe hinunter und vernahm schmunzelnd, dass Piet sich mit ihr aufgeregt unterhielt und offenbar empört darüber war, dass sie nicht nur dazu gezwungen wurde einzubrechen, um für ihren Auftraggeber zu stehlen, sondern sich auch dabei selbst bereichern wollte. Und sie verteidigte sich lautstark. Ike grinste vor sich hin und war schadenfreudig amüsiert, weil er ein Gezicke unter dem jungen verliebten Pärchen angezettelt hatte. Doch sogleich holte ihn die Realität zurück und er fragte sich besorgt, wie er nun ungehindert auf die Kommandobrücke gelangen könnte, um William Murdochs private Gegenstände zu überreichen. Plötzlich flitzte ein kleiner Mops auf ihn zu, sprang ihn an und kläffte dabei aufgeregt. Ike kniete sich und knuddelte den Hund.

„Hallo Constantin. Na, mein kleiner Freund, wo ist denn dein Frauchen?“

Als er vom Weiten die alte Dame erblickte, die eilig über das Bootsdeck auf ihn zu tippelte und dabei fröhlich winkte, lächelte er und streichelte dem Hündchen über sein kleines Köpfchen. Constantin und sein betagtes Frauchen waren sein Ticket, das ihm ungehindert Zutritt zur Kommandobrücke verschaffen würde.





Foto: William McMaster Murdoch, 28. Februar 1873 – 15. April 1912
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Kommentar von "Homo Faber" zu "Der Zug"

Hallo, ein schöner text, du stellst deine gedanken gut dar, trifft genau meinen geschmack. lg Holger

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